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Theaterkritik

Von der Front und den Hunden

»Vor den Hunden« ist der gelungene Abschluss des Millenium Front Theaters

  Von der Front und den Hunden | »Vor den Hunden« ist der gelungene Abschluss des Millenium Front Theaters

Zwei Jahre Projekt, neun Autoren, zehn Schauspieler und ein Theaterabend – das Finale des Millenium Front Theaters war mit Spannung erwartet worden und die entlud sich am Samstag in der Schaubühne Lindenfels in einem vierstündigen Abend rund um Krieg, Fronten und Hunde. Hat sich der Aufwand gelohnt?

Es ist nach Aussagen von René Reinhardt das aufwendigste Projekt, das die Schaubühne Lindenfels bis jetzt gestemmt hat. Im letzten Jahr versammelten sein Haus und das Bonner fringe ensemble unter der Regie von Frank Heuel neun europäische Autoren, um für mehrere Wochen ins Lager zu ziehen. Drei Wochen lang entstand auf dem Jahrtausendfeld das Millenium Front Theater, das danach noch Station in Münster und Bonn machte, gesponsert vom Doppelpassprogramm der Kulturstiftung des Bundes. Ziel war es, dem Dauergedenken (Völkerschlacht, 1. Weltkrieg etc.) etwas Theatrales entgegenzusetzen und sich der Frage »Wo, wer oder was ist die Front?« mit Mitteln des Theaters zeitgenössisch anzunähern. Das Ergebnis sind einige tausend Seiten Text und viele abwechslungsreiche Theaterabende im Feld, doch das war den Machern der MTF nicht genug. Ein großes Finale musste her und so taten sich Heuel als Regisseur und Reinhardt als Dramaturg zusammen, um das Konvolut zu ordnen, zu sichten, zu kürzen und zu inszenieren.

Das Ergebnis ist »Vor den Hunden. Theater aus Europa», ein vierstündiger Abend an der Schaubühne Lindenfels (der im Laufe der Woche in seinen beiden Teilen einzeln präsentiert wird und am Wochenende noch einmal komplett): eine Revue der Beklemmung, die den Zuschauer in seinen Bann zieht. Denn dem Team Heuel/Reinhardt und den zehn Schauspielerinnen und Schauspieler, die ebenfalls den Prozess seit dem Camp begleitet haben, gelingt es, die Textfragmente sehr genau und in ganz neuen Bildern zu präsentieren.

Das Bühnenbild ist eine Kathedrale des Militärischen (Ausstattung: Annika Ley, Elisabeth Schille-Witzmann). Der offene Raum ist begrenzt durch Holzpalisaden, im Hintergrund hängt ein Tarnnetz und ein Tryptichon aus Stahlplatten. Die Mitte ist frei, viel Platz zum Spielen. Den Anfang machen drei Texte von Lothar Kittstein. Drei Schauspieler lesen abwechselnd Passagen aus jeweils einem Text vor. Lazaretterfahrungen werden so verschnitten mit den Ansichten einer Drohne und dem grausamen Kampf an der Grenze. Sie lesen schnell, schleudern die Worte heraus – kraftvoll, druckvoll, aggressiv. Ein Prolog, denn danach ist Schluss mit Lesen. Die Theaterspiele mögen beginnen.

Zunächst kommen die Hunde. Mit braunen Pappkartons als Masken rennen und springen die Schauspieler über die Bühne, das Leitmotiv ist etabliert. Der erste Abend ist eine dichte düstere Revue mit zahlreichen Ausflügen ins Absurde. Alexander Molchanovs »Der Stein«, ein Text, der Pussy Riot, Online-Aktivismus und eine russische Wahrnehmung der Völkerschlacht in einer Verhörsituation vermengt, ist bisweilen urkomisch, besonders wenn die Schnurrbärte nicht halten wollen. Grotesk wird es bei Madelaine Bariles »Im Bett«, wenn Laila Nielsen und David Jeker in einer halbnackten Clowneske über die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes streiten. Dazwischen stehen kleine Szenen wie etwa Kittsteins »Im Bunker«, das auf dem Jahrtausendfeld noch in einem improvisierten Unterstand mit beklemmender Atmosphäre gespielt wurde und hier als schwarzhumoriger Irrsinn erscheint. Das dicke Ende ist Jens-Martin Eriksens »Breivik im Puppenhaus«, eine Annäherung an den Massenmörder von Utoya (das als großes Luftbild entrollt wird), die nicht nur Fragen nach Schuld und Verantwortung stellt, sondern auch offensiv Fragen der Darstellbarkeit des realen Grauens verhandelt. Hier würde man gerne den gesamten Text lesen und nicht nur die für den Abend gekürzte Variante kennenlernen.

Der zweite Teil ist disparater mit größeren Textblöcken. Nach einem nebelumhüllten Start mit Magdalena Bariles »Der Heilige« nimmt Ivo Briedies bitterböse Satire auf die Werbebranche »Wo ist die Frontlinie?« mit Live-Musik und weißem Flokati einen Großteil ein, bei dem ein Werbeteam versucht eine durchschlagende Kampagne für Sterbehilfe zu entwickeln. Ansonsten wird die Tagebuchreihe von Andreas Vonder fortgesetzt und am Ende steht als Agitproptheater mit Prolog und Schlussapotheose Goran Ferčecs Adaption der Matthäuspassion »Arbeitsschlachten« an. Ferčec überträgt Bachs musikalische Strukturen auf einen Text über den Hungerstreik von 20 kroatischen Näherinnen, was in der Schaubühne als sehr rhythmisches chorisches Rezitativ zelebriert wird. Fulminanter Schluss für einen großartigen Abend.

Insgesamt ein gelungener Versuch, der trotz seiner Länge und seiner schieren Überfülle an disparaten Inhalten und Eindrücken erstaunlich zuschauerfreundlich daherkommt, auch wenn er für alle Beteiligten ein Kraftakt bleibt. Antworten gibt der Abend freilich nicht, aber er stellt die richtigen Fragen. Unbedingt sehenswert.


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