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Kultur

Kontroverse Gegenwartsstoffe

Die 62. Internationalen Filmfestspiele Berlin sind mit einem bemerkenswert starken Wettbewerb zu Ende gegangen

  Kontroverse Gegenwartsstoffe | Die 62. Internationalen Filmfestspiele Berlin sind mit einem bemerkenswert starken Wettbewerb zu Ende gegangen

Wieder einmal hat die Berlinale-Jury für eine Überraschung gesorgt: Vor allem der Goldene Bär für den italienischen Film »Cesare deve morire« (»Caesar Must Die«) von den Brüdern Paolo und Vittorio Taviani verwunderte viele Festivalbeobachter. Umso erfreulicher war, dass sich gleich zwei Deutsche unter den Preisträgern finden. Der Berliner Filmemacher Christian Petzold nahm gemäß den Erwartungen den Silbernen Bären in der Kategorie »Beste Regie« für seinen Film »Barbara« entgegen. Kameramann Lutz Reitemeier wurde für seine Arbeit an »Bai lu yuan« (»White Deer Plain«) ausgezeichnet. Ein kurzer Blick auf die Preisträger.

Volle Kinos, ein belebter Potsdamer Platz und immer wieder Blitzlichtgewitter: Die 62. Ausgabe der Berliner Filmfestspiele hat gestern nach zehn Tagen Filmeschauen und 300.000 verkauften Tickets ihren Ausklang gefunden. Nach den ganzen Spekulationen der vergangenen Tage hat die Jury um ihren Präsidenten, den britischen Regisseur Mike Leigh, am Samstagabend die diesjährigen Gewinner gekürt und damit auch für ein wenig Verwunderung gesorgt. Der Hauptpreis ging unerwartet an den italienischen Wettbewerbsbeitrag »Cesare deve morire« (»Caesar Must Die«) von den Regiebrüdern Paolo und Vittorio Taviani. In ihrem inszenierten Dokumentarfilm begleiten die beiden Filmemacher die sechsmonatige Probenarbeit zu Shakespeares Drama »Julius Caesar« in einem römischen Hochsicherheitsgefängnis. Das alternde Regie-Duo beobachtet das Theaterspiel der Gefängnisinsassen, in dem sich Stück und Realität immer stärker verwischen. Seit Jahren drehen die über 80jährigen Brüder gemeinsam Filme. Darunter waren viele politische Arbeiten wie ihr Welterfolg »Die Nacht von San Lorenzo« (1982), der auf die Zeit des Faschismus 1944 zurückblickt und eindrucksvoll zeigt, wie junge Männer eines Dorfes auf beide Seiten des Krieges geraten. Der Goldene Bär wirkt in Anbetracht der jahrzehntelangen Filmarbeit der Taviani-Brüder mehr als Auszeichnung für ihr Lebenswerk, als für den eher durchschnittlichen Wettbewerbsbeitrag.

Großer Preis für Sozialdrama um Roma-Familie

Eindrücklicher in Erinnerung bleiben dagegen einige der jüngeren Beiträge im Wettbewerb, die sich mit kontroversen Gegenwartsstoffen auseinandersetzen. Einer der großen Favoriten war für viele Journalisten das berührende Sozialdrama »Csak a szél« (»Just The Wind«) um eine Roma-Familie in Ungarn von Bence Fliegauf (»Womb«, 2011). Ausgehend von einer realen Mordserie dort, der 2008 und 2009 acht Menschen zum Opfer fielen, erzählt Fliegauf die Geschichte der beiden Geschwister Anna und Rio, ihrer Mutter Mari und ihrem Großvater. Die vierköpfige Familie wohnt in einem kleinen Dorf in der ungarischen Provinz, in denen Sintis und Romas gewaltreichen Übergriffen ausgesetzt sind. Erst vor kurzem wurde hier eine ganze Familie ausgelöscht. Für sein verstörendes und formal konsequentes Sozialdrama hat Fliegauf den Großen Preis der Jury erhalten. Seine Schauspieler hat der ungarische Filmemacher in abgelegenen, nur von Roma bewohnten Dörfern gefunden. Auch andere Regisseure im Wettbewerb setzten auf Laien. Die 15 Jahre alte Nachwuchsschauspielerin Rachel Mwanza gewann sogar den Silbernen Bären als beste Darstellerin. In »Rebelle« (»War Witch«) von Kim Nguyen spielt sie ein zwölfjähriges Mädchen, das in einem afrikanischen Land in einen blutigen Bürgerkrieg hineingezogen wird. Von Rebellen aus ihrem Heimatdorf entführt, wird sie gezwungen, sich als Kindersoldatin dem bewaffneten Kampf anzuschließen. Regisseurin Kim Nguyen erzählt mit einer kaum zu ertragenden Intensität vom Schicksal des jungen Mädchens.

Silberner Bär für Christian Petzold

Recht früh als ein Favorit gehandelt wurde Christian Petzolds DDR-Film »Barbara«, für den der Berliner letztlich den Silbernen Bären für die beste Regiearbeit ergatterte. Petzold erzählt darin die Geschichte einer Berliner Ärztin in der DDR Anfang der Achtziger Jahre. Barbara wird nachdem sie einen Ausreiseantrag gestellt hat, in ein Provinzkrankenhaus an die sommerliche Ostseeküste versetzt. Von dort aus plant sie mit ihrem westdeutschen Geliebten die Flucht. Doch je mehr Zeit sie an ihrem neuen Arbeitsplatz verbringt und sich ihrem Chef André (Ronald Zehrfeld) öffnet, umso mehr geraten ihre Fluchtpläne in den Hintergrund. Nach »Gespenster« (2005) und »Yella« (2007) stellte Christian Petzold bereits seinen dritten Film im Wettbewerb der Berlinale vor. Waren Petzolds Filme bislang von einer kühlen Tristesse bestimmt und einem konstanten Grauschleier überzogen, überrascht er in »Barbara« mit farbenprächtigen Bildern und einer hoffnungsvollen Geschichte.

Die Berlinale als politisches Festival

»Nur« eine lobende Erwähnung erhielt der Beitrag der Schweizerin Ursula Meier. In ihrem zweiten Kinofilm »L'enfant d'en haut« (»Sister«) widmet sie sich einem bizarren Geschwister-Duo, das am Rande einer Touristenhochburg in den Schweizer Alpen sein Dasein in einem unwirtlichen Wohnblock fristet. Während der zwölfjährige Simon tagtäglich in der Wintersaison mit der Seilbahn auf die Berge fährt, um schwerreichen Touristen Skier und Ausrüstung zu klauen, die er dann weiterverkauft, lebt Louise, nachdem sie ihren Job verloren hat, in den Tag hinein. Allein der Junge kommt für den Lebensunterhalt der beiden auf. Meiers Film über eine verlorene Jugend und die klaffende Lücke zwischen Arm und Reich überzeugte nicht nur durch seine großartige Machweise, sondern vor allem durch die herausragende Schauspielarbeit von Kacey Mottet Klein und Lea Seydoux. Insgesamt beeindruckte der diesjährige Wettbewerb durch eine Vielzahl engagierter Filme, die sich gesellschaftlichen Zerwürfnissen und politischen Widersprüchen rund um den Erdball widmeten. Damit ist die Berlinale ihrem selbsterklärten Anspruch gerecht geworden, ein politisches Filmfestival zu sein. Bleibt zu hoffen, dass viele Filme ihren Weg auch in die deutschen Kinos finden werden. Den Auftakt macht Petzolds Film »Barbara«. Der wird bereits ab dem 8. März über hiesige Leinwände flimmern.

Die Preise der Internationalen Jury in der Übersicht: GOLDENER BÄR FÜR DEN BESTEN FILM »Cesare deve morire« (»Caesar Must Die«) von Paolo & Vittorio Taviani

GROSSER PREIS DER JURY – SILBERNER BÄR »Csak a szél« (»Just The Wind«) von Bence Fliegauf

SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE REGIE Christian Petzold für »Barbara« (»Barbara«)

SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE DARSTELLERIN Rachel Mwanza in »Rebelle« (»War Witch«) von Kim Nguyen

SILBERNER BÄR FÜR DEN BESTEN DARSTELLER Mikkel Boe Følsgaard in »En Kongelig Affære« (»A Royal Affair«) von Nikolaj Arcel

SILBERNER BÄR FÜR EINE HERAUSRAGENDE KÜNSTLERISCHE LEISTUNG Lutz Reitemeier für die Kamera in »Bai lu yuan« (»White Deer Plain«) von Wang Quan'an

SILBERNER BÄR FÜR DAS BESTE DREHBUCH Nikolaj Arcel, Rasmus Heisterberg für »En Kongelig Affære« (»A Royal Affair«) von Nikolaj Arcel

ALFRED-BAUER-PREIS, in Erinnerung an den Gründer des Festivals, für einen Spielfilm, der neue Perspektiven der Filmkunst eröffnet »Tabu« (»Tabu«) von Miguel Gomes

SONDERPREIS – SILBERNER BÄR »L'enfant d'en haut« (»Sister«) von Ursula Meier


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