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Konzertkritik

Queen auf dem Bulli

Festivaltagebuch: Ausgespuckter Pfeffi, Würzfleisch und Selfies auf dem Immergut

  Queen auf dem Bulli | Festivaltagebuch: Ausgespuckter Pfeffi, Würzfleisch und Selfies auf dem Immergut

Jedes Jahr eröffnet traditionell das Immergut die Festivalsaison. Diesmal mit politischen Botschaften, Luftballons und tanzenden Frontmännern. Aber auch Tagesausflüge in die nähere Umgebung lohnten sich.

»Alertá, Alertá Antifascista!« Das ganze Zelt brüllt und pogt. So klare politische Chöre gab es wohl noch nie auf dem Immergut. Doch nicht erst seit die Band Feine Sahne Fischfilet Berühmtheit durch ausführliche Erwähnung im Verfassungsschutzbericht erlangte, ähneln ihre Auftritte immer einer Antifa-Demo. Sänger Jan »Monchi« Gorkow redet viel von Arschlöchern, im politischen Sinne aber auch im Freundeskreis. Zeilen wie »Komm wir reichen uns die Hand« oder »Ich bin komplett im Arsch« werden lauthals mitgesungen, weil sie auch hier so gut passen: »So vertraut und so abgefuckt, ach wie finde ich das schön, mit diesen Menschen hier kann es immer so weitergehen. Was es umso schöner macht: Es liegt nicht nur am Alkohol«, singt Monchi, trinkt danach eine halbe Flasche Pfeffi in einem Zug aus und spuckt Teile davon ins Publikum. Was aufgrund der leuchtend grünen Farbe einer bestimmten Ästhetik nicht entbehrt.

Draußen dann Judith Holofernes, die das mit dem Protest etwas sanfter angeht. Ein Supersong zur Verweigerung von allem, was man tun sollte: »Nichtsnutz«. Dann kommt Bonaparte-Sänger Tobias Jundt auf die Bühne, der sich in einem ziemlich groß geratenen Kapuzenparka versteckt, um kurz mitzuträllern. Bonaparte werden später der Hauptact sein, bei dem sich Jundt verausgabt. Etwas spärlicher die Show, die sonst einer Materialschlacht und Kostümverleihperformance gleicht. War vielleicht »too much, too much, too much«. Große Gesten und große Party dennoch, die das Leben auf den Arm nehmen. Mit »May the best sperm win« oder »Me and my Selfie« hauen Bonaparte weiter gesellschaftskritisch auf die Kacke. Selfies machen ist halt auch sinnlos.

[caption id="attachment_32219" align="alignleft" width="320"]selfie Me and my selfie.[/caption]

Vorher wurde es langsam dunkel auf dem Zeltplatz. Im letzten Abendsonnenschein sitzen wir auf einer Couch, die wiederum auf einem Bulli steht. Denn unsere Zeltnachbarn sind bestens ausgerüstet und sowieso die Besten (»Schreib mal nicht immer nur so blöde Sachen über uns!« »Aber ihr habt doch damals wirklich mit Grillanzünder geschossen und in Seifenblasenmaschinen gepinkelt!«). Die harten Zeiten sind offensichtlich vorbei. Wir reden inzwischen übers Kinderkriegen, lassen das aber schnell wieder und fangen an zu tanzen. Auf dem Autodach zu Queen. Fremde Leute drehen sich dazu auf der Wiese. Andere reichen Gummitiere hoch. Is this the real life? Or is this just fantasy? Mamaaaaa ...

Nachts hat man die Wahl zwischen den entspannten Klängen von Robag Wruhme oder einem sogenannten »Kommando Tanzbrause«, das »MMMbop« auflegt. Schwere Entscheidung,

Irgendwann morgens. Jemand hat Brötchen besorgt und Kaffee. »Ich konnte nicht schlafen.« Jetzt will er los. Nach Waren fahren, weil es da so schön ist und weil’s sich reimt. Da sich niemand in der Lage sieht, ein Auto zu fahren, ohne danach eine Versicherung in Anspruch nehmen zu müssen, besteigen wir den Zug, der hier eingleisig durch den Wald tuckert. »Hafenexpress« steht vorne drauf und innen klebt noch DB-Werbung mit DM-Preisen. An der ersten Station steigen wir aus – weiß eh kein Mensch, wo Waren an der Müritz überhaupt liegt. Hier gibt es einen See und ein Restaurant namens Bootshaus, das einladend wirkt. Ein Irrtum, wie sich herausstellt. Das Würzfleisch (»boaa, da hab ich jetzt Bock drauf«) ist lauwarm und die Tomatensuppe lässt einen sehnsüchtig an die 5-Minuten-Terrine denken, die im Zelt liegt. Dabei wird hier die Worcester-Sauce auf einem Silbertablett serviert. Schade nur, dass sie quasi leer ist. Ach, Neustrelitz, was haben wir gelacht.

[caption id="attachment_32223" align="alignleft" width="324"]audience Ganz da vorne ist irgendwo Sven Regener.[/caption]

Auf dem Festivalgelände liest Sven Regener aus »Magical Mystery«, in dem er erzählt, was aus Herrn Lehmanns bestem Freund Karl geworden ist (erst leicht depressiv in der Klapse, dann nüchterner Chauffeur von einer Truppe Techno-Druffis). Es sind so viele Leute da, dass man ihn hinten kaum versteht. Was schade ist. Dafür gibt’s Luftballons und Seifenblasen in der Audience.

Beste Band des Wochenendes: Future Islands. Werden gerade überall gehypet. Aber zu Recht, liebe Kritiker, zu Recht. Denn was Frontman Samuel T. Herring bei Lettermann zeigte, ist ja nur ein kleiner Schnipsel seines ganzen Schaffens. Schwitzt! Als sie die Bühne verlassen haben, klatschen alle, trampeln, es ist ein höllischer Lärm. Trotz minutiösem Zeitplan können sie nicht anders, sie müssen wiederkommen. Habe ich es schon gesagt? Beste Band.

Zwei Uhr nachts, ich bin am Ende. All die gute Laune, das Herumspringen bei FM Belfast, das bekloppte Gequatsche den ganzen Tag, erst die Sonne, jetzt die Nacht, der Alkohol – sie haben ihr Übriges getan. Ich überlege, einfach umzufallen, trete stattdessen den Weg gen Zelt an. Da ertönt die Stimme einer Frau von der Bühne im Gebüsch. La Femme. Na gut, mal kurz gucken noch. Und dann stehen da diese Typen, die ganz offensichtlich in ihrer Kleiderwahl vom Punk inspiriert wurden und dennoch so elegant aussehen, mit ihrer Sängerin – und holen mich ab. Ja genau, im Sinne von »Man muss die Leute abholen, wo sie gerade sind«, wie man es rhetorisch nicht nur von Steinbrück kennt und was natürlich nie klappt. Wer will schon von Steinbrück/der Werbung/der Wirtschaft (wemauchimmer) abgeholt werden? Und vor allem wohin bringen die einen dann? Egal. Später werde ich über die Musik von La Femme lesen, dass sie auch als »debilé mental wave« bezeichnet wird. Mental debil, so stehe ich hier. Ein bisschen traurig klingen die junge Franzosen, ein bisschen verrückt, ratlos und frohen Mutes. Sie singen und tanzen, freuen sich. Wave! Ich hole mir ein großes Mineralwasser (neben mir an der Bar sagt ein fremdes Mädchen zu mir, das sei eine sehr gute Idee. Ich sagte ja, ich bin am Ende...) und mache mit. It’s time to wake up.


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