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Zürichblog – Die dritte Woche

Immer donnerstags – der »Zürichblog« von Felix Stephan. Teil 3: »Die sexuellen Neurosen unserer Eltern« und wie es nicht dazu kam

  Zürichblog – Die dritte Woche | Immer donnerstags – der »Zürichblog« von Felix Stephan. Teil 3: »Die sexuellen Neurosen unserer Eltern« und wie es nicht dazu kam

Eigentlich studiert Felix Stephan Journalistik und Germanistik in Leipzig. Er ist aber auch literarisch gut unterwegs, sein erster Roman schlummert noch in den Schubladen diverser Verlage. Seit Mitte Februar verbringt Felix ein Erasmus-Semester in Zürich. Von dort berichtet er von nun an jeden Donnerstag im »Zürichblog« auf kreuzerONLINE aus seinem neuen Leben.

Eigentlich studiert Felix Stephan Journalistik und Germanistik in Leipzig. Er ist aber auch literarisch gut unter- wegs, sein erster Roman schlummert noch in den Schubladen diverser Verlage. Seit Mitte Februar verbringt Felix ein Erasmus-Semester in Zürich. Von dort berichtet er von nun an jeden Donnerstag im »Zürichblog« auf kreuzerONLINE aus seinem neuen Leben.

Teil 3: »Die sexuellen Neurosen unserer Eltern« und wie es nicht dazu kam

Vor ein paar Tagen wollte ich mir »Die sexuellen Neurosen unserer Eltern« von Lukas Bärfuss ansehen, weil der Titel über ein Possessivpronomen verfügt und vor allem, weil ich es mir hätte leisten können. Das Stück wird von Regie-Studenten inszeniert und von Schauspiel-Studenten aufgeführt, deshalb kostet es nur fünf Franken. Im Publikum sitzen wahrscheinlich auch nur Studenten, nehme ich mal an, bestimmt alles Geisteswissenschaftler. Wer keinen Ingenieur treffen möchte, sollte ins Zürcher »Theater der Künste« gehen, davon bin ich überzeugt. Ich stellte mir vor, dass nur Germanisten, Theater- und Kulturwissenschaftler und solche Leute in den Reihen saßen und darüber sprachen, dass es ja gerade unsere Sinne seien, die zwischen uns und der Realität stünden, wenn man Ernst Cassirer folgt. Man könnte bestimmt von hinten in den Raum fragen, wer das noch mal war, der damals eleos und phobos bewusst falsch übersetzt hat, man habe hier gerade eine Wette laufen, und fast jeder wüsste es. Junge Menschen, die sich und Lesen sexy finden. Während der Vorstellung würde Bier getrunken und vielleicht geraucht und es gäbe hier und da kennerhafte Ohos aus dem Publikum. Man fände Jonathan Safran Foer gut und Berlin aufregend. Lauter exzessfeindliche, popbürgerliche Trend-Bescheidwisser, könnte man vielleicht sagen. Es wäre zu kalt oder zu heiß, zu eng oder zu feucht und die Mädchen hätten gelbe Lackschuhe und blaue Strumpfhosen an. Es gab haufenweise Strumpfhosen im Publikum, soviel war klar.

So stellte ich mir das jedenfalls vor, vielleicht war es ja ganz anders. Ich habe das Theater lange nicht gefunden und als ich dann dort war, kam ich nicht mehr rein. An der porösen Wand hing ein Schild: »Umbesetzung wegen Krankheit. Die Rolle der Dora spielt heute Julia Schneider« und die ganze Situation hat mich insgesamt sehr gestört. Diese Julia Schneider war bestimmt reizend in der Rolle und sie hätte manchmal den Text vergessen und die anderen hätten ihr helfen müssen, woraus das Ensemble dann so einen zuversichtlichen Studenten-Slapstick gemacht hätte. Es war unvorstellbar, was ich gerade alles verpasste. Ich war sehr wütend und habe mit dem rechten Fuß auf den Boden gestampft und »Scheißescheiße« gesagt, was ich sonst gar nicht von mir kenne. Bis heute weiß ich nicht, warum mich das so aufgeregt hat, aber ich stand vor der verschlossenen Tür, hörte plötzlich Applaus von drinnen und hätte mein Leben im Jenseits verpfändet, um in das Theater zu kommen, wenn mir jemand dieses Angebot gemacht hätte. Um mich zu beruhigen, habe ich einen kleinen Ast mit dem Vorsatz aufgehoben, ihn zu zerbrechen und dann energisch gegen die Theaterwand zu werfen. Er war aber ziemlich zäh, so dass das ich ihn bog und drehte und letztlich schwer atmend aufgab. Ich sagte mit fester Stimme: »Okay, Ast, das bleibt unter uns.« und legte ihn wieder auf den Boden.

Schweizer Nationalstolz
Danach fing es an zu regnen, was jetzt wirklich überhaupt kein mittelmäßiges Symbol sein soll, sondern es fing wirklich an zu regnen. Ich bin zu einem kleinen Supermarkt gegangen, der von einigen Indern betrieben wird, und habe mir eine Büchse Heineken-Bier gekauft. An der Kasse wollte ich dann mit dem indischen Verkäufer ein Gespräch anfangen, aber er sprach Zürcher Schweizerdeutsch mit indischem Akzent oder andersrum und hatte auch sonst überhaupt kein Interesse an mir. Ich war sicher nicht der erste, der mit klebrigen Haaren und einer Büchse Bier in seinem Laden stand und sich mit ihm anfreunden wollte und das gab er mir auch zu verstehen. Ich stellte mich unter ein beleuchtetes Schild, auf dem stand: »DIE SONNE SCHIEN, WEIL SIE KEINE WAHL HATTE, AUF NICHTS NEUES. S. BECKETT« und fand mich so deprimierend, dass ich meinen Freund Daniel anrief, der in Freiburg bei einer Tageszeitung arbeitet. Ich schlug vor, in den Tessin zu fahren, weil dort bereits Sommer ist, aber das war ihm zu weit, was ich schnell einsah. Wir machten aus, uns am nächsten Morgen in Basel zu treffen und in diese Action-Painting-Ausstellung zu gehen, die das Museum der Fondation Beyeler gerade mit großem Werbeaufwand veranstaltete. Wir verabredeten uns ziemlich früh am Schweizer Hauptbahnhof von Basel und ich war erleichtert, dass ich einen Grund hatte, früh ins Bett zu gehen.


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