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Filmkritik

Plastikplattenspieler statt Megafon

Wes Anderson widmet sich in gewohnter Weise in »Moonrise Kingdom« einer leidenschaftlichen wie komischen Pfadfinderliebe

  Plastikplattenspieler statt Megafon | Wes Anderson widmet sich in gewohnter Weise in »Moonrise Kingdom« einer leidenschaftlichen wie komischen Pfadfinderliebe

Wes Andersons neuer Film zeigt wiedermal eine wunderbar skurrile Geschichte mit wahrem Kern und Liebe zum Detail. Und einem ungewöhnlichen Schauspielerensemble von Edward Norton bis Bruce Willis.

Die Kamera schwenkt langsam von links nach rechts: Ein kleiner Junge läuft in ein Kinderzimmer, stellt akkurat seinen batteriebetriebenen Schallplattenspieler in die Mitte des Zimmers und legt Leonard Bernsteins »The Young Person's Guide to the Orchestra« auf. Seine beiden Brüder kommen herbeigeeilt und auch die große Schwester Suzy (Kara Hayward). Gedankenverloren lauschen die Geschwister der Musik. Aus diesem Kinderzimmer heraus entspinnt Wes Anderson in seinem neuen Machwerk »Moonrise Kingdom« eine wunderbar skurrile Geschichte über das Erwachsenwerden und die erste große Liebe.

Helle Aufruhr

Anderson hat seine Geschichte auf einer kleinen Insel vor der Küste Neuenglands im Spätsommer 1965 angesiedelt. Hier geht alles seinen geregelten Gang, vor allem im Pfadfinderlager von Scout Master Ward (Edward Norton). So perfekt wie der Tagesablauf im Camp durchgeplant ist, so perfekt sitzen auch die Uniformen seiner Schützlinge. Eines Morgens entdeckt Ward, dass einer der Jungs ausgebüchst ist. Ausgerechnet Sam Shakusky (Jared Gilman) – der Zwölfjährige mit dicker Brille und Biberfellmütze ist nicht sonderlich beliebt im Lager. Was niemand weiß, Sam ist mit der gleichaltrigen Suzy, seiner großen Liebe, durchgebrannt. Gemeinsam kämpfen sich die beiden Teenies mehr oder weniger gekonnt durch die raue Küstenlandschaft. Während Suzy einen Koffer voller Lieblingsbücher und den Plattenspieler des Bruders mitschleppt, kümmert sich Sam ganz pfadfindergleich um den Komfort und die Romantik bei ihrem Abenteuer. Versunken in ihrer ganz eigenen Welt zwischen Zeltromantik und ersten leidenschaftlichen Erfahrungen, bekommen Sam und Suzy gar nicht mit, was um sie herum geschieht. Nicht nur das Pfadfinderlager Camp Ivanoe ist in heller Aufruhr. Mittlerweile haben auch Suzys Eltern (Frances McDormand und Bill Murray) mitbekommen, dass ihre Tochter verschwunden ist. Zusammen mit dem Dorf-Sheriff Sharp (Bruce Willis) machen sich alle auf die Suche nach den Verliebten. Was folgt ist eine abenteuerliche Jagd, in deren Folge Blitzeinschläge, Überschwemmungen und eine nicht lizenzierte Hochzeit unter der Leitung von Commander Pierce (Harvey Keitel) noch wichtig sein werden.

Komisches Potential

Ein Jahr lang schrieb Wes Anderson gemeinsam mit Roman Coppola an dem Drehbuch zu »Moonrise Kingdom«, acht Monate lang suchte er nach den jungen Hauptdarstellern. Die junge Kara Hayward überzeugt in der Rolle der dramatisch-depressiven Suzy genauso wie Jared Gilman als geplagter Freidenker Sam und das, obwohl beide keinerlei Filmerfahrung haben. Unterstützt werden die Debütanten von einem Ensemble, das Anderson neben Weggefährten wie Bill Murray auch wieder mit Schauspielergrößen besetzt, die eher untypisch für die skurrile Welt sind, die der US-amerikanische Regisseur in seinen Filmen schafft. Dass Adrien Brody für »Darjeeling Limited« (2007) gecastet wurde, überraschte genauso wie dieses Mal Edward Norton oder Bruce Willis. Beide sind nicht gerade bekannt für ihr komisches Potential.

Leichter Gelbstich

Andersons Filme funkeln aus Hunderten von Filmen durch ihre unvergleichliche Machar heraus  – die eigenwillige Kameraführung, die originelle Farbgebung, die wiederkehrende Detailliebe und die immer gleichen Themen in veränderten Settings. Anderson nimmt sich viel Zeit, den Zuschauer in sein Universum, sein Moonrise Kingdom, einzuführen. So ist der Film von einem leichten Gelbstich überzogen, alles ist stilistisch und farblich aufeinander abgestimmt – im Liebesdomizil der beiden Zwölfjährigen in einer entlegenen Bucht, das sie »Moonrise Paradise« taufen, genauso wie in Suzys Elternhaus. Ähnlich wie in den Vorgängerfilmen tragen die Charaktere stets die gleiche Kleidung. Tragen die Figuren in »The Royal Tenebaums« (2001) Erwachsenenversionen ihrer Kinderkleider, etwa die roten Trainingsanzüge, so erscheinen in »Moonrise Kingdom« die Pfadfinderuniformen wie eine zweite Haut.

Familie ist ein Urteil, das jeder für sich aushalten muss – Andersons Themenschwerpunkt, schon bei den Tenenbaums und auch in seinem neuen Film, zieht sich durch seine Arbeiten wie ein Leitmotiv. Immer wieder taucht Anderson in die Kindheit seiner Protagonisten ein und schaut auf familiäre Verstrickungen als Ursachenherd für die Macken seiner Figuren. Dieses Mal widmet er sich ganz der kindlichen Welt und baut diese als Gegenpart zu der der Erwachsenen auf. Das einzige, was sich Suzys Eltern noch zu sagen haben, sind gegenseitige Vorwürfe – bezüglich der Kindererziehung, alltäglicher Erledigungen und darüber, wie sie eben sind. Geredet wird hier ohnehin nur noch per Megafon. Klar, dass Sam und Suzy das einzig Vernünftige tun: Sachen packen und der Erwachsenenwelt den Rücken kehren – und in ihrem »Moonrise Paradise« am Strand und bei Lagerfeuer zu Françoise Hardys »Le Temps de l'Amour« ekstatisch tanzen.

 


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