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Grüße aus der Anderswelt

Frau Holle lässt es nicht nur schneien. Sie ist Kloß-Göttin, für Fruchtbarkeit und Kindsraub zuständig

  Grüße aus der Anderswelt | Frau Holle lässt es nicht nur schneien. Sie ist Kloß-Göttin, für Fruchtbarkeit und Kindsraub zuständig

Frau Holle hat den Thüringern den Kloß geschenkt. Warum, weiß man nicht. Schließlich ist es den Leuten zuzutrauen, dass sie ohne übernatürliche Hilfe auf die Idee kommen, aus geriebenen Kartoffeln Bällchen zu formen. Nun nennt man Thüringer Klöße in Thüringen nicht unbedingt so.

Im südlichen Meiningen zum Beispiel sagt man Hütes. Dort lebte im 19. Jahrhundert der Dichter Rudolf Baumbach, schrieb das Lied »Hoch auf dem gelben Wagen« und weniger Bekanntes wie »Das Lied vom Hütes«. Hier spaziert eine Göttin namens Frau Holle durchs Werratal und segnet die Wintersaat. Danach lässt sie es schneien, so dass die Reben erfrieren, weil der Werrawein ihr sowieso nicht schmeckt. Im nächsten Jahr tut ihr das leid. So rät sie den unglücklichen Winzern zum Kartoffelanbau. Weil die Leute mit den Kartoffeln alles Mögliche anstellen, nur eben keine Klöße fabrizieren, flüstert sie dem Meininger Bürgermeister das Kloßrezept ein, als er in der Ratskellerküche Frau Holle beim Kochen beobachtet. »Hüt’ es«, lautet ihr Auftrag; daher der Kloßname.

So erzählt es Baumbach. Ein gewisser Rudolf Hagelstange lobt den Thüringer Kloß ungefähr 100 Jahre später über den grünen Klee. Da lebt er schon länger im Westen, vielleicht hat ihn der Abstand zur ehemaligen Heimat zu Übertreibungen veranlasst. An echten Thüringer Klößen kann man sich nicht überessen, schreibt er, verfällt dann in Kulturpessimismus: Die Köchin von heute ist weder für die nötige Zeit noch die aufzubringende Mühe bereit. Inzwischen ernennt Meiningen alle drei Jahre mit der Hütesholle eine Botschafterin des Kloßes, die sich hoffentlich darum kümmert.

Auch in Suhl kennt man ein Hüteslied. Die Perle der Dichtkunst illustriert, dass die Hütesregion sich vom Rest der drei als Mitteldeutschland bezeichneten Bundesländer unterscheidet: »uehe Hütes kai Sonntich, doa gätt halt niß drü«. Wer so spricht, befindet sich in der fränkischen Minderheit, gehört zu jenen, die Wecken zu Brötchen sagen. In seinem Hüteslied versteigt sich Baumbach am Rande, aber doch in epischer Breite zu der Behauptung, dass Menschen, denen dieser Landstrich fremd ist, mit Klößen nichts anzufangen wissen.

In Meiningen fungiert das Baumbachhaus, das ehemalige Wohnhaus des Dichters, als Literatur- und Heimatmuseum. Dort gedenken sie auch Ludwig Bechsteins, ebenfalls Sohn der Stadt, der mit seinen Märchen- und Sagensammlungen berühmt wurde. Der Bechstein-Märchenbrunnen ist ihm gewidmet. In einer der Sagen heißt es, dass die Eisfelder, im ebenfalls fränkischen Thüringen, am 6. Januar traditionell Frau Holle verbrennen.

Nicht weit davon entfernt liegt Schwarza, wo Frau Holle um Weihnachten mitsamt ihrem wütenden Heer durchzog. Als Flugzone für das Heer gilt anderswo der gesamte Thüringer Wald. Glück, Gesundheit und Fruchtbarkeit wünscht man sich zu Jahresbeginn bei der Hullefraansnacht im Dörfchen Schnett, das, man ahnt es, auch in Südthüringen liegt. Da wirkt die Holle wie eine Perchtin, eine archaische Figur wie Knecht Ruprecht, der raue Percht. In den Raunächten um die Jahreswende spielt sie Streiche, schaut sich auf der Erde um und bilanziert, wer fleißig war und wer nicht.

Bei den Brüdern Grimm ist Frau Holle eine alte Frau mit großen Zähnen, die gerecht belohnt und bestraft. In der Meininger Kloßgeschichte erscheint sie als Göttin mit Hang zum Verkleiden. Verwandelt fordert sie die Leute heraus: Geben sie einer alten Frau Essen und ein Dach überm Kopf, ist ihnen eine üppige Belohnung sicher, auf die Hilfsverweigerung folgt schlimme Strafe. Sie bringt den Schnee und kümmert sich um die Wintersaat. Sie hütet die Schätze der Erde und läutet das Ende des Winters ein, beginnt also den Frühling. Sie ist eine Art Schutzgeist der Spinner und Weber und kann mit dem Daumen Felsen versetzen. Sie soll Kinder rauben und gleichzeitig für die Fruchtbarkeit von Frauen zuständig sein. Im Weißen Brunnen in Gotha wacht sie über die Ungeborenen bis zu deren Geburt.

Irgendwo muss Frau Holle wohnen. Goldmarie und Pechmarie gelangen durch einen Brunnen zu ihr und befinden sich doch weit oben, so dass es beim Bettenausschütteln schneit. Der Brunnen ist also das Tor zu einer Anderswelt, vielleicht ja der in Gotha. Es gibt einen Frau-Holle-Teich auf dem Hohen Meißner, der Frauen in ihrem Kinderwunsch unterstützt, wenn sie dort baden. Einigen Überlieferungen zufolge nennt Frau Holle den Hohen Meißner zwischen Kassel und Eschwege ihr Zuhause. Das liegt in Hessen und bekanntermaßen mögen es Thüringer und Hessen nicht, in einem Atemzug genannt zu werden. Dafür kann Frau Holle nichts, die vielleicht auch in den Hörselbergen bei Eisenach wohnt. Dennoch nennt sich Hessisch Lichtenau im Bergland des Hohen Meißners das Tor zum Frau-Holle-Land und der Holle-Pfad verläuft zwischen Nordhessen und Südniedersachsen. Die Deutsche Märchenstraße nimmt nur einen Teil Thüringens mit. Dafür haben sie in Hessen kein Kloßmuseum und kein Kloßhotel.


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