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Politik

»Es herrscht krasse Solidarität«

Leipziger Journalist berichtet aus Kyiv

  »Es herrscht krasse Solidarität« | Leipziger Journalist berichtet aus Kyiv

Marco Brás dos Santos ist gerade als freier Journalist in Leipzigs Partnerstadt Kyiv*. Er spricht mit Menschen vor Ort und sammelt Geschichten aus ihrem Kriegsalltag. Auf seinem Blog La Presse berichtet er täglich von seinen Erlebnissen. Begleitet wird er von Viktor, einem Arzt aus Sachsen mit ukrainischer Herkunft, der übersetzt, Kontakte herstellt und fotografiert. Bei Radio Blau erzählte Brás dos Santos erst am Mittwoch, was ihn zu der Reise bewegt hat – und dass er sich nicht als Kriegsreporter bezeichnen würde. Das änderte sich schnell, als er am Donnerstag Zeuge eines Luftangriffs wurde.

Wir erreichen ihn, als er gerade auf dem Weg nach Butscha ist. Dort wollen er und Viktor einer Frau helfen, deren Haus zerbombt wurde. Die Verbindung ist schlecht, bricht immer wieder ab. Wir telefonieren ein zweites Mal, als er wieder zurück in Kyiv* ist. Er berichtet von den vergangenen Tagen.

»Am Donnerstag hatten wir einen Termin in einer Veterinärklinik, die teils zu einem Tierheim umfunktioniert wurde. Wir sind dort Gassi gegangen mit Hunden, deren Herrchen gestorben sind und die selbst was abbekommen haben. Es gibt hier eine krasse Infrastruktur von Freiwilligen, die über das ganze Stadtgebiet verteilt in Chatgruppen organisiert sind. Das sind professionell organisierte Teams, die besetzt sind mit Menschen aus der Höhenrettung: der Eine kann Schlösser öffnen und jemand anderes kann eingeschlossene Tiere mit einem Schlauch durch den Türspion füttern.

Wir haben ein Interview geführt mit einer, die die Crews mitorganisiert, die rausfahren und die Tiere einsammeln und retten aus den Wohnungen. Während des Interviews hat es Zisch gemacht und es hat einen Schlag gegeben. Ich habe Deckung gesucht, die anderen haben sich auf den Boden gelegt und beim zweiten Zisch habe ich alles fallen gelassen. Ich war schon so angespannt und wusste, hier ist gerade Action. Ich habe mich auf den Boden geworfen, die Ohren zugehalten und den Mund aufgemacht, so soll man das, glaube ich, machen. Dann haben wir die zweite Explosion wahrgenommen. Danach habe ich geschaut, ob alle Leute okay sind und zugesehen, dass wir erstmal ins Fahrzeug kommen und uns ein bisschen von dem Radius wegbewegen. Wir sind eingestiegen und Viktor meinte gleich: ›Wir fahren dorthin, wo die Rakete eingeschlagen ist.‹ Seine Profession ist ja Arzt und er wollte erste Hilfe leisten, und dann gab’s eigentlich gar keine Diskussion. Wir hatten natürlich das Risiko im Hinterkopf, dass es auch eine Strategie der psychologischen Kriegsführung gibt, nochmal was hinterherzujagen, wenn ein paar Minuten später Presse und Ersthelfer vor Ort sind.

Viktor hat dort gleich das erste Opfer gefunden, das auf der Straße von der Druckwelle getroffen wurde, aber auch von Trümmerteilen. Ich glaube, der Mann hatte einen kleinen Finger verloren, ansonsten ist er okay. Ich habe Fotos gemacht und zugesehen, dass ich mich so 200 Meter weiter nach rechts bewege, weil ich tatsächlich noch dieses Risiko vor Augen hatte. Viktor hat die ersten Menschen, die aus dem Haus rauskamen, erstversorgt, das ging recht schnell. Dann waren auch andere Mediziner mit dort und er hat Krankenschwestern geholfen, Zugänge zu legen und die ganzen Menschen mit verarztet. Alles irgendwie reparabel, offene Frakturen, sowas kriegt man wieder hin. Da war ein Polizist, der heldenhaft reingegangen ist, ohne Schutzausrüstung, und Leute rausgeholt hat und am Ende eine ziemlich krasse Rauchvergiftung erlitten hat. Ich glaube, das war so die schwerste Verletzung zu der Zeit, als Viktor noch am Start war. Was danach noch passiert ist, das wissen wir nicht, ich habe zugesehen, dass ich irgendwie wieder zu meinem Fahrzeug gelange. Das war nicht mehr so einfach, weil die militärische Absperrung ziemlich hart war und der Zugang zu Fuß zum Fahrzeug auf der anderen Seite lag. Es kam einen Taxifahrer, der mich kostenlos hingefahren hat und gesagt hat: It‘s not the time to make money. Dann sind wir nachhause gefahren, pünktlich zur Ausgangssperre.

Der Angriff hat an meiner Berichterstattung nichts geändert. Ich nehme jeden Luftalarm sehr ernst. Man sieht in der Bevölkerung, dass es nicht mehr so ernst genommen wird: Wenn in Kyiv* Luftalarm ist, sieht man Menschen ganz normal auf der Straße laufen. Es ist halt ziemlich oft Alarm und es passiert nichts. Also hat sich eine gewisse Routine eingeschlichen oder eine Unvorsichtigkeit, sodass nicht gleich alle in den Bunker hüpfen. Wir hüpfen auch nicht gleich in den Bunker, wenn Alarm ist, also würden wir heute wahrscheinlich auch nicht machen. Aber es ist eine gewisse Anspannung da und man passt ein bisschen auf.

Die Leute leben ihr Leben weiter und versuchen, gut mit der Situation umzugehen. Was ich nicht erwartet habe, ist dieser hohe Grad von Selbstorganisation und Solidarität. Alle Menschen sind irgendwie dabei und supporten sich gegenseitig, es ist unfassbar.

Wir waren heute in Vororten von Butscha. Dort stehen wenige Häuschen, die zerbombt wurden. Wir hatten einen Guide aus der Lokalverwaltung, der die ganzen Ortschaften kennt. Da haben Menschen Tüten mit Medikamenten verteilt, es wurden ganz viele Tiere gefüttert. Wir konnten mit Anwohnerinnen sprechen und ich habe Fotos gemacht von zerstörten Häusern und Schulen. Da steht teilweise nur noch ein Tisch, wo vorher ein ganzes Haus stand. Da meinten sie, hier seien drei Leute gestorben, die Knochen lagen noch da.

Wir haben eine alte Frau interviewt. Sie hat uns erzählt, wie sie zurechtkommt oder eben nicht, und hat uns ihr eigentliches Haus, das auch zerbombt wurde, gezeigt. Wir sind dann nach hinten in den Schuppen gegangen, wo sie jetzt lebt, ohne Wasser und Elektrizität. Das hat mich sehr berührt.

Die Leute hier in den Orten, die werden einfach solidarisch, ohne staatliche Hilfe, komplett aus der Privattasche unterstützt. Es gibt einige Organisationen, die das auf dem Schirm haben und hier herumfahren. Gerade habe ich einen Konvoi gesehen, der Kleidung verteilt hat. Hier wird sich gekümmert und es herrscht krasse Solidarität. Unglaublich berührend. So schön an Emotionen, da ist die Angst von gestern ein Fliegenschiss dagegen. Super stark und kraftvoll.«

*In der Schreibweise der Stadt Kyiv folgen wir dem Wunsch des Interviewten.

Protokoll von Sophie Goldau

Foto: Marco Brás Dos Santos

 

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