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Zürichblog – Die neunte Woche

Immer donnerstags – der »Zürichblog« von Felix Stephan. Teil 9: »John Berger«

  Zürichblog – Die neunte Woche | Immer donnerstags – der »Zürichblog« von Felix Stephan. Teil 9: »John Berger«

Eigentlich studiert Felix Stephan Journalistik und Germanistik in Leipzig. Er ist aber auch literarisch gut unterwegs, sein erster Roman schlummert noch in den Schubladen diverser Verlage. Seit Mitte Februar verbringt Felix ein Erasmus-Semester in Zürich. Von dort berichtet er von nun an jeden Donnerstag im »Zürichblog« auf kreuzerONLINE aus seinem neuen Leben.

Eigentlich studiert Felix Stephan Journalistik und Germanistik in Leipzig. Er ist aber auch literarisch gut unter- wegs, sein erster Roman schlummert noch in den Schubladen diverser Verlage. Seit Mitte Februar verbringt Felix ein Erasmus-Semester in Zürich. Von dort berichtet er von nun an jeden Donnerstag im »Zürichblog« auf kreuzerONLINE aus seinem neuen Leben.

Teil 9: »John Berger«

Eigentlich wollte ich einen Text schreiben, der so geht:

»Ich bin jetzt zwei Monate im Ausland, das ist nicht viel. Auch wenn ich mich in Gesprächen immer gegen die beliebte Anmaßung verwahre, dass die Schweiz ja kein richtiges Ausland sei, räume ich doch ein, dass es nicht Sri Lanka ist. Ich schätze, zwei Monate in Sri Lanka sind noch etwas anderes als zwei Monate in der Schweiz.

Jedenfalls habe ich vor kurzem bemerkt, dass es mir nicht gelingt, Deutschland hinter mir zu lassen. Zwei Monate sollten dafür reichen, hätte ich gedacht, aber dem ist nicht so. Ich trage dieses Deutschland-Bedeutungsgebilde mit mir herum wie so ein Kick-Me-Zettel auf dem Rücken. Ich bin über die Bundesliga im Bilde, über die schwarz-grüne Koalition in Hamburg, über Thomas Gottschalks stimmungsvolle Sinnkrisen-Inszenierung und Sachsens sorbischen Ministerpräsidenten. Wenn ich am S-Bahnhof Zürich-Stadelhofen stehe, frage ich mich manchmal: Warum weiß ich das alles? Es kommt mir vor, als hätte ich das Land nie verlassen.

Vor ein paar Tagen habe ich beim Basketballspielen Gordon kennen gelernt, der nichts für seinen Namen kann und außerdem keinen besonders sicheren Wurf hat, was ärgerlich ist, wenn man mit ihm zusammen spielt. Er ist ein deutscher, jeansbejackter Betriebswirt, der jetzt schon fast zehn Jahre in Zürich lebt und er behauptet, dass Deutschland mit ihm nicht mehr das Geringste zu tun hat. Er erfahre überhaupt nichts mehr von dort und das Land habe ihm auch nichts mitzuteilen, außer einer einzigen Ausnahme: Aus irgendeinem Grund habe er es sich angewöhnt, zwei Mal die Woche das Morgenmagazin zu schauen, um sich über Cherno Jobatey zu wundern. Ehrlich gesagt beneide ich Gordon ein bisschen um sein Auslandserlebnis. Im Gegensatz zu ihm lebe ich weniger im Ausland, als ich bloß ein paar Tage eine Bahnstunde vor der deutschen Grenze verbringe. In Vordeutschland, sozusagen. Wenn ich, sagen wir, in München ein Austauschsemester gemacht hätte, wäre das wahrscheinlich weniger verschieden, als ich mir eingestehen möchte.«

Die NZZ am Sonntag beweist Humor
An dieser Stelle bin ich kurz aufgestanden und habe mir einen Espresso gemacht, den ich mit viel Milch und viel Zucker trinke, wofür ich mich häufig verspotten lassen muss. Oder ich soll die Frage beantworten, ob ich noch Kaffee in meine Milch möchte, was immer schlagfertiger wirkt, je häufiger ich es höre. Jedenfalls lag auf meinem Schreibtisch dieses Fischer-Taschenbuch von dem Schriftsteller, Kunsttheoretiker und Zivilisationsflüchtling John Berger, das ich mir kürzlich gekauft habe, und mit meinem Kaffee in der Hand schlug ich es auf, um ein wenig in den Seiten herumzulesen. Der erste Satz des Buches lautete:

»Wenn die gerechte Sache unterliegt, wenn die Mutigen erniedrigt werden, wenn in Stollen und Schacht erprobte Männer wie der letzte Dreck behandelt werden, wenn auf die Hochherzigkeit geschissen wird und die Richter Lügen glauben und Verleumder fürs Verleumden mit Gehältern bezahlt werden, von denen die Familien eines ganzen Dutzends streikender Bergarbeiter ihr Leben fristen könnten, wenn der Goliath der Polizeimacht mit den blutigen Gummiknüppeln sich nicht auf der Anklagebank, sondern auf der Ehrenliste findet, wenn unsere Vergangenheit entehrt wird und man ihre Verheißungen und Opfer mit ignorantem und bösem Lächeln achselzuckend abtut, wenn in ganzen Familien der Argwohn aufkommt, dass jene, die die Macht ausüben, der Vernunft und jeglichem Appell gegenüber taub sind und es keine Instanz gibt, an die man sich wenden kann, wenn dir allmählich klar wird, dass, was immer es an Wörtern im Lexikon geben mag, was immer die Königin sagt oder Parlamentskorrespondenten berichten, welche Bezeichnung das System sich selber auch immer gibt, um seine Schamlosigkeit und seinen Egoismus zu maskieren, wenn dir allmählich klar wird, dass SIE darauf aus sind, dich zu brechen, darauf aus sind, alles zu zerbrechen, dein Ererbtes, deine Fähigkeiten, deine Gemeinden, deine Dichtung, deine Klubs, dein Heim und, wo immer möglich, deine Knochen, wenn das den Leuten endlich klar wird, dann hören sie vielleicht auch in ihrem Kopf die Stunde der Attentate schlagen, der gerechtfertigten Vergeltung.« Nachdem ich den Satz zwei Mal gelesen hatte, klappte ich das Buch zu, stellte meine Tasse ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben und fragte mich, was zur Hölle ich hier eigentlich machte. Danach ging ich wieder zu meinem Laptop und setzte alles, was ich bis dahin geschrieben hatte, in Anführungszeichen. Trotzdem kam es mir noch immer vor wie eine unverzeihliche Platzverschwendung.


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