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Kinder & Familie

»Bestimmte Kinder fallen durchs Raster«

Der Kinderpsychiater Kai von Klitzing über Psychoanalyse in Entwicklungsländern und Leistungsdruck an sächsischen Schulen

  »Bestimmte Kinder fallen durchs Raster« | Der Kinderpsychiater Kai von Klitzing über Psychoanalyse in Entwicklungsländern und Leistungsdruck an sächsischen Schulen

Auf dem 13. Weltkongress der World Association for Infant Mental Health (WAIMH) in Kapstadt wurde der Leipziger Professor Kai von Klitzing zum Präsidenten der Organisation gewählt. Der kreuzer sprach mit dem Direktor der Leipziger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie über die Anliegen seiner Organisation und den Sinn und Zweck seiner Forschungen.

kreuzer: Wer und was verbirgt sich hinter der Weltorganisation für psychische Gesundheit im Kleinkindalter?

KAI VON KLITZING: Auf den alle zwei Jahre stattfindenden Weltkongressen tragen Wissenschaftler aus der ganzen Welt die neuesten Forschungsergebnisse zur frühkindlichen Entwicklung zusammen. Dies betrifft sowohl das geistige und seelische Wachstum wie die körperliche Entwicklung. Unser Anliegen ist es, dieses Know-how zu vermitteln und an die Mediziner, Psychologen, Pädagogen, Pflegefachkräfte oder Hebammen vor Ort weiterzugeben.

kreuzer: 2010 konnten Sie den Kongress nach Leipzig holen, im April dieses Jahres fand er in Südafrika statt. Was kann eine Methode wie die Psychoanalyse, die ihren Ursprung im kulturellen Kontext Europas hat, in Entwicklungsländern bewirken?

VON KLITZING: Für ökonomisch schlechter gestellte Länder gilt wie für Industrieländer gleichermaßen: Die ersten drei Lebensjahre sind prägend für die spätere seelische Entwicklung, die Intelligenz sowie die Moralentwicklung eines Menschen. Das hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Natürlich kann man im Umfeld einer massiven Überlastungssituation, in einer Umgebung, in der es am Nötigsten fehlt, keine feinstrukturierten psychotherapeutischen Maßnahmen durchführen.

kreuzer: Wie sieht das in der Praxis aus?

VON KLITZING: Ein wesentlicher Teil eines unserer Interventionsprojekte besteht darin, Familienkrankenschwestern oder Hebammen auszubilden, denen wir unser Wissen über frühkindliche Bindung und Emotionsregulierung vermitteln. Diese Fachpersonen suchen einmal wöchentlich bedürftige Familien auf und schulen sie auch in ganz einfachen Dingen der Säuglingspflege. Diese Hausbesuchsprogramme sind inzwischen international recht gut erforscht und ihre Wirksamkeit ist durch Vergleiche mit Kontrollgruppen nachgewiesen. Wir können also mit Gewissheit sagen: Diese Arbeit ist wirksam und hat positiven Effekt auf die Entwicklung der Kinder. Die besten Ergebnisse erzielt man, wenn diese frühe Unterstützung der Bezugspersonen durch strukturelle Maßnahmen flankiert wird. Wenn also neben den Hausbesuchen etwa der Betreuungsschlüssel pädagogischer Einrichtungen verbessert wird.

kreuzer: Welche Bedeutung haben Ihre Forschungsergebnisse für Leipzig?

VON KLITZING: Auch hier gibt es Kinder, denen die Erfahrung positiver Beziehungen fehlt. Diese Kinder haben dann im Kindergarten Schwierigkeiten, Konflikte zu bewältigen, und reagieren bei einem Streit unter Gleichaltrigen schneller aggressiv. Wichtig ist, die gesunde Entwicklung der Kinder möglichst früh zu fördern und als Therapeut der Entwicklung nicht nur hinterherlaufen zu müssen.

kreuzer: Wie beurteilen Sie die Häufung von ADHS-Diagnosen hierzulande?

VON KLITZING: Meines Erachtens wird diese Diagnose viel zu häufig gestellt. Unser Leben ist für Kinder, die mehr Aktivität brauchen, nicht besonders gut geeignet, überall stoßen sie auf Grenzen. Noch dazu sind unsere Schulen schon vom 1. Schuljahr an extrem leistungsorientiert und kompetitiv. Und so fallen bestimmte Kinder dann durchs Raster. Gerade in Sachsen sind wir stolz auf die PISA-Ergebnisse, aber alle ostdeutschen Bundesländer haben einen hohen Anteil an Sonderschulen. Dieses Aussortieren ist kritisch zu sehen. Nicht zuletzt kostet auch dies zusätzliches Geld, das man lieber für frühzeitige Hilfestellungen ausgeben sollte.

kreuzer: Wie sehen Sie die finanzielle Situation für solche Hilfsmaßnahmen in Leipzig?

VON KLITZING: Ich habe gute Ansprechpartner im Rathaus und auch im Jugendamt; es ist nicht so, dass darüber nicht nachgedacht wird. Es ist im Grunde auch genug Geld da, es wird nur nicht gezielt genug eingesetzt. Mir fehlt es oft an einem einheitlichen Konzept und an Qualitätsstandards. Als Wissenschaftler ist es mir wirklich ein Anliegen, dass die Arbeit der verschiedenen Programme auch evaluiert wird. Dann können wir für spürbare Verbesserungen sorgen und so auf lange Sicht etwa Kriminalität vorbeugen und damit das Geld sparen, das für die Auswirkungen von Vernachlässigung ausgegeben werden müsste.


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