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Kultur

Transitraum Theater

Die Euro-Scene legt einen überzeugenden Start hin

  Transitraum Theater | Die Euro-Scene legt einen überzeugenden Start hin

Bach auf der Müllkippe: Pünktlich zum Todestag von Felix Mendelssohn Bartholdy, dem Bach-Wiederentdecker, beginnt die 24. Euro-Scene mit einer berückend-eigenartigen Bach-Variation. Alain Platel eröffnete einmal mehr die Euro-Scene, zum achten Mal ist er auf dem Festival vertreten. Dass er in Leipzig über eine Fangemeinde verfügt, zeigt das ausverkaufte Schauspielhaus. Das Tanzstück »tauberbach« – gegeben von Platels Compagnie les ballets C de la B (Gent) – sprengt mit großer emotionaler Wucht das Guckkastenformat der Schauspielhausbühne.

Der Raum ist übersät mit Kleidungsstücken, ein Klamottenchaos, das jene Müllhalde symbolisiert, auf der die schizophrene Estamira – nach dem gleichnamigen Dokumentarfilm von Marcos Prado – 20 Jahre lang lebt. Freiwillig, wie sie betont. Sie ist umgeben von fünf anderen Figuren, die Menschen sein können, die ebenso hier hausen, oder ihre Gespenster, innere Stimmen. Zusätzlich tritt sie immer wieder in einen streitenden Dialog mit einer Maschinenstimme aus dem Off, der sie sich erklärt oder trotzig widersetzt. In Tanzsequenzen zu Bach-Musik und Bach-Adaptionen eines Gehörlosen-Chors heben die fünf anderen zu einem ekstatischen Reigen zwischen zerbrechlichen und ausladend skurrilen, dann wieder manischen Bewegungen an. Befremdlich und allzumenschlich zugleich entfaltet dieser eigenartige Erfahrungsraum einen nicht minder seltsamen Sog. Die bekannten Bachmelodien ergänzen sich gekreuzt mit der Gehörloseninterpretation zu einem dissonanten, aber eingängigen akustischen Feld zu welchem die Tänzer Estamiras Facetten als schwache, starke Person zwischen Hausen und Leben illustrieren und konterkarieren. Das Publikum ist offensichtlich gebannt, anhaltend tost schließlich der Applaus.

An diesem Mittwoch ist das Stück noch einmal zu sehen – mit anschließendem Publikumsgespräch. Neben der empfehlenswerten Schauspiel-Eigenproduktion »Wolokolamsker Chaussee I–V« enthält das Euro-Scene-Programm – dieses Jahr steht unterm Motto »Transit« – einige andere (mögliche) Verheißungen. Dazu zählt die Deutschlandpremiere von »Die Eingemauerte« vom Puppentheater Plovdiv (Bulgarien), in dem ein archaischer Mythos vom Brückenbau mit Menschenopfer als mystisches Abstraktum inszeniert wird. Martin Schick (Bern, siehe Interview im aktuellen kreuzer) spricht in seiner Performance »›Nicht mein Stück‹ Postkapitalismus für Anfänger« über den Einstieg in den Ausstieg. Björn Säfsten (Stockholm) »Fictional copies« lässt seinen Abend um Nachahmung, Kopie und Anpassung mit dem Oberlichtsaal der Stadtbibliothek in einem besonderen Ort aufleben. Theater als Transitraum.


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