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Stadtleben

Desertieren ist nicht

Wie man beim ersten Halbmarathon ums Völkerschlachtdenkmal Geschichte erlebt

  Desertieren ist nicht | Wie man beim ersten Halbmarathon ums Völkerschlachtdenkmal Geschichte erlebt

Diese Woche ist es soweit. Das sogenannte Doppeljubiläum der Völkerschlacht und ihres 100 Jahre jüngeren, 300.000 Tonnen schweren Anhängsels werden in Leipzig zelebriert. Einen ersten Vorgeschmack lieferte am Sonntag der Halbmarathon rund um das Völkerschlachtdenkmal, der sich mit dem Motto rühmte: »Laufend Geschichte erleben« – auf den Original-Kampfplätzen der Schlacht. Wie sich das anfühlt, hat unser Autor am eigenen Leib miterlebt. Ein Erfahrungsbericht.

Langsam, aber stetig wächst der monströse Brocken in meinem Blickfeld, als ich mich auf ihn zu bewege. Im Morgenlicht sieht das Völkerschlachtdenkmal von vorne aus wie eine schwarze, zweidimensionale Schablone auf weißem Papier. Irgendwie unwirklich. Als ich schließlich am Fuße des Denkmals ankomme, ist auf den ersten Blick klar, dass dieser Ort heute Schauplatz eines Spektakels sein wird – wieder einmal. Hunderte von Menschen in Turnschuhen und Funktionskleidung bilden eine bunte Traube, lachen und johlen zu eintöniger Popmusik. »Macht euch bereit, wärmt euch auf, in 30 Minuten beginnt die Schlacht«, höre ich die Stimme des Moderators durch das Mikrofon dröhnen. Ja, so muss das damals, 1813, auch gewesen sein, denke ich mir zynisch. Trotz meiner Skepsis gegenüber der Idee, eine menschliche Tragödie 200 Jahre später mit einer überfröhlichen Laufveranstaltung zu zelebrieren, hat mich das Motto »Laufend Geschichte erleben« neugierig gemacht. Außerdem bin ich noch nie in meinem Leben einen Halbmarathon gelaufen. Also stehe ich jetzt hier im Startbereich und zähle mit den anderen laut die letzten Sekunden bis zum Startschuss herunter. Und renne.

Keine Energy-Riegel für Soldaten

Die ersten Minuten und Kilometer sind geprägt von konzentrierter Stille. Bis auf das monotone Getrappel der Läufer und hier und da das dezente Naseschnäuzen eines Nebenmannes ist nichts zu hören. Die Ruhe vor dem Sturm? Es scheint so, denn schon erscheinen zwei Trommler am Wegesrand, die mit ihren Rhythmen versuchen, bei Läufern und Zuschauern Stimmung zu erzeugen. Kriegsgetrommel in Leipzig. Soll das der erste Vorbote einer Schlacht sein? Was hatte der Moderator da eben noch gefaselt? Während ich noch darüber nachdenke, passiere ich den sogenannten »Monarchenhügel«. Von hier aus haben vor 200 Jahren die Herrscher und obersten Feldherren der Alliierten versucht, den Überblick über ihre Truppen im Kampf gegen Bonaparte zu behalten. Kaum vorstellbar bei diesem mickrigen Hügel. Als ein Fotograf uns, die vorbeilaufende Meute, vor dem historischen Motiv knipst, ruft ein Läufer neben mir: »So, das Foto ist gemacht, dann können wir ja jetzt aufhören!« »Desertieren ist nicht drin«, gebe ich etwas großspurig zurück. Vielleicht liegt meine Reaktion daran, dass ich mich auf diesen ersten Kilometern körperlich erstaunlich gut fühle. Ich habe mich innerlich jetzt doch auf eine Schlacht eingelassen. Auf einen Kampf gegen die Uhr. Eine schnelle Zeit im Ziel wäre schließlich nicht zu verachten. Ich überhole einen Läufer nach dem anderen. Ebenfalls kein schlechtes Gefühl. Die erste Verpflegungsstelle lasse ich gekonnt links liegen. Die Soldaten der Völkerschlacht konnten sich schließlich auch nicht zwischendurch an geschälten Bananen und Energy-Riegeln laben. Von Liebertwolkwitz geht es weiter in Richtung Wachau. Vorbei am Verein Deutscher Schäferhunde dringen wir immer tiefer in die Leipziger Peripherie vor. In dieser Umgebung ereignete sich am 14. Oktober 1813 ein Reitergefecht, das als Prolog der Völkerschlacht gilt. Was für Napoleon der Ort einer ersten empfindlichen Niederlage war, assoziiere ich heute mit einem Triumph: Bei der Überquerung einer Autobahnbrücke hupen mir mehrere Fahrzeuge von unten aufmunternd – sogar bewundernd? – zu. Noch motivierter als zuvor erreiche ich einige Minuten später den Markkleeberger See. Die ersten zehn Kilometer sind geschafft und ich liege ziemlich gut im Rennen. Wie zur Belohnung spiegelt sich die Herbstsonne im ruhigen Gewässer. Das ging ja flott, denke ich. Jetzt noch einmal ungefähr die gleiche Distanz runterspulen und dann bin ich auch schon im Ziel. Ein fataler Trugschluss.

Abklatschen statt Napoleons Rückzug

Mein Niedergang beginnt auf den extrem steilen Serpentinen, die uns Läufer von der idyllischen Seenlandschaft fortreißen. Mit solch einem Anstieg habe ich nicht gerechnet. Das erste Mal spüre ich Widerstand in meinen Beinen. Langsam quäle ich mich den Hang hinauf. Als ich endlich oben angekommen bin, nehme ich selbst eine Horde knallig pinker Cheerleader kaum wahr. Vielleicht auch besser so. Meine Beine werden von Minute zu Minute schwerer. Ich bekomme Hunger. Mittlerweile ärgere ich mich, dass ich mich am letzten Verpflegungsstand nicht bedient habe. Kurz darauf liegt vor mir auf dem Boden ironischerweise ein alter, angebissener Laib Brot, der wahrhaftig aussieht, als sei er noch von 1813. Nach und nach überholen mich immer mehr bekannte Gesichter. Diejenigen, an denen ich kurz zuvor noch locker vorbeigelaufen bin. Und bei Kilometer 14 von 21,5 meint mein aktueller Nebenläufer doch tatsächlich anmerken zu müssen, dass die Ersten jetzt schon im Ziel sein müssten. Spätestens da hat auch meine Motivation ihren Tiefpunkt erreicht. Wie Napoleon kann ich eigentlich nur noch Schadensbegrenzung betreiben und geordnet den Rückzug antreten. Doch wie tut man das, wenn man durch den Erholungspark Lößnig-Dölitz humpelt, vorbei an immer mehr Zuschauern und kleinen Kindern, die unbedingt jeden Läufer persönlich abklatschen wollen. Und dieser »Erholungspark« nimmt einfach kein Ende. Ob sich hier etwas Historisches zugetragen hat – nebensächlich! Ich zähle jetzt nur noch jeden Schritt, der mich dem Ziel ein Stück näher bringt. Es geht längst nicht mehr darum, wann ich ankomme, sondern ob und wie.

Ehrenrunde am Tränenteich

Wann erscheint bloß dieses fiese Völkerschlachtdenkmal am Horizont, das man sonst in Leipzig doch auch von überall sieht? Als ich es dann schließlich zu Gesicht bekomme, bin ich zu einer Gefühlsregung der Freude nicht mehr im Stande. Ich nehme es einfach zur Kenntnis. Genau wie die letzte Ehrenrunde um den Tränenteich (wie passend), auf die ich liebend gern verzichtet hätte. Im Ziel stürze ich mich sofort auf das sogenannte Völkerbrot, das jeder Ankömmling erhält und das ich vorher noch als Marketing-Quatsch belächelt habe. Das ist jetzt egal. Von mir aus kann sich der Halbmarathon rund um das Völkerschlachtdenkmal auch gerne schon im ersten Jahr als »der Klassiker im Herbst« bezeichnen. Solange ich mit dem Doppeljubiläum nichts mehr zu tun haben muss – und meine nächste Geschichtsstunde nicht mehr laufend, sondern ganz klassisch wieder lesend erleben kann. Womöglich im Urlaub auf Elba.


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