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Kultur

Keine Feuerpause, Theater wird gemacht

Frontbericht vom Jahrtausendfeld

  Keine Feuerpause, Theater wird gemacht | Frontbericht vom Jahrtausendfeld

Seit einer Woche hat das Millennium Front Theater seine Zelte auf dem Jahrtausendfeld aufgeschlagen. Für Gott und Kanzlerin, Subcomandante Marcos und selbstermächtigte Muffins. Frontbericht, der Erste.

»Ich kann dich sehen. Du stehst auf der anderen Seite, ich beobachte dich – jede Nacht.« Blind steht man mitten auf dem Jahrtausendfeld, mit verbundenen Augen zu irgendeinem Flecken geführt und lässt die Einflüsterungen über sich ergehen. Es regnet, der Wind zerrt an der Bekleidung, die beschwörende Stimme bewegt sich um einen herum. »Dir ist kalt. Einsam, verloren stehst du auf deinem Posten.« Genauso fühlt es sich an.

Diese eindringliche Anrufung durch einen unsichtbaren Feind ist ein Teil der ersten Präsentationswoche des Millennium Front Theaters MFT. Dieses hat sich für drei Wochen auf dem Jahrtausendfeld eingegraben, um Frontstudien zu betreiben. Auf zwei Jahre ist das Projekt »Völkerschlachten« der Schaubühne und des Bonner Fringe Ensembles angelegt. Bereits im Oktober haben neun Autoren verschiedener Herkunft mit Schauspielern eine Arbeitsgrundlage verabredet, nun werden im fiktiven Heerlager Texte geschrieben. Hier vor Ort werden sie von Leipzigern Material sammeln und spielerisch auch vor Publikum erproben. In späteren Etappen soll das in eine Theaterinszenierung münden. Die Völkerschlacht dient nur als Anlass, um sich mit dem Krieg bis in die Gegenwart auseinanderzusetzen.

»Das Schlachten hat ja nie aufgehört«

»Das Schlachten hat ja nie aufgehört«, erklärt Schaubühnen-Vorstand René Reinhardt. »Daraus resultiert die Idee des ewigen Fronttheaters, das durch alle Zeiten unterwegs ist. In einer Art Frontarchiv sammeln wir Geschichten und Figuren, die auch durch die Historie springen können – wenn den Autoren und Schauspielern das beliebt.« Das Zusammenwirken von zehn Nationen soll zu theatralen Tableaus verschmelzen, die 2014 hierher zurückkommen werden, wenn eines anderen Blutbads gedacht wird: des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs. Das MFT ist nach eigener Aussage immer da, wo sich Fronten auftun, womit nicht nur die Kriege gemeint sind, sondern auch ganz persönliche Fronterlebnisse als Aufhänger dienen können. So hängt in der dazugehörigen Ausstellung die Bestrahlungsmaske eines jungen Leipzigers, der sich an der Krebs-Front behauptet. Weitere Artefakte werden noch gesucht.

Die Premiere am Dienstag beginnt mit einem Fahnenappell auf dem Jahrtausendfeld. Nach dem Einlass erklärt Laila Nielsen mit knackigen Worten (Text von Lothar Kittstein) uns vollsanierten, Espresso mit Milchschaum schlürfenden Schlappschwänzen erst mal, wo der Hammer hängt, und will uns zu Männern, richtigen Männern machen, »auch die Frauen!« Für Gott und Kanzlerin. Laut, bedrohlich und im Grunde ein Zerrspiegel der Drill-Instructor aus »Full Metal Jacket« oder ähnlichen Streifen. Mitleid gibt es nur für den Verteidigungsminister wegen dieser leidigen Drohnengeschichte, ansonsten gilt es, Deutschland zu verteidigen gegen Schlitzaugen mit Billig-Solarzellen: »Die wollen uns Deutsche im Umweltschutz überholen.« Eine Wiederkehr am Sonnabend legt dann aber neue Dimensionen der Szene frei. Diesmal lädt Nielsen in ihr Zelt. Während sie auf ihrer Matratze liegt, erzählt sie den gleichen Text, aber diesmal sind selbst die Beleidigungen konspirativ. Der Absurdität des gespielten Machismus, gepaart mit Fremdenfeindlichkeit und Nationalwahn, tut das freilich keinen Abbruch. Der Text verliert nicht seine Wirkung, aber ist zugleich irgendwie anders.

»Monster. Du bist kein Mensch!«

Während der Dauer des Camps entstehen die Texte, die direkt nach dem Aufschreiben szenisch erprobt werden. Jeweils drei Autoren sowie mehrere Schauspieler und ein Musiker bilden die Lagerbesatzung. Die Premiere ist noch geprägt von Fremdtexten. Zwar werden schon einige Produkte des MFT aufgeführt, aber daneben kommen auch Subcomandante Marcos und Bertolt Brechts »Johanna der Schlachthöfe« zum Zug. Doch schon am Ende der Woche ist alles eigenes Material und die Texte sind deutlich weiter entwickelt. So ist das Dramolett »Der Stein«, das die aktuelle Pussy-Riot-Repression in Russland mit der Geschichte der Völkerschlacht kreuzt, von Alexander Molchanov am letzten Tag vollständig zu sehen. Einiges wird spielend gelesen, anderes vorher auf den MP3-Player gesprochen, so dass der Knopf im Ohr die Souffleuse ersetzt.

Dabei wird das ganze Gelände einbezogen, ein regengeschützter »Bunker« – ein Verschlag aus Holz und Plastikplanen – dient als dankbar trockener, bespielbarer Unterstand. Man passiert bewachte Grenzen, überwindet ungewisses Terrain. Spannend gestaltet sich auch die Auseinandersetzung mit Texten, die den direkt angrenzenden Quartieren entnommen sind. Ein am Boden stehender Chor schreit den Aufruf gegen einen Stalker übers Feld: »Monster. Du bist kein Mensch!« Von einem Podest dirigiert ein Solist die Gruppe und setzt Textfragmente von Wellness-Flyern, Wagenplatzforderungen und Straßenfest-Mit-Mach-Appellen dazwischen. Es entsteht ein bizarrer bis lustiger Wortteppich zwischen Entmenschlichung und selbstermächtigten Muffins. So wird das MFT zum hoch interessanten Experiment, bei dem sich die volle Wirkung erst im Wiederkommen erschließt.


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