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Zürichblog – Die dreizehnte Woche

Immer donnerstags – der »Zürichblog« von Felix Stephan. Teil 13: »Das Deutsche Seminar«

  Zürichblog – Die dreizehnte Woche | Immer donnerstags – der »Zürichblog« von Felix Stephan. Teil 13: »Das Deutsche Seminar«

Eigentlich studiert Felix Stephan Journalistik und Germanistik in Leipzig. Er ist aber auch literarisch gut unterwegs, sein erster Roman schlummert noch in den Schubladen diverser Verlage. Seit Mitte Februar verbringt Felix ein Erasmus-Semester in Zürich. Von dort berichtet er von nun an jeden Donnerstag im »Zürichblog« auf kreuzerONLINE aus seinem neuen Leben.

Eigentlich studiert Felix Stephan Journalistik und Germanistik in Leipzig. Er ist aber auch literarisch gut unter- wegs, sein erster Roman schlummert noch in den Schubladen diverser Verlage. Seit Mitte Februar verbringt Felix ein Erasmus-Semester in Zürich. Von dort berichtet er von nun an jeden Donnerstag im »Zürichblog« auf kreuzerONLINE aus seinem neuen Leben.

Teil 13: »Das Deutsche Seminar«

Ein Semester ist zu wenig. Hat der bärtige, müde Student gesagt, der im Erasmusamt in der Beethovenstraße sitzt. Haben die gesagt, die schon im Ausland studiert oder gearbeitet haben. Haben auch die gesagt, die jetzt gerade im Ausland leben. Haben eigentlich alle gesagt. Sind ja praktisch nur drei Monate. Im Geheimen habe ich ihnen geglaubt, schließlich hat es mich schon ein halbes Jahr Eingewöhnungszeit gekostet, als ich vor ungefähr zehn Jahren von einer West- auf eine Ostberliner Schule gewechselt bin. Ich habe tatsächlich ein ganzes Halbjahr, wie es ja in der Schule hieß, an der neuen Schule niemanden gekannt, nur mit meiner Erdkundelehrerin habe ich mich ganz gut verstanden. Aber auch wir haben uns nicht nachmittags getroffen und Gemeinsamkeiten entdeckt, etwa dass wir beide eine Schwäche für das Pleistozän haben.

Dass man mit den Menschen in seiner Umgebung etwas zu tun hat und ihnen nicht mehr nur zusieht, merkt man daran, dass man über Beziehungsgeschichten in Kenntnis gesetzt wird. Das Mädchen, mit dem ich in einer Seminarpause immer Kaffee holen gehe, ist zum Beispiel in der für sie durchaus schmerzhaften Situation, dass die neue Freundin ihres Exfreundes zwei Reihen vor ihr sitzt. Das passiert leicht in dieser Stadt, die ja doch eher klein ist. Sie treffe an der Universität jeden Tag ihren halben Matura-Jahrgang, das habe sie sich anders vorgestellt. Jedenfalls zerreißt sie seit Anfang des Semesters jede Äußerung über Literatur, zu der sich das Mädchen vor ihr unvernünftigerweise hinreißen lässt, gelangweilt in der Luft. Die neue Freundin zwei Reihen weiter vorn ist nicht ganz so klug wie die alte zwei Reihen weiter hinten, muss man wissen. Zuerst habe ich mich über ihren destruktiven Ehrgeiz etwas gewundert, jetzt aber glaube ich, dass sie ihren Exfreund wohl sehr gemocht haben muss. So sehr, dass sie ihm jetzt jede Woche ein nervliches Wrack nach Hause schickt, das glaubt, nichts über Literatur zu wissen.

Das Deutsche Seminar von innen
Auch die Flurgespräche im Deutschen Seminar habe ich lieb gewonnen, obwohl sie mich anfangs eingeschüchtert haben. Gestern habe ich zum Beispiel Janek getroffen, der aus Alternativmangel wohl promovieren wird und der immer an einem vorbeisieht, wenn man mit ihm spricht und auch einfach mal eine Minute nichts sagt, so dass man etwas verloren vor ihm steht, mit der Zunge schnalzt und »tja« sagt. »Das Problem des Solipsismus‘ ist ja, dass er seine eigene Widerlegung bereits voraussetzt«, sagte er, nachdem ich ihm den deutschen Philosophen Ernst Cassirer als Quasi-Solipsisten vorgestellt habe, was auch höchstens halbwahr ist. Das sei ja auch schon ein großes Missverständnis in Hegels »Phänomenologie des Geistes« gewesen, fuhr Janek fort, aber spätestens in der Kommunikation falle das Modell in sich zusammen. Ich nickte und sagte, dass Daniel Kehlmann kürzlich in einem Interview gesagt hat, dass auch die Leute, die behaupten, es gebe gar keine Welt und man bilde sie sich nur ein, im Baumarkt keinen Zweier-Dübel kaufen, wenn sie zuhause nur einen Dreier-Bohrer haben. Dann verabschiedete ich mich und sagte, dass ich in die Bibliothek müsse. Ich habe am Deutschen Seminar Zürich sehr häufig das Gefühl, in die Bibliothek zu müssen. In Leipzig ging mir das nicht so. Dort bin ich mit ein wenig echter und viel simulierter Aufmerksamkeit im Seminar und einem spärlich erweiterten Abiturwissen ganz gut ausgekommen und konnte mich in den Clara-Zetkin-Park legen, vor der Immanuel-Kant-Schule Basketball spielen oder einen misanthropischen Roman schreiben, je nach Wetter. Hier überstehe ich nicht einmal den Flursmalltalk unblamiert.

Als ich vor ein paar Tagen am Ufer der Zürichsees gewesen bin, habe ich einen Akkordeonspieler gesehen, dessen Instrument aus irgendwelchen Gründen wie eine Orgel klang. Er hat sich viel bewegt auf seinem kleinen Hocker, seine Haare flogen umher, sein Gesicht war verzogen, er schwitzte und man glaubte, er würde jeden Moment dehydriert und bewusstlos auf dem Asphalt liegen. Einige Menschen waren stehen geblieben und es wurden beständig mehr. Alle sahen nach vorn, kaum jemand bewegte sich und eine Frau neben mir sah aus, als würde sie aufwachen, als ihr geschmolzenes Erdbeereis über den Handrücken lief. Die Passanten erkannten den Meister, unterbrachen ihren Tag für einen Moment und vergaßen, dass sie pünktlich sein müssen und bis Juni noch zwei Kilo abnehmen wollen. Es hatte etwas sehr Beruhigendes. Über Kunst reden ist das Eine, dachte ich.


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