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Politik

Lichtfest: Rätselhaftes Verhalten

Eine Teilnehmende Beobachtung (zwangsläufig)

  Lichtfest: Rätselhaftes Verhalten | Eine Teilnehmende Beobachtung (zwangsläufig)

Teilnehmende Beobachtung ist eine Methode der Ethnologie und anderer Wissenschaften, bei der der Forschende selbst Bestandteil des Forschungsgegenstandes ist. Ziel ist es, Erkenntnisse über das Handeln, Verhalten oder die Auswirkungen des Verhaltens von einzelnen Personen oder Gruppen zu gewinnen. Je nachdem ist der Untersuchende durch bloße physische Präsenz und Beobachtungen bis hin zur kompletten Interaktion ›beteiligt‹. Nun ist derlei Legitimationsproduktion nicht Inhalt und Absicht dieses Artikels. Vielmehr soll hier ein Moment im Verhalten einer Stadtgesellschaft beschrieben werden, deren Handlungen, Denkweisen und Regeln die Autorin selbst, zwangsläufig, unterworfen ist.*

9. Oktober, 20 Uhr, Augustusplatz, Leipzig: Rätselhaftes geschieht an diesem Abend in der Innenstadt. Rings um und auf dem Augustusplatz hat sich eine große Menschenmenge versammelt. Einige halten Plastikbecher mit Teelichtern in ihren Händen, ihre Blicke sind nach vorn gerichtet. Manche haben sich auf Treppenstufen gestellt, um besser sehen zu können. Es ist die große Bühne auf dem Platz, mitten vor dem Operngebäude platziert, die ihre Aufmerksamkeit einfängt. Blauweißes Licht aus Scheinwerfern und leuchtende Kegel links und rechts der Bühne vermitteln die Stimmung eines Popkonzerts. Und dann ist da noch diese schwarze Kugel an einem über die Menge gespannten Drahtseil. (Was soll hier heute passieren?)

Statt einer Band stehen wider Erwarten drei Personen auf der Bühne. Zwei Männer und eine Frau. Die Bühne wirkt zu groß für sie. Deshalb bildet eine Leinwand im Hintergrund sie noch einmal groß ab. Sie wirken offiziell, scheinen Wichtiges zu sagen zu haben. Der in der Mitte, mit dem aufgeschlagenen Mantelkragen, spricht in das Mikrofon. Von »Wir sind das Volk« ist die Rede. Und dass dieser Ausruf im Herbst ’89 in Leipzig doch der Demokratisierung und Freiheit der Bürgerinnen und Bürger des Landes galt. Und nun werde er von Personen benutzt, die sich ausgrenzend äußern und handeln. Trotzdem frage er sich auch, warum man immer so tue, als ob man kein Volk sei. Wir seien doch ein Volk! (Es wirkt so, als ob der Mann sich selbst überzeugen müsse. Doch von was genau?) Etwas lenkt ihn plötzlich ab. Er schaut nach links, hinunter auf die Menge, und lacht auf: »Ach, er versucht es immer wieder, der Kollege. Aber er ruft allein.« Jetzt fängt die neben ihm stehende Frau an, ins Mikrofon zu sprechen. Dabei verhaspelt sie sich, verwechselt das heutige Datum. Ach was, nicht 9. November! 9. Oktober, meine sie natürlich.

Beim Umrunden der Menge, durch kerzenhaltende Menschen in Regenjacken zwängend, bietet sich am Rand der Bühne ein anderer Anblick. Ein Mann schreit und pöbelt herum. Männer mit Jacken, auf deren Rückseiten »Löwensicherheit« oder »Polizei« steht, umringen den aufgebrachten Mann. Sie versuchen ihn unter den zustimmenden Rufen der Herumstehenden aus der Masse zu ziehen. Der wehrt sich, will das nicht mit sich machen lassen. Was der Mann denn gesagt habe? Ratlose Gesichter. Auf der Bühne passiert jetzt auch etwas. Die drei Gestalten sind weg. Dafür fangen die Lichtkegel an zu blinken. Die Wörter »Mut«, »Werte«, »Veränderung« ziehen durch die Lichterketten, die um die Kegel herum gespannt sind. (Ein geheimer Code?) Bässe aus Lautsprechern fangen an zu wummern. Also doch ein Konzert, vielleicht Techno. Nein. Junge Tänzer, schwarz gekleidet, bewegen sich plötzlich über die Bühne. Durch sie schreitet ein großer Mann in Mantel, sein Blick ist ernst, sein Ton dramatisch. Ob heute der 9. Oktober sei, fragt er in die Menge. Ja? Gut. Er wolle nur noch einmal sichergehen, ob er hier richtig sei. (Der genaue Tag scheint heute von Bedeutung zu sein. Doch nicht alle sind sich im Datum sicher.)

Während der Mann auf der Bühne redet, schweigt, wieder redet, die Tänzer tanzen, der Bass wummert und die Lichtkegel blinken, läuft unten, vor der Bühne, eine Nebenhandlung ab. Nachdem der Mann aus der Menge gezogen wurde, von besagten Personen mit der Aufschrift auf den Jacken, zeigt sich eine kleine Gruppe junger Leute empört darüber. Sie rufen »Meinungsfreiheit!« und »Jeder Deutsche hat seine deutsche Meinung!« Eine Frau ist erregt. Warum der Mann denn nicht Meinungsfreiheit haben könne. Ein weiterer Mann, der sich allem Anschein der Gruppe nicht zugehörig fühlt, mischt sich ein, fängt an zu diskutieren. Meinungsfreiheit habe seine Grenzen, ruft er in ermahnendem Ton. Und auch er habe seine Meinung. Eine aufgeregte Diskussion beginnt zwischen beiden Seiten.

Andere Herumstehende fühlen sich wiederum gestört vom Tumult, schauen sich suchend nach den Störenfrieden um. Man wolle schließlich in Ruhe die von Technobässen und blinkenden Leuchtkegeln untermalte tänzerische Darbietung verfolgen. Und dem Mann mit dem ernsten Blick, der nicht wusste, ob er hier richtig sei, wolle man auch Aufmerksamkeit schenken. Der Arme. Und wen das störe, der solle hier entweder aufhören »herumzunölen« oder »nen Fisch machen!« (Auch Fische scheinen hier eine Rolle zu spielen.) Jetzt fängt noch eine andere Person an, eine Frau mittleren Alters, in erbostem Ton zu rufen. Dabei fuchtelt sie mit ihrem Regenschirm in Richtung Bühne. »Das ist doch Massenverblödung! Das ist nicht das, was wir ’89 wollten!«

Ein absurdes Bild bietet sich an diesem Abend. Die Menschen sind emotional. Viele regen sich auf, sind unterschiedlicher Meinung, rufen sich seltsame Dinge zu. Und gehören dabei unterschiedlichen Gruppierungen an. Doch ist die Tanzeinlage auf der Bühne schuld daran? Ja? Nein? Ein Rätsel. Vielleicht bringen die Teelichter etwas Licht ins Dunkel. Denn die scheinen von besonderer Bedeutung zu sein. Jedenfalls wenn man dem großen Mann auf der Bühne mit der dramatischen Stimmlage glauben mag, der sich am Ende der Show mit den Worten an die Menge richtet: »Das Wichtigste heute: Zünden Sie eine Kerze an.«

Die Veranstaltung geht zu Ende. Der Abspann läuft. Man könne sich unterschiedliche Lichtinstallationen anschauen, zum Beispiel die Installation »Patrouille/Kontakt« im Nebengebäude der Runden Ecke. Dann schallen wieder Technobeats aus den Boxen. Und man sieht noch ein paar Schwarz-Weiß-Bilder auf der Leinwand. Irgendwas von früher, Herbst ’89. Aber da guckt schon keiner mehr richtig hin. Der Platz leert sich schnell. Die Übriggebliebenen drängen sich um eine große, strahlende 89, aus lauter Teelichtern gelegt. Sie zünden ihre Kerzen an und legen sie dazu. (Eine Opfergabe?) Was auch immer, es scheint das Wichtigste zu sein an diesem Abend.


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