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Sport

»Die Militärpolizei stand überall«

Blogger Tobias Zwior blickt auf die WM und das Drumherum in Brasilien zurück

  »Die Militärpolizei stand überall« | Blogger Tobias Zwior blickt auf die WM und das Drumherum in Brasilien zurück

Einst war er Praktikant beim kreuzer, dann hatte sich Tobias Zwior nach Brasilien begeben, um dort unabhängig über die Hintergründe der Weltmeisterschaft in dem Blog ecke:sócrates zu berichten. Nun hat er Brasilien wieder verlassen und schaut zurück: auf Proteste, Polizeigewalt, Fußballbegeisterung und Lionel-Messi-Masken.

kreuzer: Du warst die ganze WM lang in Brasilien. Wie hat sich die Stimmung im Land während des Turniers verändert?

TOBIAS ZWIOR: Ich war ja schon einige Tage vor WM-Start im Land und konnte einen eigenartigen Stimmungsverlauf beobachten. Die letzte Woche vor der WM war es relativ ruhig, es herrschte kaum Vorfreude, viel Skepsis. Da neue Proteste erwartet wurden, war die Stimmung im Land angespannt. Diese Anspannung löste sich nach dem ersten Spiel gegen Kroatien ziemlich schnell. Es wirkte so, als ob erst nach diesem Spiel viele Menschen realisiert hätten, dass die WM jetzt vor ihrer Haustür stattfindet und tatsächlich begonnen hat. Viele machten sich nach dem Gruppensieg in der Vorrunde Hoffnungen auf den Titel. Wie erwartet hat ein Großteil der Menschen zwischen Vorrunde und Halbfinale die Alltagssorgen verdrängt und mit der Mannschaft gefiebert und gehofft. Das war durchgängig eine recht fröhliche Zeit. Diese wurde dann nach dem 1:7 gegen Deutschland im Halbfinale jäh gestoppt. Danach herrschte zunächst kurz Wut, dann aber recht schnell Tristesse. Die Brasilianer haben sich für den Auftritt ihrer Mannschaft geschämt. Nicht aber für ihr Land, das die WM dem Tenor nach gut organisiert habe. Trotzdem blicken viele Brasilianer der Zukunft, d.h. der Präsidentschaftswahl und auch den Olympischen Spielen, mit sehr gemischten Gefühlen entgegen.

kreuzer: Hierzulande hat man während der WM kaum noch was von Protesten gehört. Haben die Medien einfach nicht mehr berichtet oder gab es tatsächlich weniger?

ZWIOR: Beides. Es gab Proteste, vor allem zu Anfang der WM u. a. in Rio de Janeiro, São Paulo und Belo Horizonte und dann gegen Ende wieder. Diese waren aber kleiner als im Vorjahr. Ein politischer Aktivist hat mir erzählt, dass das vor allem an den starken Repressionen der Polizei, aber auch an inneren Querelen und Organisationsproblemen der Protestbewegung lag. Auch die Ablenkung durch die Fußballspiele habe dazu beigetragen. Die Medien haben sich ebenfalls sehr stark auf den Fußball fokussiert, teilweise mit bis zu 40 Sonderseiten pro Tag in den großen Zeitungen. Da blieb wenig Platz für anderes abseits des Fußballs. Eine Ausnahme waren natürlich die alternativen Online-Medien, die viel über die Proteste berichtet haben. Aber ich war dreimal bei Demonstrationen dabei und die hielten sich doch sehr in Grenzen.

kreuzer: Konntest du beobachten, dass die Polizei während der ganzen WM sehr hart durchgegriffen hat?

ZWIOR: Direkte Gewalt habe ich selbst nicht beobachtet, aber von einigen gehört, dass das stimmt. Tränengas und Schlagstöcke sind Standard bei der brasilianischen Militärpolizei. Laut einer meiner Quellen wurden in den Favelas von Rio während der WM mehrere Menschen von der Polizei erschossen, darunter auch Jugendliche. Was ich selbst beobachtet habe, war, dass es in allen großen Städten ein massives Polizeiaufgebot auf öffentlichen Plätzen gab. Die Militärpolizei stand überall. Kein Bürger konnte mehr unbeobachtet durch die Straßen schlendern. Das hat bei vielen Brasilianer ein beklemmendes Gefühl ausgelöst.

kreuzer: Das 1:7 hast du an der Copacabana gesehen und beschrieben.Wie sind die Brasilianer mit dieser unerwartet hohen Niederlage umgegangen?

ZWIOR: Es gab an dem selben Abend noch einige Frustschlägereien und Vandalismus. Die hielten sich aber in Grenzen. Ich habe mich an dem Abend mit so vielen Menschen unterhalten und die Mehrheit hat der deutschen Mannschaft zu ihrer hervorragenden Leistung gratuliert. Da war viel mehr Anerkennung zu spüren als Neid oder Frust. Einige Brasilianer versuchen das auch auf ihre Gesellschaft zu übertragen: Einer sagte mir, dass dieses 1:7 ihm gezeigt habe, dass man sich anstrengen muss, wenn man etwas erreichen möchte.

kreuzer: Rennen noch viele Leute mit Neymar-Masken rum?

ZWIOR: Ich habe nicht mehr viele Neymar-Masken gesehen in den letzten Tagen. Eher Messi-Masken. Es waren am Ende über 100.000 Argentinier in Rio de Janeiro.

kreuzer: Du hast versucht, die Menschen hinter den Kulissen des Turniers zu treffen und ihre Geschichte zu erzählen. Welche war deine spannendste Begegnung?

ZWIOR: Am spannendsten fand ich die Begegnung mit dem kranken Straßenhändler Lourival in Sao Paulo. Er hat Brasilienflaggen an einer Hauptstraße verkauft, obwohl er kaum laufen kann und eigentlich gegen die WM ist. Im Vorhinein war so oft davon die Rede, dass Brasilien das Geld für die WM-Stadien lieber ins Gesundheitssystem hätte stecken sollen. Das habe ich oft gelesen, fand es aber sehr abstrakt. Lourival hat Krebs und wartet seit über sechs Monaten auf einen Arzttermin. Auch war er noch nie in seinem Leben in Rio de Janeiro an der Copacabana, was sein größter Traum ist. Die Begegnung mit ihm hat mich daher sehr bewegt.

kreuzer: Wie und wo hast du das Finale erlebt?

ZWIOR: Ich war kurz vor dem Finale noch am Maracana-Stadion und habe dort in der Nähe eine letzte Anti-WM-Demonstration erlebt. Danach bin ich zum Strand von Leme gefahren. Dort gibt es einen »German Kiosk«, in dem ich das Spiel gemeinsam mit einigen deutschen Freunden geschaut habe. Es war nervenzerreißend. Gegen Ende der 90 Minuten habe ich mir einfach nur gewünscht, dass es jetzt vorbei ist, egal wie es ausgeht. Dass ich entweder feiern oder nach Hause gehen kann. Dann kam die Verlängerung. Am Ende war ich aber sehr froh darüber, im Meer zu stehen und eine Pokalattrappe in die Höhe zu halten. Die Nacht in Rio war lang.

kreuzer: Dein Fazit dieses Projektes?

ZWIOR: Die sechs Wochen in Brasilien waren eine sehr intensive Zeit. Ich kann kaum glauben, dass es jetzt vorbei ist und ich schon wieder in Argentinien bin. Ich muss viele Erlebnisse noch verarbeiten, sowohl mental als auch schriftlich bei ecke:sócrates. Insgesamt hat mir das Turnier sehr gut gefallen, sowohl fußballerisch als auch zwischenmenschlich. Ich habe die brasilianische Gastfreundschaft kennengelernt und viele neue Freunde gewonnen. Von der WM war ich als Fußballfreund immer wieder hin- und hergerissen. War auf Protesten unterwegs und habe ein paar Stunden später das nächste Spiel geschaut. Ich war sogar einmal im Stadion, obwohl ich das eigentlich nach den ersten Wochen für mich ausgeschlossen hatte. Insgesamt war es eine unvergessliche Erfahrung für mich, nicht nur journalistisch, sondern auch privat: Ich war dabei, als Deutschland in Brasilien Weltmeister geworden ist.


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