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Kultur

»Eskapismus mit Stolz«

Zirkus-Nerd Urs Jäckle über die Varietéstars von morgen

  »Eskapismus mit Stolz« | Zirkus-Nerd Urs Jäckle über die Varietéstars von morgen

Das haben Sie noch nicht gesehen: »Newcomershow« klingt nicht nach großer Nummer. Hinter dem Understatement verbirgt sich aber ein Hochkaräter der guten Unterhaltung. Der internationale Artistennachwuchs kommt zusammen und zeigt durchweg Deutschlandpremieren. Urs Jäckle, künstlerischer Leiter am Krystallpalast Varieté, hat sie mit ausgewählt. Dem kreuzer erzählt er von seiner Arbeit und Faszination, von Rasierklingen Schlucken und der Kunst guter Unterhaltung.

kreuzer: Die Newcomershow ist ein Sprungbrett. Sind Sie sauer, plötzlich Leute, die Sie hergeholt haben, bei »Deutschland sucht den Superstar« zu sehen?

URS JÄCKLE: Nein, da bin ich erst einmal stolz. Das ist auch der Grund, warum wir die gesamte Branche einladen und die kommen nicht nur deutschlandweit. Für uns ist es eine Möglichkeit des Austauschs wie für die Künstler eine Plattform. Sie spielen vor so vielen Veranstaltern wie vielleicht nie wieder.

kreuzer: Und das Publikum erlebt Nie Gesehenes?

JÄCKLE: Es sind alles Deutschlandpremieren, zum Teil auch Weltpremieren. Wir hatten Bewerbungen aus 35 Ländern. Es ist schon toll, Artisten entdeckt zu haben, die ein Jahr später auf den großen Festivals auftreten. Natürlich ist die Show auch für uns eine Entdeckerbühne, was die laufenden Produktionen betrifft.

kreuzer: Sie besetzen nicht nach Video-Bewerbung?

JÄCKLE: Ein hübsch zusammen geschnittener Trailer mit Highlights bringt mir gar nichts. Ich will wissen, wie geht der Künstler mit dem Publikum um, hat er Ausstrahlung, packt er es? Was macht er, wenn etwas herunterfällt, schiefgeht: Gerät er in Panik oder nimmt den Faden wieder auf, überspielt es. Der andere ist ganz praktisch, die Künstler sollen unser Haus kennenlernen und entscheiden, ob sie in diesem Rahmen auftreten wollen oder doch lieber in einem klassischen Zirkus.

kreuzer: Weil der Krystallpalast speziell ist?

JÄCKLE: Der Raum gibt viel vor. Die Enge erzeugt eine Intensität, bei der die Akteure extrem wach spielen müssen. Es lässt sich nichts verstecken. Andererseits ist das eine Unmittelbarkeit, die eine Arenaproduktion niemals erreicht.

kreuzer: Was gibt es zu sehen?

JÄCKLE: Wir haben Nummern versammelt, die aus dem Mainstream herausstechen. Da ist der Name Newcomershow eine Untertreibung, klingt wie kleine Talentbühne. Wir versammeln die Creme de la Creme des internationalen Artistennachwuchses. Die Bandbreite reicht vom traditionellen Zirkus, der auf Leistung setzt und den technisch-handwerklichen Aspekt herausstellt, bis hin zu den Leuten aus dem zeitgenössischem Zirkus, die vom Tanztheater und anderen Kunstformen beeinflusst sind.

kreuzer: Gilt die Regel, dass die Athletikshows eher osteuropäische Gewächse, der narrative Cirque Nouveau eher westlich ist?

JÄCKLE: Bis vor fünf Jahren konnte man das sagen. Die klassischen Kaderschmieden für die Leistungsartistik waren Russland und die Ukraine und die wichtigen Impulse für die Erneuerung des Zirkus, die Vermischung der Künste, kamen vor allem aus Kanada, Frankreich und Skandinavien. Inzwischen aber haben sich in Osteuropa Gruppen davon beeinflussen lassen und überholen wiederum die bisherige Avantgarde.

kreuzer: Wie wurden Sie künstlerischer Leiter?

JÄCKLE: Ich war schon immer Varieté-Nerd. Ich stamme aus Freiburg im Breisgau und komme aus der Jugendzirkus-Ecke, bin als Jongleur mit unterschiedlichen Zirkussen aufgetreten. Ich wollte aber kein Artist werden, sondern zu studieren, und wollte unbedingt in den Osten, weil ich das aufregend fand. So habe ich 1999 in Leipzig angefangen Kulturwissenschaften zu studieren und gleichzeitig zunächst über ein Praktikum hier am Varieté in alle Bereiche hineingeblickt. Mein erstes Projekt war 2000 die Newcomershow; nach dem Studienabschluss kam ich fest ans Haus.

kreuzer: Wer nur Conferencier und Schenkelklopfer erwartet, ist falsch bei Ihnen. Bei »Salto Mortale« hatten Sie mit Rasierklingen-Schlucken gar eine Side-Show im Programm. Ist das nicht unriskant?

JÄCKLE: Das Varieté braucht auch mal solche Kontrapunkte im Spielplan. Damit der Zuschauer weiß: Jede Show hat eine eigene Handschrift. Wir wollen interessant sein auch für die Leute, die öfters ins Varieté gehen. Dadurch haben wir eine Variation in den Stilen, die sich kein anderes Haus in Deutschland erlaubt. Aber natürlich muss die Show funktionieren, in den Köpfen des Publikums stattfinden. Das ist immer das Wichtigste. Wenn es gelingt, die Leute in einen Sog zu ziehen, aus dem sie nach zwei Stunden wider auftauchen, dann ist das gelungen. Unterhaltung im besten Sinn: Ja, wir unterhalten und versuchen dabei gut zu sein. Das ist Eskapismus pur, und das machen wir mit Stolz.


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