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Unser Mann in Havanna

Wer Freunde hat, braucht keine Korrespondenten mehr

  Unser Mann in Havanna | Wer Freunde hat, braucht keine Korrespondenten mehr

Ich habe Freunde, von deren Leben ich zurzeit nur das erfahre, was im Internet steht. Sie sind nicht prominent, sie bloggen. Sie sind auch keine Narzissten oder geltungssüchtig, sondern schlicht bequem. Für ein paar Monate sind sie im Ausland und müssen mit allen, denen sie das versprochen haben, in Verbindung bleiben. In den vergangenen drei Semestern lebten Freunde von mir auf vier verschiedenen Kontinenten.

Ich habe Freunde, von deren Leben ich zurzeit nur das erfahre, was im Internet steht. Sie sind nicht prominent, sie bloggen. Sie sind auch keine Narzissten oder geltungssüchtig, sondern schlicht bequem. Für ein paar Monate sind sie im Ausland und müssen mit allen, denen sie das versprochen haben, in Verbindung bleiben. In den vergangenen drei Semestern lebten Freunde von mir auf vier verschiedenen Kontinenten. Sie berichteten regelmäßig von sich und ihrem inneren und äußeren Leben. Ich erfuhr mehr über sie als vorher, als wir noch in einer Stadt wohnten. Sie schrieben Blogs, eröffneten Bildergalerien bei flickr oder schickten seitenlange Berichte an mein Postfach. Ich unterhalte ein eigenes Korrespondentennetz. Das ZDF hat in Afrika zwei feste Korrespondenten südlich von Kairo. 2005 hatte ich die auch.

Blogs und „citizen journalism" sind gerade ein Aufreger bei Medientheoretikern, die sich in schmutziggelben Sakkos in MDR-Talkshows als die jüngere Generation vorstellen und dabei so zuversichtlich gucken, als würden sie jetzt alles noch mal neu aufrollen. Blogs würden eine Gegenöffentlichkeit schaffen, sagen sie, und die alten Medien an den Rand der Überflüssigkeit führen. Ich weiß nicht genau, woher das kommt, aber wenn ich dieser jüngeren Generation zuhöre, zuckt manchmal mein linkes Augenlid. Es gibt solche Blogs, in Deutschland wahrscheinlich bis zu drei. Meine Freunde schaffen online keine Gegenöffentlichkeit, sie notieren bloß. Sie erzählen ausschließlich aus ihrem eigenen Leben, nicht aus dem Leben anderer, die sie dazu nicht aufgefordert haben. So gesehen sind sie Schriftsteller.

Als ich vor einer Weile den Berliner Schriftsteller Jochen Schmidt in einem Interview gefragt habe, warum er sich eigentlich wie ein Wahnsinniger ständig alles notiert, was um ihn herum geschieht, hat er gesagt, dass das eigentlich jeder machen sollte, ob nun Autor oder nicht. Man würde immer alles einfach so vorbei gehen lassen und sein eigenes Leben für bedeutungslos halten. Die Behauptung, im eigenen Leben würde nichts passieren, halte er für dreist. Wirklich bemerken könne man nur das, was man aufschreibt. Wenn ich die Texte meiner reisenden Freunde lese, denke ich ziemlich häufig daran.

Viele hoffen, dass sie aus dem Ausland als neuer Mensch zurückkommen. Manchen gelingt das sogar. Möglicherweise liegt das nicht an dem Land, sondern an dem Zwang, aufzuschreiben, was passiert. P. zum Beispiel soll ziemlich deprimiert gewesen sein, bevor er mit dem festen Entschluss, Schafe zu hüten, nach Island gegangen ist. Island ist in etwa das ereignisloseste Land, das man sich vorstellen kann, gelegen zwischen den Färöer-Inseln und Grönland. Seitdem er auf der Insel ist, erzählt P. seinem Verteiler seitenlang, dass nichts passiert. Vor kurzem hat er vom wohl einsamsten Schwimmbad der Welt berichtet, es habe Meerblick. Ich wusste gar nicht, dass er schreiben kann, aber die Texte lesen sich, als ginge es ihm besser.


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