anzeige
anzeige
Heavy Celeste

Kein Bock auf Bohei?

Rund ums Lichtfest wird ordentlich Metal zerdeppert

  Kein Bock auf Bohei? | Rund ums Lichtfest wird ordentlich Metal zerdeppert

Deutsche Volksfeste sollen UNESCO-Weltkulturerbe werden? Schock schwere Not! Oktoberfest und vielleicht gar Wacken sollen uns als deutsches Wesen ins Stammbuch geschrieben werden? Na herzlichen Punk. Mehr Bohei war wohl nie und auch an Leipzig im Herbst wird solches nicht spurlos vorübergehen. Hier gilt ja auch ein Bohei als Kulturmarke, einen illuminierten Zirkus – Masse, Kerzen, Projektionen – genannt Lichtfest.

Hunderttausende Leipziger und Touristen werden zum Illuminaten-Umzug – an einem Tag. Das soll die Oper mal hinbekommen. Damit es Licht werde und die Welt auf Leipzig schaue. Damit niemand Leipzig mit jenem verlorenen Flecken fern jeglicher Zivilisation verwechsle, den der Neuseeländer als »Boohai« bezeichnet. Hier muss man eine eigene Duft-, äh Kulturmarke entgegensetzen.

Wer auf Bohei keinen Bock hat, sondern lieber nach schnelleren Umdrehungen – Metal-Revolution quasi – dürstet, der muss nicht lang suchen. Zum gutturalen Mittwoch (1.10.) gurrt die Stuhlbruderschaft. Zum Schaulaufen im 4Rooms steuern die Rostocker Acranius brutalen Death-Core bei und lassen ihre neue Platte über die Planke springen. Kiel holen Cerebral Incubation (Las Vegas) mit maliziös-melodiösem Säbelrasseln. Einen Brutal-Death Kawenzmann ziehen Dynamite Abortion (Zürich) auf. In den Feiertag hinein knüppeln einen Tag (2.10.) später die Metalheadz in der Villa. Revel in Flesh (NRW) brechen mit dem Tod alter Schule eine Lanze für drei Lokalmatadoren: Humanitas Error Est (Black), Bloody Vengeance (Death-Trash) und Soulscape:Project. Letztere haben trotz noch kurzer Bandgeschichte mit psychedelischem (Post-)Black-Metal schon mehrfach zu begeistern gewusst. Am gleichen Abend noch, immer diese Überschneidungen, schmeißen Bolt Thrower mit Gitarren um sich – im bereits ausverkauften Hellraiser. Den Einheitskater treiben dann im Bandhaus (4.10.) Witchburner (Black-Thrash/Fulda), Blizzard (Speed-Thrash/Nürtingen), Backwater (Heavy-Speed/BW) und Toxic Beast (Trash/Leipzig) aus. Und weil das noch lange nicht reicht, hisst das Helheim ebenfalls im Bandhaus (10./11.10.) die Black-Metal-Flagge: Grabak (Leipzig), Hatul (Chemnitz) und Higurd (Neuhaus) sowie Maat (Berlin), Darkestra (KG) und Ad-Hoc (Altenburg/Leipzig) loten das dunkle Sujet zwischen Avantgarde und Auf-die-Fresse, Experiment, Ägypten-Faible und Schamanismus aus.

Und weil am 9.10. nun nüscht anderes los ist, versuchen wir es mit einer Vision, wie das Stadtmarketing Leipzig zu einer echten Marke à la Wacken oder Oktoberfest machen kann: Bereits beim Ankommen im Weltkulturerbe »City of Freedom« muss der Besucher feierlich berührt werden: Im Kopfbahnhof, der mit dem kleinen Museum »Sackgasse des Sozialismus« aufwartet, bekommt er am »Kiosk der Meinungsfreiheit« den Prospekt zum täglichen Feiermarathon überreicht. Und ein Windlicht. Dieses entzündet ein freundlicher Bahnmitarbeiter beim Verlassen des Bahnhofs, wo ein Chor aus 1-€-Jobbern Spalier steht, der »Wind of Change« intoniert. Diesen passierend, muss der Besucher einen Schlagbaum überwinden und den Mauerfall gleichsam nachstellen. Hinter dem Straßenbahnübergang steht ihm die Stadt mit vielerlei Gedenkstationen offen.

Den Ring säumen Styropor-Hundertschaften behelmter Einheiten, die roboterhaft auf ihre Schilde schlagen. Suchscheinwerfer malen eine bedrohliche Mielke-Fratze in den Himmel. Den schwarz gehaltenen Puppen stehen strahlende Lichtwesen, die »Engel der Geschichte« gegenüber, halten sich an den Händen und spulen viersprachig »Wir sind das Volk« ab. Grünlich glimmende Leuchtdioden in den weißen Rosen, die an ihre Revers geheftet sind, hüllen nächtens die Straßen in jene gespenstische Aura der Montagsdemonstrationen. Greifautomaten laden gegen einen kleinen Obolus dazu ein, aus einer Menge Plüschdemonstranten ein individuelles Souvenir herauszupicken – wer einen Neonazi erwischt, hat Pech gehabt.

An einem quietschbunten Konzertpiano vor der Oper – daran lehnt ein väterlicher Kurt-Masur-Aufsteller –, welcher der Flügel verleihenden D-Mark gewidmet ist, kann man seine Euros in Aluchips umtauschen. Hier ist es zur schönen Tradition geworden, diese nebenan im Wunschbrunnen »Prinzip Hoffnung« zu versenken. In der ehemaligen Blechbüchse sind die »Wendelatschen« als vielgeschossiges Denkmal aufgereiht: Alle Schuhe, die sich im Herbst 89 beteiligt haben, bekommen hier ihren Ehrenplatz. Auf dem Marktplatz wird die »Fackel der Revolution« hochgehalten: Ein eherner Armleuchter mit ewigem Licht dient Flaneuren als Zigarettenanzünder. »Für jeden Wendehals die passende Binde«, wirbt die benachbarte »Veränderungsschneiderei«.

Längst liebevoll in »Pfarrer-Führer-Bunker« umgetauft, ist die Nikolaikirche Zentrum der leiblichen Erbauung. Auf drei Etagen kann geschmaust werden, wobei die Selbstbedienung die ewige Gültigkeit der Forderung nach Freiheit und gegen staatlichen Zwang untermauert. Hier wird im Straßenverkauf auch das »Wendebrot« angeboten – aus echtem Schrot und Korn. Von dessen Erlös fließen 20 Cent pro Brot in die Rekonstruktion des historischen Straßenbelags am Ring. Dazu gibt’s Würzfleisch to go.

In der Fußgängerzone bieten Bänke den ermüdeten Besuchern eine Rastgelegenheit. Manche sind mit Reißzwecken gespickt und als »Ruf zum aufrechten Gang« ausgewiesen. So können die Besucher viele kleine Wende-Wunden als persönliche Male der Erinnerung mit nach Hause nehmen. An Andenken für die Daheimgebliebenen mangelt es natürlich auch nicht. Neben luziden Ansichtskarten vom Lichtfest und goldenen Briefbeschwerer-Eiern vom Typ »Demokratieglocke« gibt es selbstredend auch hier den Souvenir-Dauerbrenner: »Mein Freund wurde Heldenstädter und alles, was ich bekam, ist dieses lausige T-Shirt.«


Kommentieren


0 Kommentar(e)