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Kultur

Gott als Leerstelle

Alles oder nichts: Mit der »Matthäuspassion« wird am 18. September die neue Spielzeit am Schauspiel Leipzig eingeläutet

  Gott als Leerstelle | Alles oder nichts: Mit der »Matthäuspassion« wird am 18. September die neue Spielzeit am Schauspiel Leipzig eingeläutet

»Vater, warum hast du mich verlassen?« – Jesus Christus, bereit, sich für die Sünden der Menschen zu opfern, verzagt für einen Moment in seinem Glauben. In der Stunde des Todes zweifelt er an der Liebe des Allmächtigen, am Plan der Schöpfung, ist ohne Hoffnung. Klaftertiefe Sinnleere ist das Grundmotiv der drei Passionsspiele, die Sebastian Hartmann zu seinem Leipziger Auftaktstück verbindet.

»Vater, warum hast du mich verlassen?« – Jesus Christus, bereit, sich für die Sünden der Menschen zu opfern, verzagt für einen Moment in seinem Glauben. In der Stunde des Todes zweifelt er an der Liebe des Allmächtigen, am Plan der Schöpfung, ist ohne Hoffnung. Klaftertiefe Sinnleere ist das Grundmotiv der drei Passionsspiele, die Sebastian Hartmann zu seinem Leipziger Auftaktstück verbindet.

Da ist der Leidensweg des Jesus von Nazareth in der Überlieferung des neutestamentarischen Matthäusevangeliums. Von Judas verraten, von seinen Jüngern verleugnet und vom Volk verspottet, wird der fleischgewordene Messias schließlich ans Kreuz geschlagen – und sein Martyrium als wehklagende Passionsmusik unter anderem von Bach vertont.

Die Gottesfrage stellt Ingmar Bergmans Schwarz-Weiß-Film »Abendmahlsgäste« (1962, in Deutschland als »Licht im Winter« bekannt), der als Uraufführung auf die Bühne gehoben wird. Über den Tod seiner Frau verzweifelt, steckt ein Pfarrer in tiefster Sinnkrise. Selbstmitleid ersetzt sein Mitgefühl, vom Egoismus getrieben keimt in ihm die Eifersucht auf Jesus – Gottes Liebe bezieht er nur auf seine Person. Unter seinen Händen gerät das Abendmahl zum leeren, trostlosen Ritus.

In Henrik Ibsens Verstragödie »Brand« (1865) versucht ein gleichnamiger Pfarrer, seine Gemeinde prinzipientreu zu führen. Doch die Schäfchen wollen nicht so wie der Hirte, denn er ist ihnen in seiner Pflichttreue lästig. Er verlässt das kleinmütige Kirchenvolk, und schließlich findet der kompromisslose Individualist in einer Lawine den Untergang, während eine Stimme von oben donnergrollt: »Gott ist deus caritatis«, der Gott barmherzigen Liebe.

Glaube, Liebe, Hoffnung – auch heute noch haben uns die Texte etwas zu sagen, auch wenn die drei christlichen Grundtugenden nur noch geerdet zu haben sind. Markiert Gott doch für die aufgeklärten Menschen lediglich eine Leerstelle. Unser Dasein ist grundlos, Netz und doppelter Boden religiöser Weltanschauung sind uns verloren gegangen. Für das eigene Leben selbst verantwortlich, liegt unsere Freiheit im Aushalten dieses Sinnverlusts.

Eine gewisse Standhaftigkeit sollte man auch für Sebastian Hartmanns erste Leipziger Inszenierung mitbringen, die über drei Stunden vom Verzweifeln des Menschen an der Welt, am Menschen, an sich selbst kündet. Kein Heil, keine Erlösung – aktuelle Stoffe angesichts der neuen Verunsicherung und des beschworenen Zusammenrückens im Konsum. In ihrer Symbolhaftigkeit kommen sie Hartmanns bildgewaltiger Inszenierungsweise gewiss zupass – schönes Scheitern inklusive. Denn wird es ihm gelingen, die Figur Christus von 2.000 Jahren Religionskitsch zu lösen? Oder sich frei zu machen von Bergmans brillanter visueller Komposition? »HIER IST EURE FREIHEIT!« – In der Spielplan-Ankündigung jedenfalls bricht sich der Wille zur Inszenierung seine Bahn.

Ein Mosaik-Stück über die menschliche Natur erwartet das Leipziger Publikum, das mit dem Anklang an Bach im Titel vielleicht wohlig gestimmt werden soll. Bei seinem Triptychon um Glaube, Liebe, Hoffnung scheint sich Hartmann vor allem von Pfarrer Brands Lebensmotto leiten zu lassen: »Alles oder nichts!«


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