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Kultur

20 Jahre euro-scene

Das Leipziger Tanz-Avantgarde-Festival begibt sich auf »Spurensuche«

  20 Jahre euro-scene | Das Leipziger Tanz-Avantgarde-Festival begibt sich auf »Spurensuche«

»Theater bleibt lebendig, solange es Irrita­tio­nen, Risiken und Veränderungen erfährt«, hieß es im Jubiläumsband zu zehn Jahren euro-scene Leipzig. Das ist nun schon eine Dekade her und das Festival seit kurzem in die Volljährigkeit entlassen. Zeit, um von Herzen zu gratulieren und einen Blick zurück zu werfen – noch bis Sonntag unter dem Motto »Spurensuche«. Die Geschichte der euro-scene ist der Titel des neuen November-kreuzer und kann im Heft nachgelesen werden – online stellen wir einen kleinen Auszug vor.

Der November ist trist, im Wind- und Nebelmonat will im Allgemeinen so rechte Freude nicht aufkommen. In Leipzig aber verbindet man höchst Positives mit dem November, denn seit nunmehr 20 Jahren findet hier die euro-scene, das Festival zeitgenössischen europäischen Theaters, statt. »Theater bleibt lebendig, solange es Irrita­tio­nen, Risiken und Veränderungen erfährt«, hieß es im Jubiläumsband zu zehn Jahren euro-scene Leipzig. Das ist nun wieder eine Dekade her und das Festival längst in die Volljährigkeit entlassen. Zeit, um von Herzen zu gratulieren und einen Blick zurück zu werfen. Deshalb beauftragten wir vier ehemalige und einen amtierenden kreuzer-Redakteur, sich an ihre ganz persönliche euro-scene-Zeit in Leipzig zu erinnern. Die ausführliche Geschichte der euro-scene ist die Titelgeschichte des neuen November-kreuzer und kann im Heft nachgelesen werden – online stellen wir nun einen kleinen Auszug vor.

Das Festival ging 1991 als Nachwende-­Neugrün­dung aus der früheren Leipziger Schauspielwerkstatt hervor. Im Untertitel hieß es damals noch Festival »europäischer Avantgarde«. Das ist 20 Jahre her und die heutige Festivalleiterin Ann-Elisabeth Wolff von Anfang an dabei, zunächst als Stellvertreterin von Matthias Renner. Der aus Dresden stammende Theaterwissenschaftler hatte die Idee zum Festival, und da man sich in seiner Heimatstadt seit jeher aufs Konservieren statt Experimentieren verstand, suchte er nach Mitstreitern an der Pleiße. Sein plötzlicher Tod kurz vor dem dritten Festival riss ein Loch nicht nur in die Festivalleitung. Plötzlich stand Wolff vor der Entscheidung, selbst das Ruder zu übernehmen oder die euro-scene sterben zu lassen. »Ich war völlig überfordert«, erinnert sich die heutige Leiterin an diese Situation. »Aber das durfte es doch nicht gewesen sein«. War es dann auch nicht, wie das nun anstehende Jubiläum eindrücksvoll beweist.

Blutende Wunden in kämpferischen Zeiten (1991 – 2001) von Michael Feudt

Die euro-scene landete als UFO in Wendezeiten, wohltuend den Horizont auf Europa erweiternd in allgemeiner »Wir sind ein Volk«-Seligkeit. Wilde Zeiten, in denen die Inselbühne nach dem Eröffnungsstück des Festivals der städtischen Theaterreferentin Förderung für ein super-­innovatives Tanzvideo abschwatzen konnte. Zeiten, die vielen auch als »kämpferisch« anmuteten. Das Theater Front gründete ein Manöver-­Festival, auch euro-scene-Gründer Matthias Renner wollte ein »kämpferisches« Festival und brachte sich mit Schlagworten wie Europa, das Fremde und Avantgarde in Stellung. Darauf sind Journalisten dieser Anfangsjahre nur zu gern angesprungen. Auch ich wollte im Interview für den kreuzer das Gar-nicht-Neue, Schon-Gesehene, Doch-wieder-nur-Traditionelle im Programm herausarbeiten. Es herrschte, so erzählte mir Renners Nachfolgerin Ann-Elisabeth Wolff später, einige Aufregung vor diesem Interview mit dem widerborstigen Stadtmagazin.

Als der Text im November 1992 erschien, war Renner gestorben. Später arbeitete ich selbst – Seitenwechsel – für das Festival, kämpfte mit den eigenen Superlativen und jährlich im Frühjahr anfallenden Meldungen: »Dramatische Kürzungen: euro-scene steht vor dem Aus«. Die Festivaldirektorin sichtet mit größtem Fleiß durch Europa reisend die Theaterszene, widmet sich noch akribischer dem Programmheft. Es kommen und gehen Scharen von Praktikanten und Praktikantinnen – nicht wenige haben später interessante Wege beschritten, leiten heute das Wiener Künstlerhaus brut, die Sophiensaele oder gründeten eine Autoren­agentur in Chicago.

Selbst für das Programm das Jahres 2001 verantwortlich, bleibt die Erinnerung an Franko B, den Performer, der sich ganz dem Publikum öffnete und später zweimal in die Notaufnahme musste, weil die schmale Wunde, die er sich gesetzt hatte, nicht zu stillen war. Und an Thilo Egenberger, der zu den »Leibesvisitationen« die 24-h-Ausstellung »Bodycheck« organisierte und dem ich noch einen Dank schulde.

Die Nacht der Lebenden, Toten und Dämonen (2008/09) von Tobias Prüwer

Bloß nicht Mainstream: Mein Highlight der euro-scene – von »White Star« abgesehen – war eine sinistre Doppelvorstellung 2008. Mit »Ipsum« vom Collective of Natural Disasters (Ungarn) und des Orphtheaters (Berlin) »Panoptikum der Träume« waren zwei abgründige Produktionen zu sehen, die sich nicht dem Guten und Schönen verschrieben hatten – und darum viel negative Kritik ernteten.

In »Ipsum« wird eine Kochzeile zur Bühne, auf der die Solo-Spielerin als Demiurgin, Hexe, Schamanin agiert. Urchristliche Texte rezitierend, gibt sie mit dem Kücheninstrumentarium hantierend die (Ent-)Schöpfung des Menschen. Ihr wichtigstes Darstellungsmittel ist ihr Körper selbst. Ent­blößung, Sezieren und Entäußern: Sie spuckt Wasser und Wein, füllt ihren Atem in Plastikbeuteln ab, mischt ihr Blut mit Haaren und Nägeln, zerteilt eine Zunge und spielt mit den Stücken. Unverständliche, liturgisch an­mutende Gesänge komplettieren die Aura des Okkulten und das Gefühl beschlich mich, einem geheimen Ritus beizuwohnen, in dem ein Dämon die Frage nach dem Menschen mit einem Rezept beantworten kann.

»PROGRAMM tot«. So beginnt ein Nachlassfragment Heiner Müllers zur »Todesanzeige«. Mit diesem und anderen Texten des Dramatikers war das Orphtheater zu sehen – letztmalig auf einem Festival. Denn es musste 2008 den Spielbetrieb einstellen. Gallige Ironie, dass man sich mit einem Todes-Spiel verabschiedet. Als die letzten Stunden des Sex-Pistols-Bassis­ten Sid Vicious angelegt, dominieren Punk und Pulp. Zwischenspiele wie Chorpassagen und Puppentheater setzen Kontrapunkte im bisweilen lauten und aggressiven Totentanz, der an der Überfrachtung und Lächerlichkeit eiskalt vorbeischrammt und genüssliche Kratzer auf der polierten Oberfläche der Mehrheitsmeinung hinterlässt.

Aber da fehlen doch jetzt ein paar Jahre!? Ganz richtig: Mehr Erinnerungen ehemaliger und aktueller Redakteure an die vergangenen Jahre der euro-scene gibt es im aktuellen November-kreuzer nachzulesen.


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