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Kultur

»Erster Autor der Globalisierung«

Der Leipziger Anglist Elmar Schenkel legt zu Joseph Conrads 150. Geburtstag eine neue Biografie vor

  »Erster Autor der Globalisierung« | Der Leipziger Anglist Elmar Schenkel legt zu Joseph Conrads 150. Geburtstag eine neue Biografie vor

Joseph Conrad (1857–1924) wurde als Józef Teodor Konrad Korzeniowski im polnisch-ukrainischen Berdyczów geboren. Als Seefahrer bereiste er die ganze Welt und verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in England. Er gilt als einer der bedeutendsten Erzähler englischer Sprache.

Joseph Conrad (1857–1924) wurde als Józef Teodor Konrad Korzeniowski im polnisch-ukrainischen Berdyczów geboren. Als Seefahrer bereiste er die ganze Welt und verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in England. Er gilt als einer der bedeutendsten Erzähler englischer Sprache. Elmar Schenkel ist Professor für englische Literatur an der Universität Leipzig. Zuletzt erschien von ihm »Die elektrische Himmelsleiter. Exzentriker und Visionäre in den Wissenschaften«.

KREUZER: Der deutsche Professor, heißt es oft, komme über die Lehre und den ganzen Verwaltungskram, den er zu bewältigen hat, hinaus heutzutage überhaupt nicht mehr zum Bücherschreiben. Sie offenbar schon. Wie kriegen Sie das hin? ELMAR SCHENKEL: Keine Ahnung. Auch ich habe weiß Gott genug Hausarbeiten zu korrigieren. Aber wenn man nebenher schreibt, wird man tatsächlich mitunter schief angesehen. Eigentlich hat man die Zeit nicht, dürfte sie nicht haben. Bei Sachen, die mir Spaß machen, geht das aber doch irgendwie. Und Sie dürfen nicht vergessen: Ich habe immerhin fünf Jahre an dem Buch gearbeitet.

KREUZER: In Ihrer Conrad-Biografie haken Sie nicht einfach Lebensstationen ab, Sie beginnen mit Conrads Reise in seine alte Heimat Polen im Jahre 1914. Das Buch liest sich eher literarisch als literaturwissenschaftlich. SCHENKEL: Freut mich, wenn es so rüberkommt. Das ist nämlich tatsächlich der Fall. Ich habe mich beim Schreiben gefragt: Wenn ich einem fremden Menschen gegenübersitze, wie möchte ich den kennenlernen? Ich möchte ihn nicht kennenlernen, indem er mir erzählt, wo seine Eltern herkommen und welche Schule er besucht hat. Ich möchte erst einmal hören, was er erlebt hat. Dann fängt er an, mich zu interessieren. Dann frage ich nach, und irgendwann interessieren mich dann sogar seine Eltern. So ist das Buch aus einer Art innerem Gespräch entstanden.

KREUZER: Was für eine Rolle spielte dabei das Reisen? In Ihrem Buch teilt sich eine große Begeisterung für das Reisen mit. SCHENKEL: Das Reisen war für mich beim Schreiben sehr wichtig. Ich habe mir die Ukraine angeschaut, Marseille, Amsterdam. Auch wenn es nur eine Mücke war, die mich da gestochen hat – und Conrad hat geschrieben, als Kind hätten ihn dort die Mücken gestochen. Da ist schon mindestens die Illusion einer Nähe. Conrad hat mir wahnsinnig viel eröffnet, allein schon geografisch. Von Afrika bis Südostasien. Aber natürlich auch inhaltlich: Kolonialismus, Postkolonialismus, vor allem die polnische Kultur. Da war Conrad ein großes Erlebnis.

KREUZER: Warum muss man Conrad heute lesen? Worin besteht seine Aktualität? SCHENKEL: Denken Sie an »Der Geheimagent«, der vom Terrorismus handelt. Beunruhigend, wie nah Conrad sich an reale Ereignisse vorgetastet hat. Und überhaupt die Globalisierung. Vielleicht ist Conrad der erste Autor, der das Thema so für sich fiktional erarbeitet hat. »Nostromo« ist für mich der erste große Roman der Globalisierung.

Buchcoverausschnitt
KREUZER: Von den Deutschen hat Conrad nicht viel gehalten. Umgekehrt ist er bei uns immer sehr geschätzt und viel gelesen worden, gerade auch in der DDR. Wie kommt das? SCHENKEL: Das könnten Sie auch die Franzosen, Italiener oder Schweden fragen. Conrad wird fast überall gelesen, insofern ist Deutschland da nichts Besonderes. Aber wir legen natürlich unser deutsches Profil auf so eine Frage, und wir finden dann viel bei Conrad wieder, zum Beispiel die innere Emigration in der Nazizeit, aber auch in der DDR. In Systemen, die Emigrationen hervorrufen, ist Conrad gefragt, weil er selbst ein Emigrant war und aus dieser Situation heraus geschrieben hat. Auch wo es um Schuld geht wie bei »Lord Jim«, Schuld, die einen bis ans Lebensende verfolgt, die einen lähmt. Das ist auch ein zutiefst deutsches Thema.

KREUZER: War Conrads Entscheidung, auf Englisch zu schreiben, auch eine Art Emigration? SCHENKEL: Dieser Entschluss war natürlich fundamental. Man hat ihm vorgeworfen, er habe das Polnische verraten. Aber er selbst hat gesagt, nicht er habe die englische Sprache gewählt, sondern sie habe ihn ergriffen. Gleichzeitig war es eine Sprache, die weltweit gelesen wurde, in einem riesigen Empire – anders als seine Muttersprache, die Sprache eines Landes, das damals gar nicht existierte. Da hätte er für eine Minderheit in einer Diaspora geschrieben. Durch seinen Vater, der Shakespeare ins Polnische übersetzt hat, fühlte er sich außerdem von der englischen Kultur angezogen. Wahrscheinlich war es keine bewusste Entscheidung, aber so ist es dann im Rückblick zu lesen. Conrad konnte auch vorzüglich Französisch, er hätte auch auf Französisch schreiben können.

KREUZER: Welche Leseempfehlung würden Sie einem Einsteiger geben, der nun neugierig auf Joseph Conrad geworden ist? SCHENKEL: Wer noch gar nichts gelesen hat, sollte mit »Herz der Finsternis« anfangen. Danach würde ich »Ein Lächeln des Glücks« empfehlen, gar nicht so sehr den typischen Seefahrer-Conrad. Aber dann muss man natürlich auch »Taifun« und »Lord Jim« lesen.


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