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Kultur

Kultur ist Zeitverschwendung!

Ein Essay über die Möglichkeiten und Grenzen kultureller Vielfalt und eine Kritik an der Kultur-Kritik

  Kultur ist Zeitverschwendung! | Ein Essay über die Möglichkeiten und Grenzen kultureller Vielfalt und eine Kritik an der Kultur-Kritik

Kulturraumgesetz, Kulturetat, Streichung von Zuschüssen. Alle diskutieren derzeit über die Kultur, vor allem über Kürzungen und die Frage, wie viele davon wir uns noch leisten können. Doch was kann und soll Kultur eigentlich leisten, als Beitrag zu Fortschritt und Wohlstand etwa? Solcherlei Fragen sehen sich jene permanent ausgesetzt, die der Kultur das Wort reden. Und sie haben so ihre Schwierigkeiten, den Mehrwert von Theater, Arthouse oder Videoinstallationen aufzurechnen. Denn augenscheinlich ist Kultur unnütz, bloße Zeitverschwendung. Na und? Vielleicht muss sie das ja gar sein! – meint und fragt zugleich unser Theaterredakteur Tobias Prüwer in seinem Essay.

Bereits bei der Frage nach dem Kultur-Begriff scheiden sich die Geister. Es ist erstaunlich, was alles unter diesem Titel firmiert. Man redet von Kulturgütern und Unternehmenskultur, Cafékultur und Kulturbeuteln; von Kulturbetrieb und -industrie ganz zu schweigen. Kultur bricht sich an jeder Ecke und auf allen Kanälen Bahn, hat selbst die alltäglichen Verrichtungen durchdrungen. Gibt es überhaupt noch einen Bereich der »Unkultur«? Wenn jedoch alles Kultur ist, warum sich um diese sorgen? Zielt dann nicht die Frage nach ihrem Zweck ins Leere?

Die vorrangig aus ökonomischer Perspektive formulierte Kultur-Kritik meint nicht die leicht konsumierbaren Kulturgüter. Nicht Bestseller und Blockbuster stehen unter Rechtfertigungszwang, sondern kulturelle Nischenexistenzen: die Orte sperriger Literatur, enigmatischer Theaterinszenierungen, abstrakter Kunst. Landläufig in Zweifel gezogen, sind aber gerade sie zu verteidigen. Es gilt nicht, einen Kulturkampf um den reinen Begriff auszufechten. Die puristische Bestimmung, die Kultur nur als elitäres Gedankenspiel auffasst, taugt ohnehin wenig. Natürlich gibt es Populärkultur und genügend Beispiele für miese »Hochkultur« wie gute Unterhaltung. Zwischen Kultur und Kitsch ist weder leicht, noch einheitlich zu unterschieden. Kultur lebt häufig vom Grenzgang. Man muss allerdings nicht erst Arte schauen um einzusehen, dass der Kulturbegriff sehr wohl mehr umfasst als Musicals im Zoopark oder Comedy im historischen Ballhaus. Nichts gegen Entertainment: Aber es darf auch mal ein bisschen mehr sein als Kommerz, Konsum und Konfektionsware.

Natürlich findet kulturelles Leben in der Freizeit statt, ist mitunter Zerstreuung und Vergnügen. Ihre Aufgabe ist aber mitnichten die Ablenkung von Berufsalltag oder sozialer Misslage. Sie ist kein Sicherungsmedium von Produktions- und Arbeitskraft, steht nicht im Dienste der Regeneration der Arbeitnehmerinnen, wie es von kulturpolitischer Seite oft formuliert wird. Kultur lässt sich nicht am Bruttosozialprodukt messen, nach Soll und Haben kalkulieren. Spielen ökonomische Aspekte stets eine gewisse Rolle, so darf die wirtschaftliche Perspektive weder die alleinige, noch dominante sein. Die Frage nach Nutzen und geldwertem Vorteil von Kultur ist nicht nur schief gestellt, sondern schlichtweg anmaßend. Die Kategorie der Nützlichkeit unterliegt der ökonomischen Brille, die hier gar keinen Platz hat. Man befragt die Betriebswirtschaft schließlich auch nicht nach Schönem oder Erhabenem.

Vielleicht lässt sich Kultur am besten im althergebrachten Sinn verstehen, nämlich als Geistes- und Gemütspflege. Bewusst vage gefasst, findet allerlei Platz unter diesem Dach, ohne alles als kulturelle Form ansehen zu müssen. Kulturelle Betätigung gestaltet sich demnach als geistiges Wachhalten, als Eröffnung gedanklicher Spielräume und Möglichkeiten der Kritik. So gesehen ist Kultur kein einigendes Band, sondern eine Vielfalt von Gestalten und Differenzen, weshalb es unsinnig ist, kulturelle Formen gegeneinander auszuspielen, etwa Sonette gegen Comic-Strips oder die Arien der italienischen Oper gegen Punk-Rock. In der Frage nach der Kultur sind weder intellektuelles Standesdünkel, noch naive Gleichmacherei eines »das verstehen wenigstens alle« angebracht. Natürlich gibt es viele Formen von Kultur, die je nach persönlichem Gusto primitiv oder abgehoben sind, oberflächlich oder subversiv. Genau hierin steckt das Potenzial von Kultur. Die Kämpfe zwischen den verschiedenen Kulturformen und -niveaus sind gerade nicht beizulegen, sie gehören dazu. In der Auseinandersetzung von Avantgarde und Massengeschmack zeigt sich Kultur selbst auch als Kultur-Kritik.

Eine solche entzündet sich völlig zu Recht am Leuchtturmprinzip derzeitiger Kulturpolitik, die einige wenige Institutionen ausgiebig finanziert und alle anderen mehr als stiefmütterlich behandelt. Dem liegt die politische Hoffnung zugrunde, dass Kultur nur ihrem Manipulationsbereich obliegt. Sie wird hier als strategisches Instrument verstanden, um einen Standort zu sichern, Menschen zu beruhigen und im gemeinschaftlichen Wir-Gefühl das Individuum aufzuheben. Deshalb bereiten Massen- und Eventkultur, obwohl sicherlich nette Zeitvertreibe, einiges Unbehagen.

Dabei betrifft Kultur in ihrer Wirkung den einzelnen Menschen. Sie bildet, indem sie es ermöglicht, sich zur Welt und zu sich selbst ins Verhältnis zu setzen. Sie spricht die Unterschiede an, hilft diese zu erkennen, mit ihnen zu leben, Konflikte zu ertragen. Gerade weil die Gesellschaft von sich ergänzenden und widersprechenden Differenzen durchzogen ist, zielt auch die unsägliche Debatte um eine deutsche Leitkultur ins Leere. Solchen Indoktrinationsversuchen steht Kultur nicht nur fremd, sondern feindselig gegenüber. Eine Kulturform für alle zu entwerfen bedeutet nichts anderes, als eine Zwangsjacke zu schneidern. Die Formen benötigen auch keine Mehrheit, eine Mehrheit aber braucht es für die Vielfalt der kulturellen Lebensformen; für amateurhafte und professionelle Kultur, die besinnliche, entsinnlichende und schöngeistige, schmutzige, tiefe und flache, die zarte und die derbe.

Die Betrachtung der Wirklichkeit durch das Spiel kultureller Formen bedeutet immer auch eine Infragestellung des Gegebenen. Kultur hält den Spiegel vor, sie ist ein Barometer mit Möglichkeitssinn, spielt auch gegen das Vergessen. Das Kulturelle ist der Ort der Verhandlung von sinnstiftenden, das Leben betreffenden Fragen. Das heißt natürlich nicht, dass ein Musikstück die Welt erklärt oder ein Theaterbesuch Nazis den Boden abgräbt. Kulturelle Institutionen sind weder pädagogische, noch moralische Anstalten und Kultur ist keine Sozialarbeit. Hier können aber Fragen aufgeworfen werden. Kultur weitet das Gesichtsfeld, kann in einem Sinne die Wirklichkeit sprengen, indem sie Gegenwelten entwirft und Neuem Ausdruck verschafft. Sie bietet alternative Blicke auf unsere Lebenszusammenhänge, entdeckt ungekannte Horizonte, schärft die Urteilskraft. So muss kulturelle Arbeit den Mächtigen zuweilen verdächtig erscheinen. Ihr Eigensinn macht sie auch lästig. Hierin gründet das Paradoxon der Kultur: Sie stellt Autoritäten und Institutionen infrage, von denen sie zum Teil finanziell abhängt. Aber solche Narrenfreiheit muss erlaubt sein, stellt dies doch ein wichtiges Element von Kultur dar, das zu verteidigen ist.

Ja, Kultur ist Zeitverschwendung, unnütz und nicht verwertbar. Na und? Sie hält die Balance zum haushaltenden Weltbild der Effizienz, in welchem Zeit sprichwörtlich Geld ist. Sie verweigert sich der Phantasielosigkeit von Abakus und Rechenschieber, ist kontra-produktiv. Im Übrigen übersieht die Frage nach dem Wozu der Kultur ihre eigene Naivität, nimmt sie doch an, Kultur sei mir nichts dir nichts abzuschaffen. Viel spannender ist doch zu fragen: »Was ohne Kultur?« Was ohne Tagträumereien und verschwenderisches Schwelgen? Was soll das für ein Mensch sein, der sich nicht auf die Welt einlassen kann, sich keine Zeit nimmt für das Spielerische, keine Fragen stellt? Ganz selbstbewusst also sollte sich Kultur verstehen lassen als »souveräne Zeitverschwendung«, so wie es Wilhelm Genazino in »Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman« beschreibt:

»Ich durfte mich zu meinem Leben als ein Lauschender verhalten. Ich durfte so lange in die Wirklichkeit hineinhören und hineinsehen, wie ich nur wollte.«


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