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Filmkritik

Am Rande des Nervenzusammenbruchs

Mit seinem 44. Film, »Blue Jasmine«, wandert Woody Allen auf vertrautem Terrain

  Am Rande des Nervenzusammenbruchs | Mit seinem 44. Film, »Blue Jasmine«, wandert Woody Allen auf vertrautem Terrain

Nachdem ihr Mann wegen Betrugs festgenommen und das gemeinsame Vermögen beschlagnahmt wurde, sieht sich Jasmine gezwungen, ihr komfortables Leben in Manhattans Upper-Class aufzugeben und in die kleine Mietwohnung ihrer Schwester Ginger zu ziehen. Dort angekommen, kann sie die Fassade der unnahbaren Pragmatikerin dank eines umfangreichen Cocktails verschiedener Antidepressiva gerade noch aufrechterhalten.

»Wo genau bin ich?«, fragt Jasmine (Cate Blanchett) einen vorbeigehenden Passanten. Die Frage ist im Falle der New Yorkerin, die in San Francisco gestrandet ist, nicht nur geografischer, sondern existenzieller Natur. Vollkommen verloren ist sie in dieser ärmlichen, aber keineswegs verwahrlosten Gegend, genauso wie in ihrem eigenen Leben, das von einem Tag auf den anderen in sich zusammengefallen ist. Vor nicht allzu langer Zeit gehörte Jasmine noch zur New Yorker High Society. Ein Apartment an der Park Avenue so groß wie ein Fußballplatz, ein schickes Strandhaus für die Sommermonate und ein Ehemann, der als Investmentberater ein Vermögen verdiente, waren Teil dieses Lebens, das ihr weggepfändet wurde, als herauskam, dass Göttergatte Hal (Alec Baldwin) für den eigenen Wohlstand in fremde Kassen gegriffen hatte. Nun steht sie im Chanel-Jäckchen, umgeben von ihrem »Louis Vuitton«-Kofferset vor der Wohnung ihrer Schwester Ginger (Sally Hawkins) und hofft auf der anderen Seite des Kontinents wieder auf die Beine zu kommen. Die beiden Adoptivgeschwister trennen Welten. Ginger arbeitet in einem Supermarkt. Ihre Wohnung, in der sie mit ihren beiden Söhnen lebt, ist klein und vollgestellt. Die Ehe mit Augie (Andrew Dice Clay) ging in die Brüche, nachdem Hal den kleinen Lotteriegewinn des Schwagers verspekuliert hatte, und ihr neuer Freund Chili (Bobby Cannavale) ist wenig begeistert, dass anstatt ihm die zickige Schwester in Gingers Wohnung einzieht. Mit »Blue Jasmine« wandert Woody Allen in seinem 44. Film auf vertrautem Terrain. Schon immer hatte Allen ein gutes Händchen für die differenzierte Ausgestaltung neurotischer Frauencharaktere und nicht selten wurden die Figurenentwürfe mit einem Oscar für die jeweiligen Darstellerinnen (Diane Keaton, »Der Stadtneurotiker«, Mira Sorvino, »Geliebte Aphrodiete«, Penélope Cruz, »Vicky Christina Barcelona«) vergoldet. Wie kaum ein anderer versteht es Allen, seine Schauspielerinnen aus der Komfortzone herauszulocken und zu neuer, frischer Form auflaufen zu lassen. In »Blue Jasmine« ist es die hervorragende Cate Blanchett, die in der Rolle einer Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs noch einmal über sich hinauswächst. Einerseits ist diese gefallene Park-Avenue-Diva ein Monster, das ohne nachweisbare soziale Kompetenzen seine Mitmenschen durch pure Ignoranz auszusaugen scheint. Andererseits erarbeitet sich das neurotische, Pillen schluckende Wesen trotz des ironischen Blicks, aus dem heraus es beobachtet wird, auch zunehmend das Mitgefühl des Publikums – nur um die Zuschauer wenig später wieder vor den Kopf zu stoßen. Jenseits aller konventionellen Identifikationsmuster ist diese Jasmine angelegt, die sich wie viele Allen-Figuren stets um Kopf und Kragen redet und durch Blanchetts umwerfende Performance zur unwiderstehlichen Soziopathin wird. Mit unnachgiebiger Genauigkeit zeigt »Blue Jasmine« eine Frau im freien Fall durch die sozialen Hierarchien und befindet sich damit an einem Brennpunkt der amerikanischen Krisengesellschaft. Aber natürlich wird Allen dadurch nicht gleich zum Klassenkämpfer, sondern bleibt seiner präzisen psychologischen Betrachtungsweise treu. Dennoch wird hier das Aufeinanderprallen der verschiedenen sozialen Milieus mit feiner Ironie zelebriert. Der Fokus des Filmes bleibt jedoch bedingungslos auf der neurotischen Zentralfigur, deren Schuldverstrickungen am eigenen Schicksal mit einer konventionellen Rückblendendramaturgie sukzessive aufgedeckt werden, während die strauchelnde Heldin auf der Gegenwartsebene in einer neuen Beziehung zu einem schmucken Diplomaten (Peter Sarsgaard) ihrem gesellschaftlichen Abstieg zu entrinnen scheint. Aber wer »Matchpoint« gesehen hat, weiß, dass man sich in den Filmen Woody Allens nie wirklich in Sicherheit wiegen darf, und so findet auch »Blue Jasmine« ein Schlusswendung, in der Regisseur und Hauptdarstellerin noch einmal wahre Größe beweisen können.


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