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Kultur

Die Kamera als Waffe

DOK Leipzig: Mit der Joris-Ivens-Retrospektive zum 20. Todestag des großen Dokumentarfilmpioniers betreibt das Dokfestival eine späte Wiedergutmachung

  Die Kamera als Waffe | DOK Leipzig: Mit der Joris-Ivens-Retrospektive zum 20. Todestag des großen Dokumentarfilmpioniers betreibt das Dokfestival eine späte Wiedergutmachung

Es war das Jahr 1960, als unter Mitwirkung des erfahrenen, niederländischen Dokumentarfilmpioniers Joris Ivens die Leipziger Dokfilmwoche ihre anfängliche deutsch-deutsche Gartenzwerg-Mentalität ablegte und als internationales, künstlerisch anspruchsvolles Festival auferstand.

Es war das Jahr 1960, als unter Mitwirkung des erfahrenen, niederländischen Dokumentarfilmpioniers Joris Ivens die Leipziger Dokfilmwoche ihre anfängliche deutsch-deutsche Gartenzwerg-Mentalität ablegte und als internationales, künstlerisch anspruchsvolles Festival auferstand.

Der »Weltenfilmer« Ivens, dessen avantgardistische Zeiten bis dato schon eine Weile zurücklagen, hatte sich seit Anfang der 50er Jahre bei der DEFA als kämpferischer Dokumentarist verdingt. Doch was er bei dieser dritten Dokfilmwoche seinen internationalen Kollegen präsentierte, entsprach so gar nicht dem Kampfesduktus der Kalten Krieger. Viel zu poetisch und zu wenig politisch sei »Die Seine trifft sich mit Paris« (1957), der unter dem Eindruck des »Tauwetters« nach Stalins Tod entstand.

Der Filmemacher Andrew Thorndike urteilte: »Die Poesie ist sehr schön, aber das politische und historische Moment stehen heute im Vordergrund. Und das fehlt in der ›Seine‹.« Doch Ivens behielt wie immer seinen eigenen Kopf und widersprach: »Die Leute sollen mit dem Herzen an ihre Themen herangehen. Wenn man ein Thema hat, soll man es lieben …«

Szene aus »Die Seine trifft sich mit Paris«
Über Jahrzehnte verband Joris Ivens und Leipzig ein intensives Verhältnis zwischen Anziehung und Anspannung. Nun ehrt die 52. Dokfilmwoche Joris Ivens zu seinem 20. Todestag mit einer Retrospektive, die den verlorenen Sohn ein für alle Mal zurück ans Festival binden soll.

Die große Bedeutung dieser Würdigung unterstreicht auch ein anderes Jubiläum: Es ist die 50. Retrospektive des Bundesarchiv-Filmarchivs (damals Staatliches Filmarchiv der DDR) in Zusammenarbeit mit dem Dokfestival.

Unter dem Titel »Joris Ivens – das Unmögliche zu filmen ...« haben das Filmarchiv und das Dokfestival zehn Programme mit 19 Filmen sowie zwei »Augenzeugen«-Berichten zusammengestellt, die einen weitgefächerten Einblick in Ivens’ vielfältiges Schaffen gewähren und zugleich Anlass bieten, über sein gespaltenes Verhältnis zur DDR und zum Leipziger Festival zu reflektieren.

Den Auftakt der Retrospektive bildet Joris Ivens’ Kurzfilm »Die Brücke« (1927), eine rasante Bewegungsstudie an einer Eisenbahnhebebrücke, die ihn schlagartig europaweit als Avantgarde- Filmer bekannt machte. Im selben Atemzug folgten »Regen« und »Brandung « (beide 1929), die innerhalb der von Ivens mitbegründeten Bewegung »Niederländische Filmliga« entstanden.

Bis dahin war Ivens eher der Techniker als der Regisseur. Der Vater des am 18. November 1898 in Nijmegen geborenen Joris, der eigentlich George Henri Anton hieß, war Eigentümer einer Kette von Fotogeschäften. 1921 zog Ivens nach Berlin, um Fototechnik zu studieren. Die politischen und kulturellen Umbruchzeiten der Weimarer Republik wühlten den Fotografensohn dermaßen auf, dass er erstmal wieder nach Hause floh, aber schon bald nach Berlin zurückkehrte und in die expressionistische Avantgarde eintauchte. Auch später suchte der Poet Joris Ivens immer wieder den Kontakt zu Künstlern wie etwa Brecht und Hemingway.

Nach einem Russlandbesuch trat Joris Ivens 1930 den niederländischen Kommunisten bei. Er schreibt, diese Ideologie habe ihm »ein neues Gefühl« gegeben und gezeigt, »dass ich Teil war einer internationalen Gemeinschaft und einer Generation, die die Vorhut der Weltrevolution bildete«. Ein Gefühl, das seine Arbeit noch viele Jahre bestimmen sollte.

Szene aus »Heldenlied«
War sein Film »Heldenlied« (1932) noch der Neuen Sachlichkeit verpflichtet, stand »Borinage« (1934) bereits unter dem Eindruck der Sowjetästhetik. Der Film über einen missglückten Bergarbeiterstreik gelangte weltweit zu Berühmtheit. Über die Avantgarde spottete Ivens fortan, sie führe in eine »sterile Sackgasse der leeren Ästhetik«.

Von nun an verstand Ivens die »Kamera als Waffe«. Zu Kriegszeiten lebte er in den USA. Von dort aus richtete er seine Waffe gegen den Diktator Franco in »Spanische Erde« (1937) und gegen die japanische Eroberungsmacht in »China – 400 Millionen« (1939). Es folgten ein Ausflug nach Indonesien und Propagandafilme für die Alliierten.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verschwand Ivens in einer langen Phase filmästhetischer Bedeutungslosigkeit. Allein im kommunistischen Lager war er immer noch aktuell. Mit der DEFA produzierte er fünf Dokumentarfilme im Namen des Weltfriedens, darunter »Friedensfahrt Warschau-Berlin-Prag« (1952), »Das Lied der Ströme« (1953) und »Mein Kind« (1955), sowie den Spielfilm »Die Abenteuer des Till Ulenspiegel« (1956).

Am Ende dieser Ära ließ Ivens sich in Paris nieder und reiste von dort immer wieder zu den Krisenherden dieser Welt wie Kuba oder Indochina. Nach Leipzig kehrte Ivens jedes Jahr zurück. Hier huldigte man dem Übervater alljährlich mit einem rituellen Geburtstagsgruß. Schon 1963 widmete man ihm eine Retrospektive, die sich zu einem Publikumsmagneten entwickelte. Das Filmarchiv veröffentlichte ein Buch und das Festival benannte einen Preis nach ihm. Die Verehrung für Joris Ivens war groß.

Szene aus »China – 400 Millionen«
Doch 1968 – er feierte seinen 70. Geburtstag – kam es zum Eklat. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings wurden kritische Stimmen auf dem Festival untersagt. Über Ivens munkelte man, er habe sich gegen den Sowjetkommunismus und für Maos Kulturrevolution entschieden. Und aus Paris brachte er mit seiner Lebensgefährtin und späteren Ehefrau Marceline Loridan sieben Filme von den Mai-Unruhen mit. Als deren Vorführung jedoch untersagt wurde, mietete Marceline Loridan kurzerhand alle gewerblichen Vorführkabinen an und veranstaltete mit großem Tamtam Privatvorführungen. Das Festival hatte einen handfesten Skandal.

Schon wieder hatte Ivens trotz seiner steten Nähe zur Propaganda bewiesen, dass er sich nicht vereinnahmen ließ und seinen ganz eigenen Kopf hatte. Doch von nun an blieben er und seine Frau der Dokfilmwoche fern. Der einstige Übervater wurde zur Persona non grata.

Die gegenseitige Verehrung von Festival und Filmemacher verkehrte sich in Verachtung. Dem Filmarchiv wurde untersagt, weiterhin das Buch zur Retrospektive zu verteilen. Stillschweigend wurde der Joris- Ivens-Preis abgeschafft, weil Ivens laut damaligem Festivalchef Wolfgang Harkenthal »völlig unter den Einfluss extremer Linksradikaler und Maoisten geraten« sei.

In einer Publikation zur 20. Dokfilmwoche zählt Annelie Thorndike die großen Namen des Festivals auf – der Name Joris Ivens fehlt. Schließlich äußert sich auch Karl Eduard von Schnitzler 1979 in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung über Ivens: »Wissen Sie, wer sich heute als Kommunist oder Sozialist bezeichnet, da gibt es sehr viele, die das tun. Darüber kann man sehr unterschiedlicher Auffassung sein.«

Joris Ivens kehrte nie mehr nach Leipzig zurück.

Joris Ivens and Marceline Loridan-Ivens bei Filmarbeiten zu »Eine Geschichte über den Wind«
Erst 1982 kommt es noch einmal zu einer vorsichtigen Annäherung. Einer Einladung zur 25. Dokfilmwoche antwortete der betagte und von Asthma geschwächte Dokumentarist per Telegramm: »Ich bin sehr traurig, dass es nicht möglich ist, mit Euch zusammen zu sein. (…) Es ist eine große Genugtuung zu wissen, dass Ihr meine Arbeit mit Euch allen nicht vergessen habt. Es ist noch so viel zu tun für uns alle.«

Es folgen zaghafte Versuche der Wiedergutmachung. Zwei Jahre später wird in Leipzig eine restaurierte Fassung von »Borinage« aufgeführt. Und zu Ivens’ 90. Geburtstag läuft sein verfemter zwölfstündiger China- Zyklus.

Als Marceline Loridan-Ivens im Herbst ‘89 mit ihrem letzten gemeinsamen Film, dem großartigen Essay »Eine Geschichte über den Wind« (1988), einer Einladung nach Leipzig folgt, ist ihr Mann bereits verstorben. Auf das Tian’anmen-Massaker im Juni hatte er noch mit einem Protestbrief an die chinesische Staatsführung reagiert. Den Fall der Mauer erlebte Joris Ivens nicht mehr.

Der »Filmemacher an den Fronten der Weltrevolution« hinterlässt ein mindestens dreifaches Erbe: Filme voll jugendlich-avantgardistischer Faszination, kämpferisch-propagandistischem Pathos und essayistisch-altersweiser Selbstreflexion.

Die Retrospektive lädt zu einer lohnenswerten Entdeckungsreise zu allen namentlich genannten Filmen ein. Und Marceline Loridan-Ivens kommt persönlich nach Leipzig – zu jenem Festival, das ohne Joris Ivens heute nicht das wäre, was es ist.


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