anzeige
anzeige
Kultur

Schlaflos in Ferropolis

Von Freitag Nachmittag bis Montag Morgen fand in Gräfenhainichen das 13. Melt!-Festival statt – <em>kreuzer</em> online war dabei

  Schlaflos in Ferropolis | Von Freitag Nachmittag bis Montag Morgen fand in Gräfenhainichen das 13. Melt!-Festival statt – <em>kreuzer</em> online war dabei

Die Sterne für mein erstes Melt! stehen nicht besonders günstig. Mein Begleiter und Fahrer, nennen wir ihn zur Wahrung seiner Privatsphäre einfach mal Klaus, hat keine Lust und bietet seine Karte am Donnerstag auf Facebook an. Daheimbleibende stöhnen über das Stylerpublikum und die weiten Wegen zum Gelände. Ich habe kein Zelt und die Befürchtung, mich in 4 Jahren Fusion zu sehr an ein Feiern ohne Security, Werbung und überteuerte Gastronomie gewöhnt zu haben.

Die Sterne für mein erstes Melt! stehen nicht besonders günstig. Mein Begleiter und Fahrer, nennen wir ihn zur Wahrung seiner Privatsphäre einfach mal Klaus, hat keine Lust und bietet seine Karte am Donnerstag auf Facebook an. Daheimbleibende stöhnen über das Stylerpublikum und die weiten Wegen zum Gelände. Ich habe kein Zelt und die Befürchtung, mich in 4 Jahren Fusion zu sehr an ein Feiern ohne Security, Werbung und überteuerte Gastronomie gewöhnt zu haben.

Ich fange vorne an und rede auf Klaus ein, besteche ihn mit Geld und guten Argumenten. Dann kaufe mir eins von diesen Wurfzelten, um mir zumindest lästige Aufbauarbeit zu ersparen. Schließlich packe ich ein paar meiner Erwartungen und Maßstäbe in den Schrank und ein paar Klamotten in die Reisetasche. Doch erst als Klaus am Freitagmittag leibhaftig vor meiner Tür steht, bin ich mir sicher, dass wir nun tatsächlich aufs Melt! fahren. Kaum sind wir auf der Autobahn, staut es sich unter der sengenden Sonne. Es löst sich, als wir die Stauursache passieren: Ein auf dem Dach liegendes Auto, dreißig Meter rechts vom Seitenstreifen, an dem Campinggepäck aus dem Wageninnern aufgereiht ist. Für die Insassen hat sich die Fahrt zum Festival erledigt, für uns geht sie weiter. Auf dem Zeltplatz dann die glorreichen 2 Sekunden Wurfzeltangeberei – wohl wissend, dass der Abbau wenig glamourös wird.

Soundmäßig leider eine echte Enttäuschung: Dirk von Lotzow und seine Tocotronen (Foto: Anna Beckert)
Das Festivalgelände, zu dem es in überfüllten, aber immerhin Eigenenergie sparenden Shuttlebussen geht, entpuppt sich als imposante Kulisse. Klar, man hat die Bagger in der Stadt aus Stahl schon tausend Mal auf Fotos gesehen, aber hier vor Ort wirken sie weitaus imposanter und bestäuben das Gelände mit einer Prise postindustriellen Subtexts. Feiern in den Ruinen der einstigen Rohstoffschatzkammern. Wir beginnen mit Pantha du Prince, für dessen ambiente Tracks es leider noch ein wenig zu hell und sommerlich ist, und einem Rundgang übers Gelände. Später dann ein wenig Tocotronic auf der Hauptbühne, aber der Sound ist einfach grauenhaft.

Meister des melancholischen Minimalismus und der Erwartbarkeit: The XX (Foto: Marieluise Scharf)
Der nächste Hauptbühnenact ist Sigur Rós-Sänger Jonsi, der mit seinem Trapperfransenhemd und dem indianeresken Federkopfschmuck zwar aussieht wie der letzte Hippie, aber das Publikum trotzdem für sich gewinnen kann – vor allem immer dann, wenn die Bassdrum geradeaus marschiert oder die Band auf anfänglichen Glockenspielwiesen plötzlich meterhohe Soundwälle auftürmt. Drei, vier Gänsehäute später ist der schöne Spuk mit den äußerst famosen Visuals vorbei und es folgt ein neuer: Zurück zu The XX müssen wir feststellen, dass sich das Publikum beinah verdoppelt hat, um den Meistern des melancholischen Minimalismus zu huldigen. Die ersten 20 Minuten sind auch wir sehr angetan davon, wie der Typ im Hintergrund mit seinen Fingern live die Beats auf seinen Samplerpads spielt und wie Raum füllend und druckvoll der Klang trotz seiner wenigen Bestandteile ist. Aber irgendwann erschöpft sich das Schema F, nach dem leider ausnahmslos alle Songs gestrickt sind. Erschöpft sind auch wir und so schließen wir diesen ersten Abend mit ein paar Klängen der Foals aus der Ferne und einem Heimweg am Ufer des Sees entlang.

Nach wenigen Stunden Schlaf wird es unerträglich heiß im Zelt, also hängen wir den ganzen Tag über am und im Auto oder dessen Schatten und sind wenig motiviert, uns den Strapazen des Geländes auszusetzen. Kopf, Rücken und Beine schmerzen, wir sind müde und träge und fühlen uns zu alt für Camping und 3 Tage Action. Vielleicht wird das unser letzter Festivalsommer.

Zwischen Catwalk und Karneval: kostümaffine Besucherinnen des Melt! (Foto: Tobias Vollmer)
Als Miike Snow um 22 Uhr ihre Show starten, sind die Gebrechen weg- und die Actiongeister herbeigetrunken. Ein Holländer lästert über die vielen Holländer auf dem Melt! und schwärmt mir von Berlin und den Vorzügen deutscher Festivals vor. Hier sei alles so liberal und viel entspannter, mit viel weniger Regeln. Angesichts der Tatsache, dass mir am Eingang gerade mit der tumben Begründung »die wollen das nicht« mein leeres (!) Tetrapack abgenommen wurde, komme ich nicht umhin, ein weiteres Mal die Fusionfolie auszupacken. Nächstes Jahr will er auch dort hin. Für dieses ist das Hier und Jetzt trotzdem schön. Auch die Stylerfraktion ist dieses Mal deutlich erträglicher geworden als die letzten Male, wie Klaus mir begeistert versichert.

Modernistischer Sample-Soul-Funk mit Sahnestimme: Jamie Lidell (Foto: Tobias Vollmer)
Es geht weiter mit Jamie Lidell, der mit absolut fabelhafter und äußerst tighter Kappelle modernistischen Sample-Soul-Funk zum Besten gibt. Glücklicherweise kann ich das ganze Konzert sehen, ohne DJ Shadow zu verpassen, denn der hat sich verspätet und seinen Slot mit Chris Cunningham getauscht, der später anfängt und mit einer äußerst verstörenden, soundtechnisch grenzwertig gesundheitsgefährdenden, aber perfekt inszenierten Videoshow auf drei Leinwänden aufwartet.

Wo Cunnigham das Publikum spaltet, führt DJ Shadow es wenig später mit einem bis auf einige wenige Drum’n’Bass-Ausrutscher formidablen Set wieder zusammen. Auch Moderat machen ihre Sache gut, doch ich füge mich dem Willen meiner Begleiter nach schnurgeraden Beats und verliere mich im Folgenden in selbigen und zwischen den verschiedenen Floors. Letzter Eintrag des Tages in meinem kleinen Notizbuch: 6:23 Uhr bei Tiga, alle Tanzenden gehen auf die Knie, Beat raus, minutenlanges Crescendo, Tiefpassfilter, Beat rein, die Knieenden morphen sich zu einer bunten, hüpfenden Masse. Ektase.

Hatte das Publikum trotz Wetterwidrigkeiten fest im Griff: Erlend Øye von den Kings of Convenience (Foto: Geert Schäfer)
In dieser Nacht noch weniger Schlaf, aber der Körper gewöhnt sich bekanntlich an so einiges. Aufwachen mit den Kings of Convenience. 16 Uhr, die Sonne knallt unermüdlich auf die Köpfe, doch die Ränge rund um die halboffene Zeltbühne sind bis auf den letzten Millimeter gefüllt. Erstaunlich auch, wie die norwegischen Simon & Garfunkel der Jetztzeit sie alle trotz der frühen Uhrzeit, der Hitze und der reduzierten Klänge kriegen. Groove braucht eben manchmal keine Drums.

Love is in the air: Verloren zwischen Beats und Bühnen (Foto: Stephan Flad)
Später auf der Hauptbühne perfekte Zwischen-Nachmittag-und-Abend-Festivalmusik mit den Broken Bells und danach die vielleicht größte Festivalenttäuschung für Klaus. »Wann sind Goldfrapp eigentlich zu Kylie Minogue geworden?« wird er am nächsten Tag verprellt von miesem 80er-Sound posten. Zum Glück sind da noch Massive Attack, die alle Erwartungen erfüllen, ja vielleicht sogar übertreffen. Danach könnte man sich eigentlich schlafen legen, besser kann’s kaum werden. Aber es ist der letzte Abend, also auf ins Getümmel zu den Crookers, die neben WhoMadeWho die letzte offizielle Beschallung auf dem Gelände verantworten. Um 2 Uhr geht dort dann tatsächlich das Licht an, auch wenn die Hälfte der Meute mit lautstarkem Getrommel auf die Stahlträger nach mehr verlangt. Nützt aber nix, also raus vor die Tore zum Sleeplessfloor, wo Allen Alien und die letzten mehr oder minder Wachen am Traum vom ewigen Tanz festzuhalten suchen. Der Weg zur Mitte der Strandsandtanzfläche, auf der jeder etwa 2 Millimeter Platz zum Tanzen hat, dauert eine gefühlte halbe Stunde. Der Heimweg könnte dann schöner kaum sein: Als ich mich entschließe, vom Traum loszulassen, startet gerade ein mit Soundsystem ausgestatteter LKW, auf dem sich eine Live-Techno-Kapelle mit Schlagzeug und allem Pipapo um Kopf und Kragen spielt. Um den Wagen herum hunderte von Leuten, die tanzen oder tanzend zum Zelt laufen.

Zeltplatzidylle, die trügt: Was abends romantisch aussieht, reißt einen morgens gnadenlos aus kurzem Schlaf (Foto: begeorge@tranZland.com)
3 Stunden Schlaf später das erwartete Scheitern am Zeltabbau, den ganzen Ramsch in den Kofferraum und schon sind wir wieder weg. Raus aus Ferropolis und rein in den Alltag. Einen Montagmorgen in Leipzig-Nord, wo die Straßenzüge genauso dunkel sind wie der Dreck unter unseren Fingernägeln. Am Zoo trägt ein Mann mit apricotfarbenem Hemd und Aktentasche seine Wohlstandwampe über die Ampel. Große Vorfreude auf Zuhause. Auf den Komfort einer eigenen Sanitäranlage, eines Kühlschranks, eines anständigen Bettes. Als ich die Tür hinter mir schließe, merke ich erst, wie still es hier ist. Die Ohren rauschen, der Kopf klingelt und jetzt darf sich auch meine Müdigkeit ihr Stückchen vom Kuchen nehmen. Wenig später sind all das Gestöhne und Gejammer, die Blasen am Fuß und die Zelthitze vergessen. Bis zum nächsten Jahr.


Kommentieren


0 Kommentar(e)