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Kultur

»Subversive Machenschaften«

Das Leipziger Dokfilmfestival feiert seinen 50. Jahrgang. Doch der Rückblick gibt nicht nur Anlass zur Freude

  »Subversive Machenschaften« | Das Leipziger Dokfilmfestival feiert seinen 50. Jahrgang. Doch der Rückblick gibt nicht nur Anlass zur Freude

1965 war eine jener Leipziger Dokfilmwochen, die legendär geworden sind. Damals schienen die Gespräche um ein einziges Thema zu kreisen: Michail Romms »Der gewöhnliche Faschismus«. Der sowjetische Wettbewerbsbeitrag begeisterte die Kritiker wie auch das Publikum als messerscharfe und facettenreiche Analyse des Nationalsozialismus.

1965 war eine jener Leipziger Dokfilmwochen, die legendär geworden sind. Damals schienen die Gespräche um ein einziges Thema zu kreisen: Michail Romms »Der gewöhnliche Faschismus«. Der sowjetische Wettbewerbsbeitrag begeisterte die Kritiker wie auch das Publikum als messerscharfe und facettenreiche Analyse des Nationalsozialismus. Eine ruhige, sachliche Erzählerstimme, die Raum zum Nachdenken gibt, kommentiert die Bilder des Schreckens, aber auch den Schrecken der Bilder. Romm seziert in seiner Aufbereitung des nationalsozialistischen Propagandamaterials die Mechanismen medialer Manipulation, die personelle Glorifizierung der Obrigkeiten und die Entindividualisierung in der Masse, auf der das totalitäre System gedeihen konnte.

Der Film passte damit perfekt zum Antlitz dieses Filmfestes, das als Staatsveranstaltung mit dem Motto »Filme der Welt – für den Frieden der Welt« Faschismus und Imperialismus eine Kampfansage machte. Entsprechend fehlt auch am Ende von »Der gewöhnliche Faschismus« nicht die obligatorische Überleitung zu amerikanischen und westdeutschen NATO-Soldaten. Dennoch diskutierte man über etwas anderes. Könne man zwischen den Zeilen dieses Films nicht noch etwas Weiteres lesen? Hätte neben Hitler und Mussolini nicht genauso gut Stalin als Schmierenkomödiant erscheinen können? Ließen sich die totalitären Strukturen nicht auch abgeschwächt auf Sowjetunion und DDR übertragen?

Michail Romm gewann den Sonderpreis der Internationalen Jury. Dennoch verschwand sein Film nach wenigen Vorstellungen aus den Kinos der DDR, und sein Drehbuch wurde trotz jahrelanger Bemühungen nicht publiziert. Mit dieser Ambivalenz eines offiziellen und inoffiziellen Erscheinungsbildes erzählt Romms Meisterwerk zugleich noch eine dritte Geschichte: die des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm, das nach nunmehr 52 Jahren zum 50. Mal stattfindet.

Reichlich Grund zur Freude: DOK Leipzig ist Deutschlands größtes Dokumentar- und zweitgrößtes Animationsfilmfestival. In Leipzig ist es fest verwurzelt und international genießt es hohes Renommee. Seit Festivaldirektor Claas Danielsen vor vier Jahren das Zepter übernahm, baut er das Festival kontinuierlich zum Branchentreff aus. Im Kern aber gibt es sich immer noch politisch – ein Markenzeichen dieses janusköpfigen Festivals, das gerade politisch auch leider häufig seine Fratze zeigte.

Bereits die »I. Gesamtdeutsche Kultur- und Dokumentarfilmwoche Leipzig« 1955, die auf Initiative des Clubs der Filmschaffenden in der DDR entstand, verfolgte ein klares politisches Ziel: den deutsch-deutschen Filmaustausch. Als Pendant zum Filmfest in Mannheim wollte man ungehindert das DEFA-Angebot zeigen können. Als Gastgeber fungierte die Stadt Leipzig. Themen waren »Unsere schöne deutsche Heimat«, »Filme im Dienst der Völkerverständigung« und »Puppen- und Zeichentrickfilme«. Zu den Gewinnern der ersten Stunde zählte der Tierfilmer Heinz Sielmann für »Zimmerleute des Waldes«.

Doch schon im Jahr wurden aus politischen Gründen auch schwache Filme gezeigt. Das Ergebnis war eine Blamage. Die Welt und das Neue Deutschland vergaben in einer gemeinsamen Aktion »Gesamtdeutsche Gartenzwerge ersten, zweiten und dritten Grades«.

Die Gründe, weshalb das Festival in den drei Jahre darauf ausfiel, waren ganz unterschiedliche. Vor allem hatte das veränderte politische Klima durch NATO-Beitritt und Warschauer Pakt, Hallstein-Doktrin und Berlin-Krise das gesamtdeutsche Konzept obsolet gemacht.

Erst 1960 konnte das Festival mit neuer internationaler Ausrichtung zum dritten Mal stattfinden – nicht zuletzt, weil in Mannheim mehrere DEFA-Filme ausgeladen wurden. Die Dokfilmwoche zeigte sich nunmehr weniger banal. Die erste Retrospektive galt dem unbequemen sowjetischen Dokumentarfilmpionier Dziga Vertov, und namhafte Dokumentaristen wie Joris Ivens, Alberto Cavalcanti und Theodor Christensen reisten an.

Film läuft: Festivalalltag in Leipzig
Das neu gewonnene Festivalpotenzial machte sich die Regierung im folgenden Jahr zunutze. Durch den Mauerbau sah sich die DDR gezwungen, Weltoffenheit zu demonstrieren. In einer späteren Konzeption hieß es: »Als außenpolitisches Ereignis internationalen Charakters auf dem Boden der DDR muss die Internationale Dokumentar- und Kurzfilmwoche das internationale Ansehen der DDR steigern ... Sie hat damit eine ausgesprochen außenpolitische Funktion zu erfüllen.« Die Handlanger dieses Plans sollten ausgerechnet die Filmemacher sein. Kein Wunder, dass die beiden Interessenslager dabei oftmals heftig aufeinanderprallten.

Die staatliche Anbindung öffnete den finanziellen Spielraum und schrumpfte den künstlerischen zusammen. Fortan kümmerte sich eine Parteigruppe um die Linientreue des Programms. Zensur und Verbote waren die Regel.

Untergründig entwickelten sich aber auch Gegenstrategien. Als etwa 1967 Jürgen Böttchers »Der Sekretär« überraschend verboten wurde, zeigte ihn der Filmclub Leipzig heimlich im Festivalkino Casino. Der ehemalige Casino-Leiter und spätere Festivaldirektor Fred Gehler erinnert sich: »Wir hatten es publik gemacht, Genosse Gerücht half, die Vorstellung war übervoll, internationale Prominenz zuhauf, der Festivaldirektor erfuhr es zu spät, sah sich in Erklärungsnot. Kurzum: ein weiterer Fall von subversiven Machenschaften.« Andere verbotene Filme zeigte man in kleinen nichtöffentlichen Trade-Shows.

Es waren Momente wie diese abseits des offiziellen Staatsfestivals, die die Dokfilmwoche für Filmemacher, Journalisten aus dem Westen und andere so bedeutsam machten. Entsprechend fanden die wirklich interessanten Gespräche nicht etwa auf dem Eröffnungsempfang mit dem zur Schau gestellten Buffet samt Südfrüchten statt, sondern des Nachts bei Flockenbrühe in den Mitropa-Restaurants des Hauptbahnhofs. »Zwischen schlafenden und flüchtigen Reisenden ließen sie sich gut besprechen, die Dinge des Lebens und die Dinge des Dokumentarfilms«, erinnert sich der Dokumentarist Volker Koepp.

1968 kam es zum großen Eklat. Festivaldirektor Wolfgang Harkenthal hatte Order für einen störungsfreien Ablauf bekommen. Verboten wurden Filme und Diskussionen zur gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings, zum als abtrünnig geltenden China, zu den lateinamerikanischen Befreiungskämpfen, Studentenrevolten und Barrikadenkämpfen in Paris. So wurde das aktuelle Zeitgeschehen von der CSSR bis Frankreich einfach komplett ausgeblendet. Drei Dutzend Festivalteilnehmer gaben daraufhin eine schriftliche Erklärung ab. Sie forderten die Wiederherstellung des Diskussionsforums und eine öffentliche Projektion aller Filme. Es herrschte eine unheimliche Atmosphäre in diesen Tagen, die Stasi war im Dauereinsatz, in den Seitenstraßen standen Wasserwerfer. Harkenthals Antwort: »Wenn es Ihnen hier nicht gefällt, können Sie abfahren.« Die Sache war vom Tisch.

Ähnlich ging es 1976 nach der Biermann-Ausbürgerung zu. Statt einer Stellungnahme gab es verordnetes Schweigen – eine mulmige Beklommenheit machte sich breit.

Andererseits hatte das Festival immer wieder Farbe bekannt, wenn es um die politische Weltlage ging. Dabei waren die Solidaritätsbekundungen wie die mit Nordvietnam keineswegs gespielt. 1966 gab es sogar eine Blutspendenaktion, fürs Krisengebiet wurde Filmmaterial gestiftet, und studentische Solidaritätsbasare gehörten zu jedem Festival.

Nach Vietnam folgte Chile, die Unterstützung für Salvador Allende, vor allem aber der Protest nach dessen Sturz. So geriet die Dokwoche 1973 quasi zum reinen Chile-Festival. Darüber hinaus galt Leipzig immer auch als Sprachrohr für die Nöte der Dritten Welt oder die der Palästinenser.

Pikant war das Verhältnis zum sowjetischen Film. Neben großen Überraschungen bot er sich häufig als reinste, schlecht gemachte Propaganda dar. Der Grund dafür war das »Prinzip der Selbstnominierung«, wodurch die Sowjetunion in den 70ern ihre Filme selbst auswählen durfte. Nicht schlecht staunte Festivaldirektor Ronald Trisch 1977, als ein Vertreter der sowjetischen Delegation ihn sogar fragte, welchen Preis denn der Film über Leonid Breshnew erhalte. Doch das war auch in Leipzig Angelegenheit der Jury. Der Film lief sowieso nicht im Wettbewerb – am Ende erhielt er dennoch eine Goldene Taube. 1987 schwappte aus dem Bruderland wiederum eine Welle von Perestroika-Filmen herüber als wunderschöne Vorboten der friedlichen Revolution.

Plötzlich war alles anders. Alles möglich. Wenige Tage nach dem Mauerfall holte das Festival spontan viele Filme ins Programm, die erst in den letzten Wochen entstanden waren. Noch nie war die Dokwoche so nah dran gewesen am Zeitgeschehen. Aber ihre Zukunft war ungeklärt, sowohl organisatorisch als auch inhaltlich.

Vor allem um Ersteres kümmerte sich bis 1993 Christiane Mückenberger. Die Babelsberger Filmwissenschaftlerin, die einstmals vom Festival und ihrer Dozentur vertrieben wurde, rettete nun die Dokfilmwoche in die Marktwirtschaft. Danach war es Fred Gehler, der seine prägenden Spuren hinterließ. 1995 verhalf er mit Otto Alder der Animation zu einem eigenständigen Programm und Wettbewerb. Zugleich schärfte Gehler die Konturen der Dokwoche als internationales Festival mit hohem künstlerischem und politischem Anspruch.

Sein Nachfolger Claas Danielsen gilt als nicht unumstrittener Modernisierer, indem er das Festival für die Branche öffnet. Seine Argumentation: Damit die künstlerisch besten Filme und ihre Macher nach Leipzig kommen, muss Leipzig das beste Festival sein, also auch eine filmwirtschaftliche Relevanz besitzen. Dagegen sehen die Puristen durch den Markt die Kunst bedroht. Gerade in diesem Wiederspruch zeigt sich ein weiteres Paradox, das den Modernisierer Danielsen zum großen Traditionalisten machen könnte.

Die Dokfilmwoche war immer ein politisches Festival: engagiert gegen die Ungerechtigkeiten in der Welt und zugleich staatlich indoktriniert. Politisch zeigte es sich aber ebenso im Kampf um die eigene Souveränität, wobei die Helden nicht unbedingt die Offiziellen waren, sondern eher die vielen Freigeister der „subversiven Machenschaften“. Es wäre naiv zu glauben, das Festival sei heut von allen Zwängen befreit – nur wichen die politischen den pekuniären. Den Organisatoren von heute wünscht man dieselbe Leidenschaft, die die Dokfilmwoche ganz inoffiziell seit über 50 Jahren auszeichnet.


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