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Kultur

Sechs Richtige

Es muss nicht immer Schöne Literatur sein: Ein halbes Dutzend Sachbücher für die Sommerferien – nicht nur bei Regen

  Sechs Richtige | Es muss nicht immer Schöne Literatur sein: Ein halbes Dutzend Sachbücher für die Sommerferien – nicht nur bei Regen

Viele so genannte Qualitätszeitungen drücken ja im August ihren bildungsbeflissenen Lesern eine Lektüre-Liste aufs Auge, die während der Ferien abzuarbeiten ist. Die Zeit zum Beispiel lässt in diesem Jahr mehr oder weniger prominente Schriftsteller und Publizisten ihre Lieblingsklassiker vorstellen; darunter sind Klopper wie Boris Pasternaks »Doktor Schiwago« (800 Seiten) oder Heimito von Doderers »Die Dämonen« (1360 Seiten). An sich ist das, zumal angesichts des verregneten Sommers, ein begrüßenswerter Service, den auch wir unseren Lesern nicht vorenthalten wollen. Weil aber aufgrund gewisser Vorlieben unseres dünkelhaften Literaturedakteurs in so ziemlich jeder Ausgabe des kreuzer ohnehin eine Klassiker-Rezension erscheint, legen wir Ihnen lieber sechs besonders lesenswerte Sachbücher ans Herz. Wir fangen bei den ersten Menschen an und hören mit den letzten Errungenschaften des Sozialismus auf. Schauen Sie einfach mal, sicher ist auch etwas für Sie dabei. In den letzten vierzig Jahrtausenden ist ja doch einiges passiert.

Roman der Menschheit

Warum sind vor 40.000 Jahren unsere Vorfahren, die Cro Magnon-Menschen, aus Afrika nach Europa eingewandert? Was passierte, als sie dort auf die Neandertaler trafen? Wie konnten sie die Eiszeit überleben? All diese Fragen und noch mehr beantwortet der Paläoanthropologe Brian Fagan in »Cro-Magnon«, und das nicht nur unter Heranziehung der neuesten Erkenntnisse von Archäologie, Klimaforschung und Molekularbiologie, sondern auch mit beachtlichem Erzähltalent. Besonders in der Gegenüberstellung mit den Neandertalern (die keineswegs so tumb waren, wie man ihnen lange unterstellt hat) wird deutlich, was den modernen Menschen ausmacht: Während es der Homo neanderthalensis in den immerhin 100.000 Jahren seiner Existenz zum Beispiel nicht fertig brachte, die Nähnadel zu entwickeln, sicherte diese unscheinbare Erfindung dem Homo sapiens im unwirtlichen Eiszeit-Klima das Überleben, weil sie ihn in die Lage versetzte, hocheffiziente Outdoor-Kleidung herzustellen, die sich von unserer heutigen unwesentlich unterschied. »Cro-Magnon« ist weit mehr als ein populärwissenschaftliches Lehrbuch, sondern der Roman der Menschheit.

Brian Fagan: Cro-Magnon. Das Ende der Eiszeit und die ersten Menschen. Aus dem Englischen übersetzt von Bettina von Stockfleth. Stuttgart: Konrad Theiss Verlag 2012. 288 S., 29,95 €

Die kultivierteste Frau Europas

Angelika Kauffmann (1741 – 1807) gehört zu den ganz wenigen weiblichen Wunderkindern des an Wunderkindern ja nicht gerade armen 18. Jahrhunderts. Ihre glänzende Karriere als Malerin verdankt sich jedoch nicht allein ihrem außerordentlichen Talent und der Förderung durch den Vater, sondern auch ihrer eigenen Durchsetzungskraft und nicht zuletzt ihrer Geschäftstüchtigkeit. Als eine europäische Berühmtheit wurde Angelika Mitglied der berühmten Accademia di San Luca in Rom und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Royal Academy in London. Der »kultiviertesten Frau Europas«, wie Johann Gottfried Herder sie nannte, hat die Kunsthistorikerin Gabriele Katz eine fachlich fundierte, reich bebilderte und spannend zu lesende Biografie gewidmet. Natürlich ist über die Kauffmann schon allerlei geschrieben worden, auch Romane, aber mit Katz’ Monografie liegt endlich ein Standardwerk vor, auf das Fachleute und Laien gleichermaßen zurückgreifen können.

Gabriele Katz: Angelika Kauffmann. Künstlerin und Geschäftsfrau. Stuttgart: Chr. Belser 2012. 184 S., 24,95 €

Genie gegen Kunst und Krempel

Und noch einmal Kunst und Krempel – obwohl, nein, das stimmt nicht: Denn gerade den Krempel und Nippes wollte Henry van de Velde (1863 – 1957) ja weg haben. Seine Ideen und sein Werk erschöpften sich denn auch keineswegs im Kunstgewerblichen. Der kleine Belgier war ein maßgeblicher Wegbereiter des Jugendstils und als Gründer der Kunstgewerbeschule Weimar einer der Väter des berühmten Bauhaus. Während der avangardistische Star-Designer in Berlin, Weimar, Dresden und sogar Gera und Chemnitz (Villa Esche) architektonische Spuren hinterlassen hat, sucht man danach in Leipzig seltsamerweise vergebens. Ein guter Grund, sich Ursula Muschelers schöne Monografie über Leben und Werk des exzentrischen Genies zu Gemüte zu führen, dessen 150. Geburtstag nächstes Jahr mit zahlreichen Ausstellungen begangen wird.

Ursula Muscheler: Möbel, Kunst und feine Nerven. Henry van de Velde und der Kultus der Schönheit 1895 – 1914. Berlin: Berenberg Verlag 2012. 192 S., 25 €

Statistik des Grauens

Der Holocaust-Forscher Peter Longerich erklärte die Behauptung vieler Nachskriegsdeutscher, sie hätten die Judenverfolgung nicht oder nur am Rande mitbekommen, als Versuch, »sich jeder Verantwortung für das Geschehen durch ostentative Ahnungslosigkeit zu entziehen«. Dass in Wahrheit jeder, der nicht wegsah, ziemlich viel hat wissen können, belegt ein außergewöhnliches Dokument, das bereits 1936 erschienen ist und nun in neuer und erweiterter Form im Laika-Verlag erschienen ist. In »Das deutsche Volk klagt an« hat der Journalist Maximilian Scheer (1896 – 1978), der in Wahrheit Walter Schließer hieß, Ziele, Methoden und Maßnahmen der Nazis mit buchhalterischer Gründlichkeit zusammengestellt. Dem umfangreichen Band war sogar eine Übersichtskarte der Konzentrationslager in Deutschland beilgelegt. Eine grauenhafte Bestandsaufnahme, eine Statistik des Grauens, die zeigt, wie unbeirrt und effizient die Nationalsozialisten bereits drei Jahre nach der »Machtergreifung« ihre Pläne umsetzten, und dass dies keineswegs im Verborgenen geschah.

Das deutsche Volk klagt an. Hitlers Krieg gegen die Friedenskämpfer in Deutschland. Ein Tatsachenbericht (Originaltitel 1936); anonym erschienen; geschrieben von Maximilian Scheer, unter Mithilfe zweier Mitarbeiter, die namentlich unbekannt geblieben sind, wahrscheinlich jedoch Erich Birkenauer und Bruno Meisel waren. Erweiterte Neuausgabe 2012. Herausgegeben von Katharina Schleper. Hamburg: LAIKA Verlag 2012. 406 S., 24, 90 €

Nichts für Nostalgiker

Neulich hat der »Forschungsverbund SED-Staat« der FU Berlin herausgefunden, dass etwa 40 Prozent aller Schüler nicht wissen, ob die DDR ein demokratisches oder ein diktatorisches System war, auch zwischen Hitler und Honecker unterscheidet unsere Jugend nicht so genau. Woran liegt das? Zu wenig Geschichtsunterricht? Unfähige Lehrer? An geeignetem Lehrmaterial mangelt es jedenfalls nicht: So bietet etwa das Begleitbuch zur Ausstellung »Alltag: DDR« in Eisenhüttenstadt einen umfassenden Einblick in das Leben im Arbeiter- und Bauernstaat. Statt dürrer historischer Daten steht dabei die Alltagskultur im Vordergrund, und möglicherweise bieten gerade die materiellen Relikte, von NVA-Kunststoffsoldaten über »Mondos – Gold« (VEB Gummiwerke Werber Lambertz) bis zum Walkman »Tramp«, einen besonderen Anreiz zur Beschäftigung mit der DDR. Zudem verzichten die Autoren der begleitenden Essays auf wissenschaftlichen Jargon und bereiten ihre Themen so verständlich und lebendig auf, dass nicht nur Schüler ihre Freude daran haben. Für hartnäckige DDR-Nostalgiker dürfte das allerdings nicht gelten.

Alltag: DDR. Geschichten / Fotos / Objekte. Berlin: Christoph Links Verlag 2012. 336 S. ,19, 90 €

»Über den Wolken...«

war und ist die Freiheit leider auch nicht grenzenlos, in der DDR noch weniger als anderswo. Denn wer wann wohin flog, bestimmte einzig und allein das Ministerium für nationale Verteidigung. Mit stupender Sachkenntnis und akribischer Ausführlichkeit stellt Klaus Breiter in »Vom Fliegen und Landen« die Geschichte der ostdeutschen Zivil-Luftfahrt von Otto Lilienthals ersten Flugversuchen bis zum geplanten Großflughafen Berlin Brandenburg dar. Naturgemäß legt er den Schwerpunkt auf die Geschichte der Interflug und beleuchtet damit einen hochinteressanten Aspekt der DDR-Geschichte. Dabei fördert er manche (jedenfalls dem Laien) bisher unbekannte und überraschende Fakten zu Tage: Dass zum Beispiel die türkischen Gastarbeiter gerne mit der Interflug nach Westberlin gereist sind oder die kameradschaftliche Zusammenarbeit der Interflug mit den Klassenfeinden von der Bundesluftwaffe bei UNO-Hilfseinsätzen in Äthiopien. Nicht zuletzt das vielfältige Bildmaterial, das sich auf jeder Seite findet, macht »Vom Fliegen und Landen« zu einem wunderbaren Geschenk, beileibe nicht nur für Planespotter.

Klaus Breiter: Vom Fliegen und Landen. Zur Geschichte der ostdeutschen Luftfahrt. Leipzig: Passage-Verlag 2012. 328 S., 35 €


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