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Stadtleben

»I’m a number not a name«

Nachruf auf One Zero, 1069, Michael Holz – legendärer Trinker, Philosoph, Nervtöter

  »I’m a number not a name« | Nachruf auf One Zero, 1069, Michael Holz – legendärer Trinker, Philosoph, Nervtöter

Fast ein Vierteljahrhundert lebte ein illegaler Immigrant in Leipzig und wurde zu einer der bekanntesten Persönlichkeiten der Stadt. Jetzt starb Michael I O VI IX Holz im Alter von 69 Jahren. Der deutschstämmige US-Amerikaner galt zuletzt offiziell als Asylbewerber und stand kurz vor seiner Abschiebung. Ein Nachruf.

Am Tresen im Beyerhaus steht ein alter Mann mit weißem Bart und langem, grauem Zopf. Er trägt einen Anzug mit Weste, stützt sich auf einen kleinen Krückstock aus Naturholz und sagt, er hätte gern ein Bier, könne aber nicht bezahlen. Der junge Barkeeper zapft ein Helles, schiebt es über den Tresen und sagt: »Na klar bekommst du ein Bier, One Zero, du bist ja eine lebende Legende hier.«

Seit fast 25 Jahren gehörte der US-Amerikaner namens One Zero Six Nine zum Inventar der Stadt: Als Verkäufer der Straßenzeitung Kippe stand er an seinem Stammplatz unter den Rathaus-Arkaden, gegenüber Auerbachs Keller, als »Native-Speaker« unterrichtete er fast 20 Jahre lang an der Freien Schule Connewitz Englisch – und war Honorarkraft, zwei bis drei Stunden am Tag.

Auf der Karli ist er in jeder Kneipe berühmt, in mancher auch berüchtigt, er besuchte Gerichtsprozesse, Messen der »English Church«, Lesungen und Feste, schlief in der letzten Straßenbahn seinen Rausch aus, flanierte, philosophierte und sang sich durch ganz Leipzig. Ein Original, das seinen Lebensentwurf radikal lebte und zum Schluss ein großes Netz von Unterstützern hatte, das »1069-Rhizom«, von dem Leipzig durchzogen ist.

Als Kriegskind nach New York

Erst kurz vor seinem Tod erzählte er seine ganze Geschichte, die mit seiner Zeugung in den Ostgebieten in den letzten Kriegswochen begann. Als Michael Karl Herbert Holz wurde er im bayerischen Hof im November 1945 geboren. Mit fünf Jahren gab ihn die Mutter zur Adoption frei.

Der Junge wurde in die USA transportiert und hieß jetzt Dengler. Denn seine Adoptiveltern lebten in New York, waren wohlhabend, wollten einem ungewollten Kind aus dem zerstörten Deutschland eine Chance geben und einen Anerben großziehen.

Seine Mutter sah er nie wieder. Doch die Chemie zwischen Vater und Adoptivsohn stimmte nicht. Mit Anfang 20 brach der Kontakt zu den Adoptiveltern ab. Mitte der siebziger Jahre wollte er auch deren Namen ablegen und offiziell »1069« heißen. Er schlug ein Millionenerbe aus und begann ein neues, selbstbestimmtes, unvorhersehbares Leben.

War der Name zu schlüpfrig?

Zeit, Wesenheit, Universum und Natur (»Time, Essence, Universe, Nature«) sollten die vier arabischen Ziffern symbolisieren und seine Beziehung zum Dasein repräsentieren. Er weigerte sich, mit seinem alten Namen zu unterschreiben, bekam Ärger mit Behörden und zog 1975 in North Dakota vor Gericht. Das lehnte die Klage ab: Ein Name könne nicht einfach aus einer Zahl bestehen. Er zog nach Minnesota, klagte wieder und auch das Höchste Gericht des US-Staates urteilte, der Name »1069« sei eine »erbärmliche Entmenschlichung und totalitärer Entzug würdiger Privatsphäre«. Er könne sich »One Zero Six Nine« und auch mit den an die römischen Ziffern angelehnten Buchstaben »I O VI IX«, nennen. Aber nicht als Zahl »1069«. Vielleicht war das »69« mit arabischen Ziffern den Richtern in Minnesota auch zu schlüpfrig.

Im Fernsehen vorgeführt

1977 erschien im Time Magazine ein Artikel über den Fall und auch Talkshow-Größe Tom Snyder, der zuvor schon unter anderem John Lennon und Charles Manson interviewt hatte, lud ihn ins Fernsehen ein. Motto der Sendung: »Bizarre Persönlichkeiten«. Als 1069 dem berühmten TV-Gastgeber seine komplizierte Unterschrift erklärte, die anfangs an das »Haus vom Nikolaus« erinnert, prustete Tom Snyder laut los vor Lachen. 1069 fühlte sich vorgeführt und vermied seitdem Pressekontakte.

Im Alltag machten nicht nur der Eintrag ins Telefonbuch, sondern auch Krankenversicherung, Führerschein und Bankgeschäfte Probleme, auch seine zweite Ehe in den achtziger Jahren durfte er nicht unter seinem selbst gewählten Namen eintragen lassen. Anfang der neunziger Jahre verließ er endgültig die USA, hinterließ zwei Ex-Frauen und zwei Kinder aus erster Ehe und landete 1991 in Leipzig. One Zero war 45 Jahre alt.

Obdachlos in Leipzig

Seine Adresse war jahrelang ein Postschließfach in der Hauptpost am Augustusplatz. Ansonsten schlief er in wechselnden Unterschlüpfen und schwor trotzig, sich nicht zu waschen, bis ihn eine liebende Frau in eine Badewanne steckt. Wenn das mal länger dauerte, beobachtete er fasziniert die Veränderungen auf der Haut und war schon von Weitem zu riechen.

Da Leipzig bis 1995 nur das gastronomische Angebot einer Kleinstadt zu bieten hatte, wurde er schnell bekannt: Beyerhaus, naTo, die Pfeffermühle, das Conneville in der Stöckartstraße 9. Und natürlich in der kleinen Innenstadt, damals mit sehr überschaubarer Kneipenlandschaft, kannte ihn jeder. Er zog herum und sprach fröhlich Menschen an, immer mit erstaunten, interessierten, lachenden Augen, schließlich wollte er die Kippe verkaufen, das nächste Bier bezahlen, Geld für ein paar Wiener und Kartoffelbrei, sein Lieblingsessen, zugesteckt bekommen – dabei erfreute er seine Sponsoren mit seiner stets lebensbejahenden Weltsicht – und gab ihnen dadurch viel zurück.

Meistens sprach er sein kultiviertes Englisch, jeder verstand ihn und zur Not war auch sein Deutsch ausreichend. Er schrieb ständig Notizen auf diverse Blätter, führte eine große Zettelwirtschaft mit sich herum, las viele Bücher und propagierte überall den Kernsatz seiner Philosophie.

»Share the Pain, Embrace the Hope, Love the Living«

»Teile den Schmerz, umarme die Hoffnung, liebe das Leben«: Mit diesem Motto zog er durch Leipzigs Kneipen. 2001 reiste er in die USA, um Kontakt zu seiner Familie aufzunehmen. Bei einem Spaziergang über eine Brücke überfuhr ihn ein Kleintransporter. Der Name der Fahrerin war Charity. Eine seiner Lieblingsanekdoten.

Vier Monate lag er im Krankenhaus und die Lokalzeitung brachte einen großen Bericht über den Mann, der durch den Namenswechsel bekannt wurde und jetzt überfahren worden war: »Man known by name change hit by truck«. Und bedauerte: »Mr. 1069 weigerte sich, mit der Presse zu reden.« Auch seine Tochter besuchte ihn dort – es war das letzte Mal, dass er sie sah.

Hunderte Menschen traf der exzentrische Yankee in den letzten 24 Jahren in Leipzig: Quatschte mit Pennern und Professoren, kannte die ganze Stadt. Seine kompromisslose Lebensform irritierte die meisten, aber imponierte vielen, denn er war kein trauriger Trinker, sondern von ansteckender Fröhlichkeit – mit sich und seiner Rolle im Reinen, ein gern gesuchter Gesprächspartner. 2014 nannte die Leipziger Band »Sonic Boom Foundation« ihre CD nach One Zeros Spruch und der Erfinder war stolz, in der Pop-Kultur angekommen zu sein.

Alles, was er brauchte, bekam er geschenkt – und so trug er edle Anzüge und teure Schuhe, was in der Straßenbahn angesichts seiner bunten Zähne bei manchen für Verwunderung sorgte. Lange lebte 1069 ohne Strom und Wasser, bei Freundinnen und zum Schluss in einer LWB-Wohnung in Lausen, die er »Treehouse« (Baumhaus) nannte. Wer immer ihn anrief, dem sang er zunächst ein fröhliches Potpourri von Paul-Anka-Liedern oder auch Hank Williams vor: »Everybody is lonesome for somebody else, but nobody is lonesome for me«. In »Lonesome Whistle« beklagt der notorisch melancholische Williams: »I’m a number not a name«. Das gefiel 1069.

Bei einigen galt er allerdings auch als Schnorrer und nervtötender Alkoholiker, er hatte hier und da Hausverbote in Lokalen, weil er Bier vom Späti holte und in die Gläser umgoss oder einfach in der Kneipe einschlief. Als One Zero mit einem Bier in der Hand einen Gottesdienst besuchen wollte, setzte er sich nach seinem Rauswurf vor die Kirche und fragte die Menschen, die herauskamen, wie denn die Vorstellung gewesen sei.

Im Februar dieses Jahres bekam One Zero Schmerzen. Freunde mussten ihn lange überreden, ins Krankenhaus zu gehen. Er musste notoperiert werden und hatte nicht mehr lange zu leben. Kurz darauf wurde der Patient auf eigenen Wunsch entlassen und bekam am 24. Februar eine Rechnung von der Uni-Klinik über 3.368,47 Euro, zahlbar in 34 Monatsraten, adressiert an:

I 0 VI IX, Von 1069.

Kurz danach ging der Todkranke zu einem befreundeten Anwalt und setzte sein Testament auf. One Zero machte Frieden mit seiner Vergangenheit und nahm den Namen wieder an, den ihm seine Mutter gegeben hatte.

Letzter Status: Asylbewerber

Als er im Frühling wieder in ein Krankenhaus musste, suchten die Behörden ratlos nach einem Status für den seltsamen Mann, der so viel Besuch bekam, sang, lachte, SMS-Meldungen verschickte, immer neue Testamente schrieb und auch das Krankenhaus-Personal und Mitpatienten mit seinen charmanten Botschaften und ungewöhnlichen Einsichten faszinierte.

Am 28. Mai 2015 wurde One Zero von den Behörden legalisiert: Die STV Leipzig stellte ihm auf den Namen Michael I 0 VI IX Holz ein Lichtbild-Dokument aus. Sein Status: ein bis Ende August geduldeter, ausreisepflichtiger Asylbewerber, dem 370 Euro Taschengeld zustanden. Bevor der in Hof geborene US-Amerikaner aus Deutschland abgeschoben werden konnte, starb er am 6. August in Leipzig. Er wurde 69 Jahre alt.

BERT HOLTERDORF


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3 Kommentar(e)

Bastian Böhm 19.09.2015 | um 03:51 Uhr

Erst Heute erfuhr ich von One-Zeros fahrt ins Nirwana! :( Mein Englischlehrer und Freund, den ich viel zu wenig gesehen habe. Aber wenn ich ihn getroffen habe, hat er stets ein gutes Gefühl in mir ausgelöst. Hoffnung, Zuversicht und Freiheit! Wie kein anderer. Heute zünde ich eine Kerze für Dich an! Zum Abschied möchte ich Ihnen (dem Autor des Artikels und alle die ihn kannten) eine kurze und lustige Begebenheit erzählen! Wie schon im Artikel erwähnt, hat One-Zero in der freien Schule Leipzig Englisch unterrichtet. Eines Nachts, Anfang/Mitte der Neunziger, als er seine von der Schule gestellte Schlafmöglichkeit aufsuchen wollte, schlief er vom Alkohol umnebelt im Schulflur ein. Gleich am Morgen kam die Putzfrau und erschreckte sich natürlich. Ein Toter? Ein Obdachloser? Sie rufte sofort die Polizei! One-Zero wurde von den Beamten geweckt und auf die Frage, was er dort zu suchen habe, beteuerte er, dass er der Englischlehrer sei! Daraufhin wurde er abgeführt und zur Wache gebracht. ("Englischlehrer? Ja alles klar!") Die Polizei rief umgehend die Schule an und schilderte den Vorfall in einem etwas belustigtem Ton, dass ein Obdochloser in die Räumlichkeiten der Schule eingedrungen sei... und wehemend behauptet dort Englisch zu unterrichten. Sie können sich die Überraschung der Polizisten vorstellen, als Ihnen mitgeteilt wurde, dass dies alles der Wahrheit entsprach! (Ja, der gehört zu uns!) :D One-Zero war eine Nummer für sich! Im wahrsten Sinne des Wortes. Das 1069 mit genau 69 Jahren gestorben ist, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, die mich ein wenig schmunzeln lässt (Er hätte sicher nichts dagegen wenn wir in bitteren Momenten trotzdem lachen und lieben können) Es passt zu seiner kuriosen und faszinierenden Lebensgeschichte! Hinterfrage, Philosophiere, Lache, Liebe und versuch Glücklich zu sein und was ich persönlich richtig toll finde. Er hat sich einen scheiß um Reichtum und Konventionen gekümmert. Solange man den anderen respektiert und liebt, ist die Welt ein besserer Ort. Mit Dir ist ein guter Mensch gegangen! Gute Reise lieber Freund! :)

Kathrin 15.09.2015 | um 04:05 Uhr

Lieber Bert, vielen, vielen Dank fuer Deinen Artikel, der fuer mich viele Erinnerungen an Leipzig wachgerufen hat. Ich habe One Zero das erste mal in Deiner Wohnung in der Fockestrasse getroffen. Das war vor 18 Jahren. Er war auch fuer mich ein ganz besonderer Mensch, der mich inspiriert und immer wieder erstaunt hat. Ich werde ihn sehr vermissen und bin gleichzeitig dankbar, dass er mein Leben bereichert hat. Mit herzlichen Gruessen aus Melbourne/ Australien. Kathrin, Matthias & family

Kurt Mondaugen 12.09.2015 | um 12:49 Uhr

Für One Zero Six Nine 1069 Ein Traum in Zahlen & eine Unterkunft für unser ganzes Leben & von keiner Polizei erlaubt, ein Artisten-Nummern-Vorbild 1069 warst du wie eine Durchwahl in ein fremdverstand‘nes Land der letzte Ossi, der aus Amerika zurückkam um die Dinge noch einmal wirklich zu durchdenken mit uns, mit Bier und Rotwein nach der Wende & die Verrückten einzusammeln in dieser Stadt bis auf den Grund des Glases hinabgestarrt in diese unbekannte Primzahl 1069 nur durch sich selbst zu teilen oder durch das EINE, das wir alle sind – Gott, Nirwana oder Schnaps – Sag: „Nenn es, wie du willst!“ 1069 ein Traum in Zahlen & eine Unterkunft für unser ganzes Leben warst Du bis gleich, mein Herz, bis gleich!