anzeige
anzeige
Archiv

»Das ist auch meine Geschichte«

Auseinandersetzung mit einem Tabu-Thema: Die Leipziger Schülerinnen Alisa Aronis und Judith Schein haben Zeitzeugen über antisemitische Auswüchse in der DDR befragt

  »Das ist auch meine Geschichte« | Auseinandersetzung mit einem Tabu-Thema: Die Leipziger Schülerinnen Alisa Aronis und Judith Schein haben Zeitzeugen über antisemitische Auswüchse in der DDR befragt

Oft wird darüber diskutiert, woher der Rechtextremismus in den neuen Bundesländern kommt. Außer acht gelassen wird dabei häufig, dass auch der Osten Deutschlands ein Teil des nationalsozialistischen Täterlandes war und wie lückenhaft sich der Staat mit dem Thema Antifaschismus auseinandersetzte. Für die Ausstellung »Das hat es bei uns nicht gegeben! – Antisemitismus in der DDR« im Schulmuseum setzten sich 76 ostdeutsche Jugendliche mit diesem Thema auseinander. Fünf Leipziger Schüler interviewten dazu Zeitzeugen und produzierten einen Film. Auf kreuzerONLINE berichten Alisa Aronis, 18, und Judith Schein, 19, über die Arbeit am Projekt, einprägsame Begegnungen mit Zeitzeugen und ihr persönliches Engagement für das Judentum.

Oft wird darüber diskutiert, woher der Rechtextremismus in den neuen Bundesländern kommt. Außer acht gelassen wird dabei häufig, dass auch der Osten Deutschlands ein Teil des nationalsozialistischen Täterlandes war und wie lückenhaft sich der Staat mit dem Thema Antifaschismus auseinandersetzte. Für die Ausstellung »Das hat es bei uns nicht gegeben! – Antisemitismus in der DDR« im Schulmuseum setzten sich 76 ostdeutsche Jugendliche mit diesem Thema auseinander. Fünf Leipziger Schüler interviewten dazu Zeitzeugen und produzierten einen Film. Auf kreuzerONLINE berichten Alisa Aronis, 18, und Judith Schein, 19, über die Arbeit am Projekt, einprägsame Begegnungen mit Zeitzeugen und ihr persönliches Engagement für das Judentum.

kreuzerONLINE: Wie seid ihr auf das Projekt gestoßen?

JUDITH: Ich habe vorher schon bei einem Projekt im Schulmuseum mitgearbeitet. Man hat mich gefragt, ob ich an einem neuen mitarbeiten möchte. Da habe ich sofort zugesagt, denn ich wollte etwas neben der Schule machen. Nichts Sportliches, sondern eher etwas Kulturelles.

ALISA: Die Judith hat mich darauf angesprochen. Ich bin außerdem seit fünf Jahren in der Jüdischen Gemeinde, deshalb ist das auch meine Geschichte. Ich komme aus der Ukraine und dachte mir, wenn ich in ein neues Land komme, möchte ich wissen, was hier vor 30 oder 60 Jahren passiert ist.

kreuzerONLINE: Das Thema Antisemitismus in der DDR ist nicht so geläufig und wird auch in der Schule nicht thematisiert. Wusstet ihr vorher mehr darüber?

JUDITH: Uns war bekannt, dass man am besten atheistisch leben sollte. Aber direkt mit Antisemitismus habe ich mich vorher nicht wirklich beschäftigt.

ALISA: Ich habe schon meine Eltern ein bisschen ausgefragt. In der Ukraine, beziehungsweise in der ehemaligen Sowjetunion, gab es Antisemitismus definitiv. Daher hatte ich die Vermutung, dass es das in der DDR auch gab.

kreuzerONLINE: Wie sahen eure Recherchen aus?

JUDITH: Die Projektleiterin Cornelia Müller hat uns da sehr geholfen. Wir waren im LVZ-Archiv, bekamen eine Führung durchs Stasi-Museum und durften dort einige Akten anschauen.

Alisa Aronis: »Stichwortzettel voller Vorurteile«
ALISA: Wir haben überlegt, welche Leute aussagekräftig sein könnten. Schade war, dass viele, die etwas zu dem Thema erzählen konnten, entweder zu alt waren oder nicht mehr mit dem Thema konfrontiert werden wollten.

JUDITH: Und bevor wir in die Interviews gegangen sind, haben wir uns mit dem Leben unserer Interviewpartner beschäftigt. Elke Urban vom Schulmuseum besitzt sehr viele Kontakte und hat uns die Interviewpartner vermittelt.

kreuzerONLINE: Wie viel Zeit habt ihr in das Projekt investiert?

JUDITH: Etwa ein Jahr. Manchmal haben wir uns sehr oft getroffen, manchmal einen Monat lang gar nicht. Das war nicht so schlimm, weil es in der Schulzeit ziemlich anstrengend war, nachmittags um vier bei einem Interview zu sitzen.

kreuzerONLINE: Hattet ihr professionelle Unterstützung?

JUDITH: Nein. Ein Freund von mir hat den Film geschnitten.

ALISA: Alles war mehr oder weniger Hobby. Das heißt, das waren keine dafür ausgebildeten Leute, nur welche von uns, die das gut können.

kreuzerONLINE: Gibt es einen Interviewpartner, der euch besonders in Erinnerung geblieben ist?

JUDITH: Herr Bachmann, denke ich. Er hat in der DDR bei der LVZ gearbeitet und miterlebt, wie sein Vorgesetzer, Herr Schrecker, der jüdische Wurzeln hatte, auf einmal weg war. Im Zuge des Slansky-Prozesses* wurde er verhaftet. Alles geschah geheim, man vertuschte sein Verschwinden. Auch Herr Bachmann als Mitarbeiter bekam nur langsam heraus, warum sein Vorgesetzter seines Postens enthoben wurde.

ALISA: Das war mit einer der schlimmsten Vorfälle in der DDR.

JUDITH: Ich habe auch meinen Papa über meinen Opa ausgefragt. Der war mit Erich Zeigner unterwegs und stellvertretender Bürgermeister in Leipzig. Im Zuge des Slansky-Prozesses wurde auch er gekündigt.

ALISA: Ich kann mir auch vorstellen, dass es noch schlimmere Vorfälle gab. Es gab wohl Spitzel in der Jüdischen Gemeinde. Sie wurde immer überwacht. Die haben aufgepasst, dass die Gemeinde nicht zu groß wurde. Die Familie Arndt hat viele Probleme gehabt. Ich denke, viele haben Antisemitismus einfach nicht mitbekommen, da sie selbst nicht betroffen waren. Alles geschah relativ geheim.

kreuzerONLINE: Judith, du trägst einen goldenen Davidstern. Erst seit dem Projekt?

JUDITH: Nein, den habe ich vor ein paar Jahren von meinem Vater geschenkt bekommen, weil mein Opa Jude war.

kreuzerONLINE: Also seid ihr beide persönlich mit dem Thema verbunden? Spielte das bei eurer Arbeit eine Rolle?

ALISA: Bei mir schon. Ein Freund von mir meinte: »Vor 60 Jahren hättest du genauso an der Reihe sein können.« Das stimmt. Da erst hatte ich das für mich selbst realisiert. Wenn ich heute sehe, wie sich die NPD weiter entwickelt, habe ich manchmal schon Angst vor der Zukunft. Es ist nur so ein Gedanke in die Richtung: was wäre, wenn ... und das erschreckt.

JUDITH: Herr Bachmann hat mal im Interview gesagt, er wollte nach 1945 in die Jüdische Gemeinde eintreten und sich nachträglich beschneiden lassen. Da hat jedoch der Rabbiner einer liberalen Synagoge gemeint: »Lass das, lebe jüdisch, hilf jüdisch. Gott schaut nicht zuerst in die Hose, sondern ins Herz.« Das ist auch für mich total wahr.

kreuzerONLINE: Habt ihr persönlich Diskriminierung gegenüber Religionen oder Nationalitäten erlebt?

ALISA: Ich habe das Gefühl, dass viele mit einem ganzen Stichwortzettel voller Vorurteile ankommen, wenn sie einer anderen Nationalität oder Religion begegnen. Oft werden die sofort rausgeholt und nach und nach abgehakt. Das ist irgendwie krank.

Judith Schein: Davidstern als Geschenk
JUDITH: Ich frage mich auch deshalb, ob man sich in der Mittelschule in der 9. Klasse jetzt wirklich zwischen Geografie und Geschichte entscheiden kann. Das fände ich wirklich schlecht, denn da wird gerade in Geschichte der Nationalsozialismus behandelt. Abgesehen davon, werden die Juden in der Schule nie direkt thematisiert.

ALISA: Man muss doch ein bisschen Ahnung haben.

kreuzerONLINE: Was hat euch das Projekt persönlich gebracht?

ALISA: Ich habe verschiedene Menschen kennen gelernt. Verschiedene Einzelschicksale. Ich habe Dinge erfahren, die vor Jahrzehnten passiert sind. Ich habe besser verstanden, wie die Leute in der DDR gedacht haben. Wie die ganze Entwicklung nach 1945 war.

kreuzerONLINE: Wie geht es jetzt weiter bei euch?

JUDITH: Ich würde mich für die Jüdische Gemeinde intern interessieren.

ALISA: Ich würde gerne das Projekt weiterführen, also noch andere Menschen interviewen. Außerdem möchte ich neben der Schule in der Jugendarbeit der Jüdischen Gemeinde mitarbeiten. Darüber hinaus würde ich versuchen, mehr Kontakt nach außen herzustellen. Wenn Interesse da ist, kann das mit Tradition oder Geschichte zu tun haben. Denn es gibt in Leipzig schon einige Orte, an denen man jüdische Geschichte erfahren kann, zum Beispiel das Kroch- Hochhaus am Augustusplatz. Da steht nur eine ganz kleine Tafel davor. Wenn man da vorbeiläuft, dann fällt das kaum auf. Solche jüdischen Orte müssten wirklich präsenter werden.

JUDITH: Ich finde es auch wichtig, dass es Projekte wie die Jüdische Woche gibt.

kreuzerONLINE: Würdet ihr anderen Schülern empfehlen, an einem ähnlichen Projekt teilzunehmen?

ALISA: Ja, denn man könnte viele Fehler einfach vermeiden, wenn man die ältere Generation mehr fragt. Es ist doch interessant, was sie für Erfahrungen gemacht hat. Klar denken viele Jugendliche, es ist langweilig, was die Eltern erlebt haben, aber das stimmt nicht. Man bekommt dadurch doch ein richtiges Gefühl von der Zeit damals.


Kommentieren


0 Kommentar(e)