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Kultur

Björn und die Blumen des Bösen

Ein tänzerischer Höhepunkt beendete die Euro-Scene. Vor allem das Sprechtheater punktete

  Björn und die Blumen des Bösen | Ein tänzerischer Höhepunkt beendete die Euro-Scene. Vor allem das Sprechtheater punktete

Die 22. Euro-Scene ist passé, die Zahlen der Abschluss-Statistik lesen sich positiv. Mit rund 6.500 Zuschauern erreichte das Festival eine Auslastung von 96,4 Prozent. Das dürfte keinen Grund zum Klagen geben, wären da nicht die klammen Finanzaussichten fürs nächste Jahr. Mit dem Wegfall des Hauptsponsors BMW wird das Budget weit geringer ausfallen. Doch darum mochte man sich in diesem Jahr noch nicht scheren und konnte ein insgesamt überzeugendes Programm erleben.

Den furiosen Festivalauftakt machte Romeo Castelluccis berührendes Stück »Über das Konzept des Angesichts von Gottes Sohn«. Die Peterskirche ist zum Bühnenraum umfunktioniert. Eine Landschaft aus weißer Wohnungseinrichtung baut sich im Vordergrund auf: Sitzecke mit Fernseher, Küchentisch, Doppelbett. Bühnenarbeiter tragen einen schlohweißen Alten herein, setzen ihn aufs Sofa. Das Spiel um die Zerbrechlichkeit und das Elend, das auch Teil der menschlichen Existenz ist, beginnt. Liebevoll kümmert sich der Sohn des Alten um seinen Vater und will gerade ins Büro eilen, da passiert dem von Inkontinenz geschlagenen Greis eines seiner Darm-Ungeschicke. Jammernd entschuldigt er sich, während der geduldige Sohn Wischeimer und Windeln holt. Schwer auszuhalten sehen sich diese hyperrealistisch von einem hervorragenden Duo gespielten Sequenzen an und doch sind sie nicht nur in Pflegeheimen Alltag. Über diesen fast dokumentarisch anmutenden, ausgedehnten Augenblicken des Leidens thront das Antlitz Christi als gigantisches Renaissance-Gemälde. Stoisch blickt dieses Gesicht auf das Bühnengeschehen wie auf das Publikum; man kann den Blick einfach nicht von ihm lösen, auch wenn das Porträt selbst später bespielt wird. – Castellucci lässt keinen Zuschauer unbewegt zurück.

Das Stück über die Gebrechlichkeit des Menschen zeigte auch den Schwerpunkt der diesjährigen Euro-Scene: Insbesondere die Sprechtheaterinszenierungen überzeugten. So erschuf das Vilniuser Theater OKT auf der Grundlage von Shakespeares »Der Sturm« einen beklemmenden Kampf zweier Menschen mit der eigenen Isolation. Eingepfercht in eine windumtoste Wohnzimmerwelt suchen ein Vater und seine geistig behinderte Tochter in der zunehmend surrealer werdenden Inszenierung nach Fünkchen von Freiheit. Um eine solche geht es auch der Gruppe Qendra Multimedia aus Prishtina. Im chorisch gespickten Episoden-Stück »Yue Medlin Yue« tritt eine aus Deutschland abgeschobene Roma-Familie auf. Ihre schwierigen Versuche im Kosovo Fuß zu fassen, werden dabei ganz ohne Balkan-Exotik in betroffen machender Eindringlichkeit sichtbar. Aufklärerisch abgedreht fiel das Puppenstück »Jenseits von Gut und Böse« (Regie: Dirk Vittinghoff) aus, das nach Sinn und Unsinn von Religion fragte. In einem Alpenort kümmert sich Pfarrer Gunther um die »verirrten« Seelen. Auch der Neonazi Björn ist mit von der pastoralen Partie. Doch Lust auf Friede, Freude, Apfelkuchen hat Björn beim Spiel mit den Blumen des Bösen so recht nicht. Doch ganz so harmlos ist selbst der Pfarrer nicht, von den Mittherapierten ganz zu schweigen. Mit ironischem Besen wird dabei vor allem die individuelle Selbstsetzung herausgekehrt.

Eher enttäuschend, weil die Idee hinter ihnen nicht sichtbar wurde, fielen einige Tanzproduktionen aus. So fehlte es der Produktion »Herbstzeitlose« des Bielefelders Rainer Behr, ein langjähriger Tänzer bei Pina Bausch, jenseits der tänzerischen Perfektion an einer schlüssigen dramaturgischen Klammer. Am Sonntag dann bewies die Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker zum Festivalabschluss, dass es auch anders geht. Die Inszenierung der Belgierin beginnt »En Atendant« als Zeitreise: Auf der dunklen, spärlich beleuchteten Bühne bewegen sich die acht Tänzer zu mittelalterlich anmutenden Klängen in Schritten, die Menuett-Anteile haben. Sich spiegelnde Figuren stehen am Anfang dieser Choreografie, in deren auch stille Bilder mehr und mehr individuelle Ausbrüche gewebt sind. Eine alte Ordnung zerstörend, gipfeln anarchische Momente im kraftvollen Aufbruch des Individuums. Dann bilden sich neue eindrucksvolle Sinnzusammenhänge heraus, anmutige Konstellationen im Stadium zerbrechlicher Harmonie. Dass das Dunkel auch Neubeginn birgt, mag man angesichts der prekären Finanzlage als hoffnungsvolles Omen für die Euro-Scene 2013 annehmen.


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