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Kultur

»Forderungen an Gott«

Zum Tod von Kurt Masur (1927–2015)

  »Forderungen an Gott« | Zum Tod von Kurt Masur (1927–2015)

»Es sprach: Kurt Masur.« Als diese Worte am Abend des 9. Oktober 1989 aus dem Stadtfunk-Lautsprecher dringen und den Aufruf der »Leipziger Sechs« zur Gewaltlosigkeit beschließen, da ist dies der Moment, der schlagartig klar macht, dass jetzt etwas passieren wird, etwas Großes, das dieses Land unwiderruflich verändern wird. Denn gerade hatte zum ersten Mal eine namhafte DDR-Persönlichkeit den Staatsoberen in aller Öffentlichkeit den Kampf angesagt. Gefühlt war es der Moment, in dem die friedliche Revolution siegte.

Masur kannten viele DDR-Bürger bis dahin nur aus dem Fernsehen. Alle Jahre wieder dirigierte er am Silvesterabend die Neunte. Ein Charakterkopf der deutschen demokratischen Klassik, kein Oppositioneller. Und nun das. In den entscheidenden Tagen des Herbstes 89 tat er noch mehr: In einem ARD-Interview erklärte er, er schäme sich für diesen Staat. Und er öffnete sein Gewandhaus, diesen Tempel der Hochkultur, für Diskussionen über die Zukunft der Republik.

Es war die Musik, die ihm, dem bis dahin gut situierten Staatskünstler, die Augen öffnete. Als Masur zu Ohren kam, dass in Leipzig Straßenmusiker verhaftet wurden, beschloss er zu handeln. Vor Honecker hatte er keine Angst. Dem Staats- und Parteichef gegenüber sah er sich auf Augenhöhe; er hatte ihm schließlich schon den Neubau des Gewandhauses (1981 eröffnet) abgetrotzt.

Der politische Ruhm wertete ihn als Künstler auf. Nicht, dass er das nötig gehabt hätte, aber befördert hat es seine Weltkarriere doch. Die New Yorker Philharmoniker holten ihn nach dem Mauerfall als Chefdirigenten an den Hudson. Auf dem Titel des New York Times Magazine prangte sein Foto, Manhattan kürte ihn zum »Maestro of the Moment«. Sie liebten diesen verbindlichen deutschen Riesen, der meinte, was er sagte, und ihren etwas verwöhnten Hochglanzklangkörper wieder auf Trab brachte. In Amerika ein Star, musste er in Leipzig plötzlich kämpfen: mit den Zumutungen der neuen Zeit, einer kulturfeindlichen Politik und sich selbst. Der Revolutionsheld von 89 erklärte sein Gewandhaus zur »Insel« und wollte nichts wissen von Medien, Marketing und Musikern, die auf ihre Rechte pochten. 1996 zerbrach seine 27 Jahre währende Ehe mit dem Gewandhausorchester. Masur ging im Zorn. Am Augustusplatz atmete mancher auf.

Beide Seiten konnten dennoch erstaunlich gut mit der Trennung leben: Leipzig angelte sich Blomstedt und später Chailly. Masur dirigierte fortan bevorzugt in New York, London und Paris. Nach Leipzig aber kehrte er immer wieder zurück, hier verbrachte er weiterhin die Hälfte seiner Zeit. Das Gewandhausorchester ernannte ihn zum Ehrenmitglied und Ehrendirigenten. Er selbst stufte die Leipziger Jahre als »Fundament meines künstlerischen Lebens« ein. Hier hat er studiert, hier sammelte er als junger Opernkapellmeister erste Erfahrungen, hier trug er vom Gewandhauspult aus den Ruf Leipzigs in die Welt.

Brahms, Bruckner und Beethoven waren seine Götter, Mendelssohn sein großes Vorbild als Gewandhauskapellmeister, dessen Andenken er kämpferisch pflegte, Bachs »Kunst der Fuge« in der Nikolaikirche seiner Heimatstadt Brieg sein musikalisches Schlüsselerlebnis (als Zwölfjähriger). Denn eigentlich wollte er ja Organist werden, was ihm wegen einer sich abzeichnenden Missbildung seiner Finger jedoch versagt bleiben sollte. Und dann hörte er im Sommer 1943 Beethovens Neunte in der Breslauer Philharmonie. Das war der Urknall, der in ihm den Wunsch weckte, Dirigent zu werden.

Im kreuzer-Interview zu seinem 80. Geburtstag gab er ein anschauliches musikalisches Glaubensbekenntnis ab: »Beethoven war mein neuer Weg. Ich wollte Dirigent werden. Und ich spürte, dass bei Beethoven etwas existierte, was es auch bei Bach gab – die Vorstellung einer göttlichen Kraft. Wenn ich heute die Missa solemnis dirigiere, wird mir sehr klar, wie Beethoven Gott als Partner ansieht und ihn sogar anspricht: Wenn du nicht zeigen kannst, dass du Gott bist – wie sollen wir an dich glauben? Es sind Forderungen an Gott, die bei Beethoven gestellt werden.«

Darunter machte er es nicht, es war ihm heiliger Ernst damit. Manche Musiker, mit denen er arbeitete und die seinen Ansprüchen nicht genügten, bekamen das schmerzlich zu spüren: »Seine künstlerische Besessenheit hat ihn gelegentlich so mitgerissen, dass er die Selbstkontrolle zu verlieren schien«, sagt der ehemalige 1. Konzertmeister Karl Suske in der 2002 erschienenen Biografie »Kurt Masur – Zeiten und Klänge«. Darauf angesprochen, gab Masur fünf Jahre später im kreuzer lächelnd zu Protokoll: »Ja. Meine Reaktionen auf manche Fehler waren Überreaktionen, absolut. Weil meine Spannung Überspannung war. Dennoch haben wir eine sehr große Gemeinsamkeit erreicht.« Wohl wahr. Sie trug das altehrwürdige Orchester von Nikisch, Walter und Furtwängler durch die Jahrzehnte des Mangels. Masur pflegte und bewahrte den warmen »deutschen« Klang und sorgte mit Reisen und Tonträgern dafür, dass das Gewandhaus weiterhin mitspielte im Konzert der Großen.

In seinen letzten Lebensjahren scheint der Weltbürger Kurt Masur eine Gelassenheit gewonnen zu haben, die ihm als Intendant und Orchesterleiter nicht immer eigen war. Nicht mehr in Amt und Würden, zumindest nicht in Leipzig, konnten die Wärme und Weichheit seiner Züge den Besucher seiner Villa in Leipzig-Leutzsch verblüffen. Dirigiert hat er – liebevoll begleitet von seiner Frau Tomoko – fast bis zum Ende, seiner fortschreitenden Parkinson-Erkrankung und zwei Bühnenunfällen in Paris und Tel Aviv zum Trotz.

Am 19. Dezember 2015 ist Kurt Masur im Alter von 88 Jahren gestorben.

BJÖRN ACHENBACH


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