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Rezensionen

Take 3

Take 3

Werke von Francis Poulenc, Béla Bartók, Paul Schoenfield

Werke von Francis Poulenc, Béla Bartók, Paul Schoenfield

Patricia Kopatchinskaja beweist hier neben ihrem atemberaubend lebendigen Geigenspiel wieder ihren Sinn für lebendige, zeitgemäße Programmzusammenstellungen mit intelligenter Dramaturgie. Thema ihrer neuen Aufnahme ist das »Zu dritt zu spielen«. Dafür hat sie Trios von Francis Poulenc, Béla Bartók und dem amerikanischen Komponisten Paul Schoenfield (geb.1947) kombiniert. Das verbindende Element dieser Komponisten ist die Synthese verschiedener Stile. Ist es in Bartóks »Kontrasten« seine Vorliebe für traditionelle Musik, die er in ein universelleres, vom Jazz beeinflusstes Werk verwandelte, so ist es bei Poulenc die bunte Welt des Paris der Goldenen Zwanziger. Jeder der Sätze von Schoenfields Trio basiert auf einer osteuropäischen chassidischen Melodie. Die Werke erklingen dabei nicht immer am Stück. So werden die Teilchen der Bühnenmusik »L’invitation au château« von Poulenc wie kleine zerbrechliche Miniaturen intermezzohaft eingestreut. Ihre scheinbar hingehauchte nostalgische, etwas irreguläre Eleganz ist ein Pol der Aufnahme. Der andere manifestiert sich im letzten Stück, einem Klezmer-Tanz von Șerban Nichifor. Gespielt in überbordender energetischer Verausgabung und Klangfülle werden hier Grenzen einer Studioaufnahme gesprengt und das »Außen«, die Welt, hereingelassen. Hochartifizielle Interpretationen von Kopatchinskaja gemeinsam mit dem Klarinettisten und Improvisator Reto Bieri und Polina Leschenko am Klavier. Anja Kleinmichel

Idles

Idles

Tangk

Tangk

Schluss mit dem reinen gutturalen Spoken-Word-Style! Auf der neuen Platte beweist uns Joe Talbot, dass er fleißig beim Gesangsunterricht war und dass er – wie man bereits in »Crawler« vorab hören konnte – den einst eher aggressiven Idles-Sound auch schön soulig machen kann. Aufgrund dieser Behauptung aber zu glauben, dass das fünfte Album der Band aus Bristol lediglich aus samtigen Songs bestehen würde, wäre schmerzhaft falsch. Vielmehr ist es ein Kompromiss zwischen energetischem Post-Punk, elektronischem Alternative-Rock und Klavierballaden mit einem Hiphop-Zwinkern. Zu dieser Symbiose hat sicherlich die Tatsache beigetragen, dass Kenny Beats (Denzel Curry, Vince Staples, Benee), Nigel Godrich (Radiohead, The Smile, Beck) und der Idles-Gitarrist Mark Bowen das Album gemeinsam produzierten. Und darum fehlt es »Tangk« wahrscheinlich auch etwas an der Kohäsion, die in den vorherigen Platten maßgebend war. Dafür sind auf dem Album eine Menge Loops, Effekte, Keys und sogar Blasinstrumente zu hören, die überraschen. Ebenfalls anders an dem Album ist sein Narrativ, das primär von Liebe und eben nicht von Wut handelt, auch wenn der Sänger nicht vergisst, wiederholt »fuck the King« zu sagen. In der Tat benutzt Talbot hier das Wort »love« 29 Mal und lotet das Gefühl durch Themen wie Dankbarkeit, Sex, Herzschmerz, Vaterschaft und das Besingen eines fliehenden Pferdes im Ballettröckchen aus. »Look at him go!«, schreit er – und die Gitarren legen los. Libia Caballero Bastidas

Earth

Earth

Earth 2.23: Special Lower Frequenz Mix

Earth 2.23: Special Lower Frequenz Mix

1993 legten Earth ihr Album »Earth 2: Special Lower Frequency Version« vor, einen Geniestreich schwermetallener Entschleunigung nach der Formel Halfspeed-Slayer go La Monte Young – breitenwirksam wahrgenommen im Grunge-Overkill der damaligen Zeit. Drei Dekaden später springen nun zur Tribut-Wiederveröffentlichung ausgesuchte Klangkünstler in den walzenden Soundlavastrom, der noch immer oder gar umso besser als dystopische Dunkeldrone-Drohung des Zeitgeists passt, und präsentieren »Special Lower Frequency Mix«-Versionen. Justin K. Broadrick, dessen Referenzbogen von Napalm Death bis Godflesh und von dort zu Dub oder Techno geht, marschiert dabei straff und unbarmherzig, während Robert Hampson, bekannt von Loop und Main, und das Built-to-Spill-Mitglied Brett Netson den Magma-Marathon gehen, voll zu erfahren nur im Digitalformat. Auf dem der Kühlkriech-Beitrag von Kevin Richard Martin sogar reduziert bleibt, der allerdings als The Bug mit dem Wortflammenwerfer Flowdan eine einschlagende Death-Dancehall-Version einwirft, die allein schon die Anschaffung als Vinyl lohnt. Zwecks Rewind! Alexander Pehlemann

TTT-Turbo

TTT-Turbo

Space Bummers

Space Bummers

Bloß gut, dass TTT-Turbo auf den Punk gekommen ist! Auch die nunmehr zweite Veröffentlichung »Space Bummers« des Leipziger Musikers Jannes Elkner reizt mit dem Charme des Selbermachens – ganz wie es sich für eine waschechte Punk-Produktion gehört. Bemerkenswert, wie der 18-Jährige vor keiner Herausforderung zurückschreckt, die es für seine Wunschmusik benötigt: »Written & Recorded by Jannes Elkner, Album Artwork by Jannes Elkner, Mixed and Mastered: very bad«, kann man auf Bandcamp nachlesen. Ja, vielleicht tönt es ein bisschen dumpf, aber bei wohlwollendem Hinhören kommt der mulmige Klang doch Sound gewordenem Zigarettenrauch nahe, der sonst in den wohligen Clubs und Bars steht, die uns so herrlich fühlen lassen, dass es noch einen musikalischen Untergrund gibt – so übrigens auch TTT-Turbo: Der Musiker verstrickt stimmungsvoll in seine Klangpfade, in die man gerne auf den wummernden, pulsierenden Rhythmus des ersten Tracks »My Sword (Army of Darkness)« folgt. Bei aller Jugendlichkeit umhüllt die Musik das Gefühl von Retroavantgarde, insbesondere dann, wenn sich die Tanzimpulse des Rockabillys mit den bisweilen wirren Lyrics verschränken. Obendrein schrammelt, surrt und flirrt die Gitarre, die sich für den Track »Planet 666« besonders quirlig gibt. Synthesizermelodien spulen sich in die Songs, bis das Finale »Hey Spud!« uns ganz und gar einsaugt. Elkner gibt sich keiner Vision von »härter und schneller« hin, wie es das Genre manchmal so mit sich bringt – stattdessen überzeugt er mit spürbarer Freude am Musikmachen und lässt auch sein Interesse für allerhand Genres anklingen. Auch die zweite Veröffentlichung von TTT-Turbo ist hörens- und schätzenswert! Claudia Helmert

Ja, Panik

Ja, Panik

Don’t play with the rich Kids

Don’t play with the rich Kids

Die Welt stand Kopf, als plötzlich und völlig unerwartet am 1. Januar 2021 die neue Single »Apocalypse or Revolution«der wienerischsten Band Berlins – Ja, Panik – über die Timeline flimmerte. Und siehe da: Für einen kurzen Moment dachte man, nun wird alles wieder gut. Heute wissen wir zwar, dass es anders kam. Und dennoch wäre gegenwärtig alles wohl noch trister, wenn Ja, Panik weiter im Off-Modus geblieben wäre. Denn danach sah es zwischenzeitlich tatsächlich aus: 2014 erschien das vorerst letzte Album »Libertatia«, 2016 folgte zum 10-jährigen Bandjubiläum mit »Futur II« ein Buch, in dem Sänger und Kopf Andreas Spechtl zwischen den Zeilen bereits das Ende der Band zu verkünden schien. Damals hatte er sich mit seinem Soloprojekt schon längst vom Konzept der Rockband abgewandt. Und auch »Die Gruppe«, das Comeback-Album vor drei Jahren, war allen großen Momenten zum Trotz noch deutlich von Spechtls Vorliebe für elektronische Experimente geprägt. Davon ist auf »Don’t play with the rich Kids«, dem neuen, mittlerweile siebten Album der Band, nichts mehr zu spüren: Schon im ersten Song »Lost« werden einem die Gitarren in einer Derbheit um die Ohren geknallt, wie man es zuletzt auf dem 2007er-Album »The Taste and the Money« erlebt hat. Ja, Panik sind wütend, und wer die Band kennt, den wird das im Angesicht des gesellschaftlichen Status quo nicht überraschen. Was sie dabei aber maßgeblich vom Gros der allzeitwütenden Rockbands unterscheidet, ist die breite Klaviatur an Emotionen, die das Quintett nach wie vor im Schlaf beherrscht. Immer wieder offenbart Spechtl dabei Verletzlichkeit und seelische Abgründe: »Immer wieder glaube ich: / I found myself / Und dann bin ich’s wieder nicht«, heißt es in der Vorabsingle »Kung Fu Fighter«. Doch auch Trost findet man, (...) sucht, wie etwa im epochalen Abschlusssong »Ushuaia«: »Wenn ich nicht schlafen kann, singst du mich in den Schlaf.« Nach Schlafen ist einem nach dem abschließenden psychedelischen Gitarreninferno Luca Glenzer

Sleater-Kinney

Sleater-Kinney

Little Rope

Little Rope

Darf man es Feminismus nennen, wenn eine Amazone sich dem Kampf mit den eigenen Dämonen stellt? Wenn Xena sich die Wunden leckt, um dann wieder aufzustehen? Wenn Sleater-Kinney sich mit Trauer und Verletzlichkeit auseinandersetzen und daraus Kraft schöpfen? Ja, natürlich kann man das Feminismus nennen. Aber spielt das eigentlich eine Rolle? »Little Rope« ist das elfte Studioalbum der Riot-Grrrl-Band, die mittlerweile als Duo – Carrie Brownstein und Corin Tucker – auftritt. Auch wenn so ein Aufschrei 2024 immer noch angebracht wäre: Es wäre doch nostalgischer Quatsch zu sagen, das Album habe noch viel mit »Girls to the Front« und »I wanna be your Joey Ramone« zu tun. »Little Rope« steht vielmehr unter dem Eindruck des Unfalltodes von Carrie Brownsteins Mutter und Stiefvater. Ihre zehn Songs, die sie zusammen mit Corin Tucker neu arrangiert und aufgenommen hat, zeigen eine ungeahnte, aber verständliche Verletzlichkeit. »Lie gently with me / All Clocks have stopped«, singt Tucker ziemlich zart in »Say it like you mean it«. Hart ist nur der Rhythmus des Schlagzeugs. »Hunt you down« offenbart die schon angesprochenen Dämonen und die Angst davor: »The Thing you fear the most will hunt you down«, singt Tucker in hymnisch-kraftvollem Pop-Setting. Es wandelt sich aber die anfängliche Verletzlichkeit zu Angst und von Angst zu Entschlossenheit und von Entschlossenheit zu Kraft. Aus Trauer wird Power. Und am Ende geht es nicht mehr »nur« um persönlichen Verlust, sondern um alles, gegen oder für das man kämpfen muss. Wie dieser Kampf ausgeht, wird im letzten Song »Untidy Creature« deutlich: »You built a Cage, but your Measurement’s wrong / Cause I’ll find a Way and I’ll pick your Lock«. Die Amazone schlägt die Dämonen in die Flucht. Xena steht auf. Und Sleater-Kinney protestieren weiter. Kerstin Petermann

Andreas Dorau

Andreas Dorau

Im Gebüsch

Im Gebüsch

Alle werden alt. Nur wir nicht. Andreas Dorau zum Beispiel wird dieser Tage sechzig. Wobei, warte mal, waren wir nicht kürzlich erst im Knust zu Hamburg bei der Anti-Gala anlässlich seines 50. Geburtstages? Wenn der Mann seitdem zehn Jahre älter geworden ist, dann sind wir ja … minus sieben … zwei im Sinn … auf jeden Fall immer noch jung! Scheinbar ewig jung ist das Stimmchen von Andreas Dorau, das ihn auch auf seinem neuen Album, dem 13., klingen lässt wie damals, als er vom Jupiter kommend die Erde betrat. Nun also »Im Gebüsch« mit 13 Songs, denen man rein gar nichts vorwerfen kann: Das ist grandiose Popmusik, hittig, ohne echte Hits zu liefern, was sie in unseren erlauchten Kreisen natürlich noch angesehener macht. Als da wären: »Die Konstante«, »Das ist nur Musik«, »Das Glück«, »Die Welt ist ein seltsamer Planet«, »Storchengesang«, »Was nimmst du mit«, »Rainy Days in Moscow«, »Ich bin nicht ich«, sprich: 8 von 13, was für eine Quote. Die größtenteils elektronische Musik ist phänomenal. Beats, Synthies, alles. Dazu Zeilen wie »Klapp, klapp, klapp, ein Klapperton / Monoton ist auch ein Ton« oder »Hamster Rudi darf nicht sterben / Der soll ja später alles erben«. Konzert gibt’s erst mal nur eins, am 19. Januar, Doraus Geburtstag, im Knust in Hamburg. Da fahren wir aber nicht extra hin. Aus dem Alter sind wir raus. Benjamin Heine

Jaakko Eino Kalevi

Jaakko Eino Kalevi

Chaos Magic

Chaos Magic

Die deutsche Sprache offenbart uns eine einfache Wahrheit, die in der Kunst immer wieder Bestätigung findet: Die spinnen, die Finnen! Seien es die Filme von Aki Kaurismäki (»Leningrad Cowboys«), der Humppa-Pop von Eläkeläiset oder die Spiele von Remedy (»Alan Wake 2« – siehe S. 41) – die Finnen haben ein Faible für das Abseitige. So auch Jaakko Eino Kalevi Savolainen, der die Welt seit seinem Debüt »Dragon Quest« von 2007 mit Synth-Pop bereichert. Halb Crooner, halb Tüftler erschien er auf der Bildfläche unserer Stadt erstmals 2015 mit seinem selbstbetitelten Album und einem denkwürdigen Auftritt in der Nato. Seitdem hat er die Welt bereist, lebte zeitweise in Berlin, bevor er nach Griechenland zog. Dort nahm er auch sein aktuelles Album »Chaos Magic« auf und dem ersten Eindruck nach ist alles beim Alten: Auch das siebte Album watet knietief durch die elektronischen Achtziger, ist sich dabei für keine Referenz zu schade und reißt alle Kitschgrenzen nieder. Aber am Saxofon ist hier Jimi Tenor zu hören, der mit »Take Me Baby« Mitte der Neunziger selbst zur Rave-Legende in Berliner Clubs wurde. Zu zwei Tracks steuert Alma Jodorowsky Stimme und Synths bei, die Enkelin des Regie-Exzentrikers Alejandro Jodorowsky (»Montagna Sacra«). Darüber hinaus sind John Moods und Faux Real zu hören und Yu-Ching Huang singt auf Mandarin zu einer Georgio-Moroder-Disco-Hymne. Das ist alles wunderbar weird und verdammt catchy. Lars Tunçay

Zweilaster

Zweilaster

Scheiblettenkäse & Sehnsucht

Scheiblettenkäse & Sehnsucht

Zweilaster wachen verratzt auf und haben taube Backen, sie wissen nicht weiter und ihre Bettkante auch nicht, dennoch holen Zweilaster dich aus dem Bett. Zweilaster müssen konsequent pissen, Zweilaster sind Marie (Schlagzeug und Gesang) und Arno (Gitarre und Gesang) aus Stuttgart. Mit »Scheiblettenkäse & Sehnsucht« hat das Duo nun sein zweites Album veröffentlicht. Es erscheint über Tomatenplatten, das Label des Beatsteaks-Schlagzeugers Thomas Götz, und ist auch auf Vinyl erhältlich. Produziert hat es Julian Knoth, seines Zeichens Bassist bei Die Nerven. Durch sechzehn Titel trägt sich ein stringenter inhaltlicher Minimalismus. Bei Norma ist was im Angebot und wo hast du dir die roten Haare machen lassen? Zweilaster selber sagen: »Es geht um Pain und Joy – echte Kunsttherapie halt.« Die im DIY-Stil aufgenommenen Stücke liefern Lofi-Spaßpunk, aber erlauben auch Assoziationen zu Antifolk. Ein bereits gefallener Begriff, um die musikalischen Ergüsse von Zweilaster zu beschreiben, ist Flat Wave. In einer gerechten Welt wären Songs wie »Norma« und »Alte Leute« Hits, sagt Labelbetreiber Thomas Götz. Das sehe ich auch so. Es macht Spaß, Zweilaster beim Deprimiertsein zuzuhören. Mein neues Laster ist Zweilaster-Hören. Fiona Lehmann

Casper

Casper

Nur Liebe, immer

Nur Liebe, immer

Filmisch schwirren die Melodien vom »Intro« ins Heilsversprechen, mit dem Casper seine neue Platte schmückt: »Nur Liebe, immer«. Filmisch ist auch die Produktion der Platte, mit der der Musiker die Größe von Pop fühlt und füllt – ganz entgegen den ausschließlich kleinen Buchstaben, die er für Album- und Songtitel wählt. Die Platte folgt nicht wie die vorangegangene einem Konzept, gleicht dadurch mehr einem Episodenfilm als einem Drama. Zum Albumtitel erklärt der Künstler via Instagram, dass bedingungslose Liebe, Offenheit und Vergebung in unseren Zeiten die größte Provokation seien. Obgleich dieses Punkversprechen, das man hinter der Koketterie vermuten mag, nicht in der Musik anklingt, tut es das sehr wohl in der Umwertung von großen Themen wie Männlichkeit und Mental Health. Die satten Beats bewegen, die Synthies glühen und Gitarrenakzente flirren eindringlich für die Musik gewordene Zeitreise in das Leben des Künstlers im Song »Echt von unten/Zoé freestyle«. So ziert auch das Cover eine scheinbar spontane Aufnahme des in Deutschland geborenen und teilweise in den USA aufgewachsenen Musikers im Alter von elf Jahren. Casper zeigt sich selbstreferenziell und nahbar – so ist die Brücke zum Genre Straßenrap flink gebaut: »Ist es Rap oder Straßencosplay, das ihr spielt? Ist es echt oder bloß gerade auf Beats?«, hinterfragt er. Deutlich eingängiger beschwingt »Sommer«, für den er gemeinsam mit Cro die Worte »doch alles fine and dandy, denn die Mansion ist gebaut« sprudelt. Unverwechselbar seit eh und je klingt Caspers Stimme, die sich an die wohlproduzierten Melodien schmiegt. So zeitgeistert der Künstler durch den Track »Luft holen« und rappt »unsere Terminkalender werden zu Tetris«. Er zeigt sich schwelgerisch »verliebt in der Stadt, die es nicht gibt« und so vielseitig, wie das Leben eben so spielt. Claudia Helmert

Mamoré

Mamoré

Mamoré

Mamoré

»Wenn du Falco auf Wish bestellst«, heißt es in einem Instagram-Kommentar zu Mamoré. Dabei klingen die Thüringer eher nach DAF. In einer Interpretation, in der Gabi Delgado Heinz Rudolf Kunzes Stimme ausleiht, seine ureigene flamboyant-punkige Energie aber behält. Mit dem Jahr 2023 entsprechenden Synth-Sounds, versteht sich. Kurzum, hier wurde nix auf Wish bestellt. Mamoré gesellen sich mit dem gleichnamigen Album zu den großen New-Wave-Dark-Pop-Acts der neueren deutschen Musikgeschichte, wie Mia Morgan oder Drangsal. Der Sound der Band ist sehr kohärent und raffiniert – obwohl die erste gemeinsame Probe der aktuellen Besetzung gerade ein Jahr zurückliegt. Vorher waren Paul, Eric, Mike, Alex und Jona in anderen Thüringer Musikprojekten aktiv, vornehmlich im Hardcore-, Punk-, und Stonerbereich. Mamoré ist anfänglich einfach eine Spielerei für sie. Paul entwirft an der Drum-Machine ein paar Loops mit 80s-Vibe, Eric schreibt dazu Texte und interpretiert sie voller Theatralik. Obwohl die beiden nur unregelmäßig an ihrem Repertoire feilen können, beginnt das Konzept Mamoré sich seine Bahn zu brechen. Die erste Soundcloud-Veröffentlichung – »Meine Liebe nicht« – wird fünfstellig geklickt, 2021 veröffentlichen sie die erste EP beim Jenaer Label Aroma plus. Drei weitere Musiker komplettieren das Ensemble – Mamoré ist geboren. Kürzlich war NNDW-Komet Gwen Dolyn auf Mamorés Track »Melancholie« zu Gast. Die Zukunft, sie funkelt für die Jungs. Laura Gerlach

Caroozer

Caroozer

The Brewtal Truth

The Brewtal Truth

Caroozer? Was wie eine Mischung aus Caruso (Enrico) und Cruising klingt, ist seit 15 Jahren feste Größe in der Metalszene. Vielleicht steckt auch etwas anderes hinter dem Namen, der sich dann einfach im Suff vernuschelt hat. Völlig egal, die Leipziger, die Fans mit so malzig-walzigen Brettern wie »Baptized in Beer« in die Abhängigkeit stürzten, haben sich überall Freunde gemacht. Frisch gezapft reichen sie nun ihren nächsten Langspieler mit acht kurzweiligen Stücken über den Tresen. Dass sich diese Kritik krampfhaft um Bier- und Schluckmetaphern bemüht, hat seinen Grund: Das ist Caroozers Thema. Entsprechend heißt der Neuling »The Brewtal Truth«. Das Inhaltliche spielt keine große Rolle. Auch Abstinenzlern wird das Ding runtergehen wie Leinöl, sofern sie saftig-satte wie tiefhängende Gitarrenschwingungen mögen. Harter Rock’n’Roll walzt thrashig voran, klarer Shoutgesang legt sich übers meist im Metal-Midtempo gehaltene Saitengesäge. Mini-Instrumentals setzen kurze Päuschen, ganz kurze. Die Songs fügen sich zu einem Rutsch, dem es nicht um Nuancierung, sondern um zum Mitwippen ansteckende Überwältigung geht. Cruising halt. Im Fahrwasser dieser Groovemaschine werden die meisten Hard’n’Heavy-Liebhaber gern mitsuppen. Der Release-Abend verspricht aller Erfahrung nach Kopfrotieren in allen Geschwindigkeiten. Tobias Prüwer

All diese Gewalt

All diese Gewalt

Alles ist nur Übergang

All diese Gewalt

Schwellen, Passagen, Zwischenwelten – allesamt eint die Abkehr, Abweichung, das Unterwandern der Norm. Der Ethnologe Victor Turner, der sich einer Theorie des Rituals verschreibt, prägt dafür den Begriff »Liminalität«. Dieser klingt auch in der aktuellen Platte von All diese Gewalt an. Keines der zehn Stücke der neuen Veröffentlichung – »Alles ist nur Übergang« – schreit, zumindest nicht mit einer offensichtlichen Aufmüpfigkeit oder Wut. Nachdenklich, bisweilen wirr klingen und flirren Lagen von Melodien, denen sicher allerhand spannende Übergänge möglich wären. So kompakt und geclustert jedoch, wie sie ertönen, wirken sie wie wuchtige Soundwände, mehr noch, Klangräume, in denen der Gesang schwebt. Die Stimme ist selten diffus, vielmehr erhaben, denn in starker Klarheit tönen die Worte: »Ich bin transluzent« und »Ich bin das Licht«, ehe sie wieder verhallen. Mit Pathos führen sie in das Album ein und reiben sich am aufkommenden Tonnebel. Beeindruckend bedrängen die Dissonanzen, die den Song »Etwas fehlt« akzentuieren. Im Anschluss verliert sich das schnell, im Song »So leicht«: Die Melodien plätschern, darauf schillern und glitzern die Gitarrentöne. Diese schön verträumten Weiten werden von fulminantem Chorgesang komplettiert. So bleibt dieses Album im Dazwischen, insbesondere dann, wenn man nach der richtigen Genre-Schublade für All diese Gewalt sucht. Ach ja, All diese Gewalt ist Max Rieger, der längst als Teil von Die Nerven bekannt ist und auch mit Jauche und Obstler beeindruckende musikalische Gefilde schafft. Claudia Helmert

Emerson String Quartet

Emerson String Quartet

Infinite Voyage

Infinite Voyage

So wie es Debütalben gibt, gibt es auch manchmal »das« letzte Album, wie hier vom amerikanischen Emerson String Quartet, das zum Ende seiner über 45-jährigen Weltkarriere seinen Abschied mit Kompositionen von Hindemith, Chausson, Berg und Schönberg zelebriert. »Melancholie« ist Hindemiths Liederzyklus opus 13 überschrieben. Die Sopranistin Barbara Hannigan singt die Lieder nach Texten von Christian Morgenstern mit größtmöglichem Ausdruck. Ihre Stimme verschmilzt mit dem Streichquartett, betörend ihr Legato, das dieses kompositorische Juwel Hindemiths zu einem sinnlichen Ereignis werden lässt. Alban Bergs zweisätziges »Streichquartett opus 3« ist sein letztes Werk als Student von Schönberg. Das Emerson String Quartet ist in dieser Welt zu Hause. Bemerkenswert die außerordentliche Homogenität seines Quartett-Klangs. Der emotionalen Intensität und den von Berg trotz Atonalität geforderten Wohlklang und Süße werden sie voll gerecht. Sehr zart und poetisch kommt Ernest Chaussons »Chanson perpétuelle opus 37« daher, als einziges Werk dieses Albums, das deutlich noch dem 19. Jahrhundert zuzuordnen ist. Sehr anrührend der Gesang von Barbara Hannigan, die das »Ewige Lied« mit Streichquartett und Klavier schwerelos darbietet. 1907/08 schrieb Arnold Schönberg sein zweites »Streichquartett opus 10«, das als Besonderheit die Sopranstimme hinzunimmt. Die Vertonung der beiden Gedichte »Litanei« und »Entrückung« von Stefan George bildet den dritten und vierten Satz dieser hochexpressiven Aufnahme. Ein Höhepunkt ist der Urschrei des Soprans am Ende des dritten Satzes, der darum bettelt, von der Liebe erlöst zu werden. Es bleibt Hochachtung vor der Leistung dieses Streichquartetts und Freude über das in vielerlei Hinsicht überaus gelungene Abschiedsalbum. Silke Peterson

The Other Others

The Other Others

The Other Others

The Other Others

Altern in oder mit oder sogar als Popkultur bringt wohl irgendwann den Moment der Eigenreferenzentdeckung mit sich. Wenn die Spiralen der Erinnerung sich an Ausgangspunkte drehen, kann es jedoch peinlich werden in der Illusion ewiger Jugend – aber auch dialektisch cool in der wissenden Anwendung ehemals junger Methoden, Geräte, Klangkontexte. Das Leipziger Label Jahtari, seit 20 Jahren international in Dub-Erweiterung zugange und dabei schon länger stilistisch extrem offen, schafft den Bogen allerdings erwartet elegant und offeriert mit The Other Others die Ur-Zelle, das Duo Disrupt und Rootah. Das nicht zuletzt durch Berlin-Sound-Spektren um den Plattenladen Hardwax geschult war, also Kingston (auch) über Detroit wahrnahm. Zudem wirkt beim zitierenden »Zurück/Vor« die afro-karibisch-germanische Poetin und Künstlerin Jasmine Tutum mit, deren Wortwellen auf entspannt-energetischen House-Riddims über tiefer gelegte Horizonte voll »fluffy clouds« gleiten. Alexander Pehlemann

Teichmann+Soehne

Teichmann+Soehne

Flows

Flows

Die Töne schlieren langsam, hell flirrt und surrt die Musik der »Warteschleife«. So bahnt sich der Track den klangvollen Weg in die Platte »Flows« von Teichmann+Soehne. Hinter dem Familiennamen verbergen sich Uli Teichmann, der mit dem Erscheinen der Platte seinen 80. Geburtstag feiert, und seine beiden Söhne Andi und Hannes. Gemeinsam stapeln, schichten, wuchten sie Klänge zu einer beeindruckenden akustischen Assemblage aufeinander. In diesem Klangkörper verschieben sich die Melodien, reiben sich bisweilen und machen die Platte so besonders interessant. Während sich der Ältere auf Saxofon, Klarinette, Flöte, Mandoline, Glockenspiel und Percussion profiliert, loopen die Söhne den Vater – also seine Musik – und schrauben und spulen Electronics in das Klangkunstwerk, konturieren jenes mit Live-Sampling und Effekten. Die drei sammelten über zehn Jahre allerhand zumeist improvisiertes musikalisches Material. So tönen Ausschnitte und Klangfolgen, die von Anekdoten, Reisefreuden und Ereignissen zu berichten vermögen und in den vielfältigen Instrumenten und bewegenden Rhythmen resonieren. Zusammengehalten vom Kitt aus Freude am Zusammenspiel und davon, immer wieder neue Klanglandschaften durchschreiten zu wollen, ist »Flows« eine kaum zu vergleichende Hörerfahrung. Treffend ziert »Flows« eine Collage der Mutter von Hannes und Andi Teichmann, die gleich der Musik verschiedene Eindrücke und Materialien verarbeitete. Claudia Helmert

Karo Nero

Karo Nero

Zugvögel & Korallen

Zugvögel & Korallen

Das Leben schlägt mitunter verrückte Kapriolen. Etwa dann, wenn eine Band nach 25 Jahren ihr Debütalbum veröffentlicht. So geschehen vor drei Jahren im Falle des Leipziger Quartetts Karo Nero um Sänger, Gitarrist und Songschreiber Gunter Schwarz. In den Nachwendejahren war die Formation schon mal aktiv, schrieb erste Songs über die Liebe und das Leben, bevor man wieder getrennte Wege ging. Jahre später traf man sich wieder und bemerkte: Die Glut von damals lodert noch. Es folgten erste Auftritte und schließlich im Jahr 2020 jenes angesprochene Debüt, »Schwerter aus Papier«. Die jugendliche Drangsal von einst war inzwischen einer angenehm milden Lebensweisheit gewichen, die sich im chansonesken Indie-Pop spiegelte. Nun folgte vor Kurzem nach einer (im Vergleich zu einem Vierteljahrhundert) relativ kurzen Wartezeit von drei Jahren mit »Zugvögel & Korallen« der Nachfolger, der die Qualität dieser Band einmal mehr unterstreicht. Die gleichermaßen lyrischen wie melodisch-eingängigen Songs erwecken Erinnerungen an Bands wie Keimzeit, Erdmöbel oder auch Element of Crime. Das Album überzeugt in Gänze, doch ganz besonders in Erinnerung bleiben dabei balladeske Songs wie »Fast schon ein Tag«, »Keine Steine« oder das fantastische »Katapult«, die vom unnachahmlichen musikalischen Feingefühl Karo Neros zeugen. Luca Glenzer

The Rolling Stones

The Rolling Stones

Hackney Diamonds

Hackney Diamonds

Nachdem sich der Nebel des medialen Overkills, mit dem das Erscheinen der neuesten Stones-LP begleitet wurde, gelichtet hat, wird es Zeit für eine kleine Nachlese. Ja, doch, sie können es noch: Rock’n’Roll spielen. Und klar, sie haben das Fahrrad nicht neu erfunden, aber dank tatkräftiger Unterstützung durch ein prominentes All-Star-Ensemble ist ihnen noch einmal ein Werk gelungen, das mit einem Bein im vergangenen Jahrtausend und mit dem anderen in den 2020er Jahren steht. Zuallererst natürlich: Mick Jagger! Er drückt dem Album mit seiner Stimme, die unverwüstlich scheint, den entscheidenden Stempel auf. Das zeigt sich ganz deutlich in »Whole Wide World«, in dem er entgegen seiner Gewohnheit einen großartigen Text in British English singt, oder auch in »Live By The Sword«, in dem die kompletten Stones mit Elton John zu hören sind. In »Bite My Hands Off« lässt sich Paul McCartney am Bass nicht lumpen und macht ordentlich Dampf, während Charlie Watts dem Song »Mess It Up« den bekannt lässigen Stones-Swing verleiht. Höhepunkt ist zweifelsohne »Sweet Sounds Of Heaven«, in dem sich Mick Jagger ein Gesangsduell mit Lady Gaga liefert und Stevie Wonder einen erstklassigen Pianopart spielt. Und das Ganze über sieben Minuten lang. Derlei Nummern findet man im doch recht umfangreichen Stones-Katalog nicht so häufig. Einen würdigen Abschluss bildet »Rolling Stone Blues«, das doch tatsächlich nur von Mick Jagger und Keith Richards performt wird. Wirklich nur auf das Allernötigste beschränkt, spielen sie hier noch mal DEN Song von Muddy Waters, der ihrer Karriere den wichtigsten Schub gegeben hat. Einfach nur großartig! Alles in allem ist den Stones eine wunderbare und erstaunlich kompakte Platte gelungen, die das Zeug zum späten Klassiker hat. Christian Geschke

Bernadette La Hengst

Bernadette La Hengst

Visionäre Leere

Visionäre Leere

Aktuell gibt es genügend Gründe, Angst vor der Zukunft zu haben. Deshalb wäre es gerade so naheliegend wie nie, die Flinte ins Korn zu werfen und dystopische Weltuntergangsalben zu produzieren, oder aber gleich zu verstummen. Für Bernadette La Hengst kommt beides nicht in Frage. »Gib mir meine Zukunft zurück« (Mark Fisher lässt grüßen!), singt sie bereits im Opener des neuen Albums, und das mit einer Verve, wie sie nicht vielen Künstlerinnen in Deutschland gegeben ist. Es folgen fantastische Songs wie das tanzbare, von Chören gerahmte »Łužyca Du visionäre Leere«, die rührende Piano-Ballade »Sie ist wie eine Utopie« oder das aufrührerische »Allée de la Liberté«. Auffällig dabei ist, dass La Hengst im Vergleich zu ihrem bisherigen Solo-OEuvre relativ sparsam mit elektronischen Elementen hantiert. Dafür rücken mit Orgeln, Gitarren und Bläsern analoge Instrumente in den Vordergrund. Das weckt mitunter Erinnerungen an ihre einstige Stammband Die Braut haut ins Auge, mit der sie in den neunziger Jahren ihre ersten musikalischen Schritte ging und drei Alben aufnahm, die bis heute ihresgleichen suchen. Passenderweise endet »Visionäre Leere« dann auch mit dem Braut-Evergreen »Was nehm ich mit, wenn es Krieg gibt?«. Das bereits intime Original von 1995 wird hier weiter reduziert. Was bleibt, ist: ein Piano, entfernte Streicher, Bernadettes Stimme. Und natürlich ganz viel Gänsehaut. Luca Glenzer

Shirley Hurt

Shirley Hurt

Shirley Hurt

Shirley Hurt

Shirley Hurt heißt im echten Leben Sophia Ruby Katz. Fraglos würde auch ihr bürgerlicher Name bestens als Künstlername funktionieren. Leider sind zumindest Sophia und Ruby schon anderweitig in der Musikwelt vergeben. Hurt war bereits im zarten Alter von achtzehn Jahren eine rastlose Reisende. Zu dieser Zeit hatte sie schon in etwa zwanzig verschiedenen Wohnungen und Häusern gelebt, sich aber nirgends richtig zu Hause gefühlt. Inzwischen ist Toronto so etwas wie ihre Home-Base. Ihr zauberhaftes Debüt entstand gemeinsam mit dem Gitarristen Harrison Forman. Mit diesem fuhr sie sechs Monate lang im Wohnwagen durch Nordamerika. Im Anschluss nahm Kollege Joseph Shabason, der schon als Saxofonist für The War on Drugs tätig war, die Platte in seinem Studio in Toronto auf. Das Album ist ein gleichermaßen hypnotisches wie verspieltes Meisterwerk. Hurt nimmt sich das Beste aus Folk, Jazz und Americana, um ihren entschleunigten und warmen Sound zu schaffen. Sowohl ihre Stimme als auch ihre Art zu singen erinnern angenehm-auffallend an Aldous Harding, was definitiv kein Verbrechen ist, sondern durchaus als Kompliment verstanden werden darf. Kay Engelhardt