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Kultur

Ateliers auf Augenhöhe

Die Ausstellung »Inspirierte Orte > 100 Künstlerateliers in Leipzig« wirft einen Blick hinter die Leinwände

  Ateliers auf Augenhöhe | Die Ausstellung »Inspirierte Orte > 100 Künstlerateliers in Leipzig« wirft einen Blick hinter die Leinwände

Spartanisch, gemütlich oder chaotisch? Der Fotograf Christoph Sandig gewährt Einblick in über 100 Leipziger Künstlerateliers. Seine Porträts sind nun im Stadtgeschichtlichen Museum zu sehen.

»Ach du meine Güte, wie sieht es denn hier aus?!« Ein Panoramafoto hängt als begehbarer Raum im Erdgeschoss des Stadtgeschichtlichen Museums. Die ersten Besucherreaktionen sind eindeutig: Wer eintritt, versinkt im Chaos, im Atelier von Sebastian Gögel. Die Ausstellung »Inspirierte Orte>100 Künstlerateliers in Leipzig« gewährt Einblick in die privaten Arbeitsstätten von 107 Leipziger Künstlern. Fotograf Christoph Sandig besuchte sie allesamt in den vergangenen drei Jahren und präsentiert die Ergebnisse im Panoramaformat. Vertreten sind vom 2011 verstorbenen Bernhard Heisig über Hartwig Ebersbach, Sighard Gille, Markus Lüpertz, Annette Schröter, Michael Triegel, Oliver Kossack bis hin zu Schülern Neo Rauchs vier Künstlergenerationen, die er für sein ehrgeiziges Projekt begeistern konnte.

Spartanische Räume, gemütliche Wohnzimmer oder das totale Chaos – wie viel verrät der Zustand des Ateliers über den Künstler und sein Werk? Eines wird schnell klar: Hier wird gelebt und gearbeitet. Viele Ateliers sind geprägt von Flohmarktcharme, Improvisationstalent und erinnern an ein Materiallager. Industriearchitektur ist beliebt, das geschulte Auge kann einzelne Räume anhand der Fensterform auf dem Spinnereigelände oder im Tapetenwerk verorten. Chaotische Malerschlachten hängen neben hübsch anzusehenden Kunstsalons. Das blitzblanke Studio kontrastiert das Kelleratelier, Leinwände lehnen an der Wand, Kunstwerke sind im Stil der musealen Präsentation auf Sockeln ausgestellt.

Der Ausstellungsbesucher wird zum Detektiv, begibt sich auf Spurensuche in den realistischen Wimmelbildern und kann seiner Fantasie freien Lauf lassen: Das Bett von Axel Krause ziert ein Luftgewehr, Wolfgang Henne sitzt auf dem Hometrainer und verfolgt ein Radrennen. Fotograf Christoph Sandig gewährt nicht nur den Blick durch das Schlüsselloch, sondern liefert gleichzeitig ein Porträt des jeweiligen Künstlers. Gepaart mit den teilweise sichtbaren Werken geben die Fotografien so unzählige Hinweise auf das Kunst- und Selbstverständnis ihrer Bewohner.

Die Beschriftung informiert über Namen, künstlerisches Ausdrucksmedium, Geburtsjahr, Entstehungsjahr des Fotos und den Ausbildungsweg des Porträtierten. Der Anteil an Absolventen der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) ist immens, nur wenige Autodidakten und Kunsterzieher sind vertreten, fast alle sind in Leipzig ansässig. Auch Christoph Sandig studierte an der HGB und kennt die Kunstszene als Fotograf für Verlage, Museen und Künstler. Seit 1995 arbeitet er digital.

Seine Panoramaansichten scheinen auf den ersten Blick wie spontane Momentaufnahmen, sind jedoch im Nachhinein aus 16 bis 25 Einzelaufnahmen am PC zusammengesetzt. Alle Porträts eint folglich Format und Stil – das ist für die Aufmerksamkeitsspanne des Auges leider etwas ermüdend und täuscht zudem über die realen Größenverhältnisse der Räume hinweg. Bildhauer Olaf Teichmann arbeitet auf nur fünf Quadratmetern, doch diese Dimension wird nur mit räumlichem Vorstellungsvermögen vor dem inneren Auge deutlich.

So trifft visuelle Verfremdung auf nüchtern daherkommende Dokumentation. Diese gehört jedoch angezweifelt: Dass so mancher Künstler aufgeräumt hat, bleibt nicht verborgen. Auch der Moment der Selbstinszenierung ist offensichtlich: Matthias Klemm schaut als Zaungast von draußen rein, Titus Schade und Kommilitonen präsentieren sich selbstbewusst mit verschränkten Armen.

Die Künstler erscheinen als Staffagefiguren im eigenen Atelier, selten kollidieren das äußere Erscheinungsbild und die Gestaltung der vier Wände. Vertreten sind auch einige Doppelporträts: Künstlerkollegen, die sich den Arbeitsplatz teilen, Maler und Muse im Sinne des klassischen Topos. Spiegelarrangements führen zu netten »Bild im Bild«-Situationen und auch Sandig selbst ist auf einigen Panoramen versteckt.

Wir erfahren so manches über Macken, Vorlieben und Stil, die Personen selbst bleiben jedoch ungreifbar, der Arbeitsprozess unsichtbar. Denn das Atelier ist auch ein Ort des Ringens, des Scheiterns, ein hermetisch abgegrenzter und zugleich mit der Außenwelt in Bezug stehender Raum, oft ein zweites oder ein gleichzeitiges Zuhause, wie Waschmaschinen und Wäscheständer verraten.

Doch beim Interpretieren und Entschlüsseln ist Skepsis geboten: Ein Kinderwagen lässt nicht zwangsläufig auf die Vaterschaft des Künstlers schließen und eine Ansammlung von Wasserflaschen ist manchmal auch einfach ein Hinweis auf den fehlenden Wasseranschluss. Die uns umgebenden Räume bleiben eben doch stets eine Hülle, die zwar durch individuelle Entscheidungen, aber auch durch vorgefundene Bedingungen und ökonomische Mittel geprägt ist.


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