anzeige
anzeige
Stadtleben

Heger und Sammler

Auf der Suche nach was zu essen in der Großstadt

  Heger und Sammler | Auf der Suche nach was zu essen in der Großstadt

Essbare Stadt: Der Sturm auf die Gartensparten tobt und Wildpflanzen feiern Renaissance. Ob als Vorbereitung auf die Zombieapokalypse oder aus Lust am Geschmack: Stadternten ist in. Auch die Talkshow kreuzer, Korn & Kippen dreht sich ums urbane Gardening.

»Das Unkraut haben wir doch auch im Garten! Das kann man essen?« Ungläubig starrt die ältere Frau auf die Auslage aus Giersch- und Vogelmierenpesto. Solche Sätze hört man häufig an Wildkräuterständen, die die Wochenmärkte erobern. Die Kriegs- und Nachkriegsgeneration verbindet das wilde Gemüse mit Notzeiten. Doch das Interesse an ihnen ist wieder geweckt, wie der Bärlauch vorgemacht hat. Das Sammeln von Obst und Kräutern ist der neueste Dreh im anhaltenden Trend, sich zum Grün hinzuwenden. Eine Rückkehr der Heger und Sammler und auch das Wort Mundraub kursiert.

Urban Gardening lautet das Buzzword – als ob es nicht seit Jahrhunderten Stadtgärten gebe. Ganze Kunstausstellungen wurden dem Gärtnern in der Stadt gewidmet, das also ziemlich Zeitgeist ist; nicht jeder fühlt sich fürs Dasein im Landkommunen-Hippietum ausersehen. Seine Beliebtheit erfuhr das urbane Gärtnern im Windschatten des Guerilla-Gardening-Hypes: Man bringt wildes Grün im öffentlichen Raum durch heimliches Pflanzen und Samenbombenabwürfe zum Wuchern. Aktivisten jazzen das gern zur politischen Tat auf, durch die graue Kosumwelten lebendig werden. Richtig plausibel ist die Kapitalismuskritik mit dem grünen Daumen nicht, aber blumengeschmückte Baumscheiben in der Fußgängerzone sind immerhin ansehnlich.

Geht es hier ums Begrünen, so hat das Urban Gardening das Ernten zum Inhalt. Eigentlich ist es alter Wein in neuen Schläuchen, früher nannte man es Kleingärtnern. Man denke nur an die Victory Gardens des Zweiten Weltkriegs, die die englische und US-Bevölkerung zur Selbstversorgung betrieben. Die deutsche Schrebergartenbewegung hat ihre 150 Jahre auf dem Buckel, seit die erste solcher Kolonien in Leipzig entstanden ist. Gerade oder obwohl der Pachtgarten als Ausdruck typisch deutschen Kleinbürgertums gilt, findet er wieder junge Anhänger. Auf der heimatlichen Parzellenscholle leben wohl viele kleine Freiheiten aus – dem oft rigiden Regelwerk des Gartenvereins folgend – und haben Freude am Selbstgezogenen. Eine Spur politischer zeigen sich da Nachbarschafts- und Gemeinschaftsgärten, die sich zu kleinen sozialen Zentren entwickeln können. Hier trifft der Zugang zu günstigem Gemüse auf Do it Yourself und erhoffte Naturerfahrungen. Mitunter geht das kollektive Beackern mit interkulturellem Austausch, Naturkundebildung und Stadtteilarbeit einher. Wenn die Kiezgärtner nicht aufgrund fehlender sozialer Durchmischung unter sich bleiben, dann unterstützen Gemeinschaftsgärten auch ärmere Menschen durch Selbstversorgung – wie man es zum Beispiel aus den Community Gardens kennt.

Neu im Trend ist die Sammlungsbewegung unter dem Motto »essbare Stadt«. Dabei ist man auf Früchtejagd im öffentlichen Raum unterwegs und pflückt zum Beispiel von kommunalen Gehölzen. Seiten wie fruchtbar.org oder mundraub.org listen Fundstellen auf, wo man mit Erlaubnis der Besitzer ernten darf. Man betreibt gerade keinen Mundraub, der Begriff steht seit Jahrzehnten ohnehin nicht mehr im Gesetz, aber man kann die Pflückexpedition hübsch etikettieren. Was treibt die Menschen dazu, Spielplätze und Parkbuchten nach Essbarem abzugrasen? Wenige mögen sich für die Zeit nach der Zombieapokalypse rüsten, wo kein Supermarktregal mehr neben dem anderen steht. Viele suchen Naturnähe. Esoterisch Bewegte besinnen sich auf vergessene oder angebliche Heilpflanzen – frei nach Rainald Grebe: »Wir panieren heute einen Riesenbovist. / Wir haben so viel verlernt.« Andere sehen im Selbstbedienungsladen Wildnis eine Alternative zur Industrie. Bedürftige und Sparfüchse freuen sich am schlanken Taler. Die Lebensmittelskandale der Vergangenheit von Pferdefleisch in der Lasagne bis zu falschen Biosiegeln, Ehec-Erreger im Bockshornkleesamen und Gammelfleisch bei Burgerbrater-Ketten taten das Übrige.

Warum nicht mal Schafskäse mit eingelegten Vogelbeeren auf Feldsalat servieren oder Sauerampfer in den Kartoffelsalat streuen? Oder mit Nudeln mit blanchierten, pürierten Brennnesseln Freunde überraschen, nachdem sie schon über den Aperitif aus Schlehen-Schaum gestaunt haben? Taubnessel-Quiche? Weidenröschen-Beilage? Vor allem der Geschmack ist es, den Maurice Maggi an den wilden Zutaten liebt: »Die Monotonie der Lebensmittelläden langweilt mich.« Der Züricher erntet im öffentlichen Raum. »Essbare Stadt« heißt ein Buch des gelernten Gärtners, der vor 30 Jahren damit begann, die Stadt als Speisekammer zu entdecken. »Die Artenvielfalt ist in der Stadt viel größer als in der Landwirtschaftszone. Das bietet nicht nur Kleintieren, Insekten Nahrung, sondern auch uns Menschen.« Logisch, dass Maggi auf Giersch schwört, aber auch Ackersenf, Schlüsselblumen, Eibenbeeren und Berberitzen weiß er zu verwenden. Auf die Frage nach der Hygiene antwortet er gelassen. »Ich kenne ja meine Flächen, weiß, wo ein Stadion oder eine Bar ist. Das Supermarktgemüse ist doch auch schon durch fünf Hände gegangen. Und waschen versteht sich von selbst.«

stadtobstErmuntert durch Maggis Beispiel wagt der kreuzer-Autor den Selbstversuch: Von den Mirabellen in der Südvorstadt will ich mich bis zu den Hagebutten am östlichen Silbersee durchschlagen oder noch weiter südlich am ehemaligen Braunkohleschacht Brombeeren kosten. Ich verschätze mich gewaltig. Die Ernte gestaltet sich mühsamer als gedacht, weil ich in den Grünanlagen den Obstbaum vor lauter Bäumen nicht sehe. Zwar habe ich mir von der Fruchtbar-Website eine Karte ausgedruckt – es hat ja nicht jeder ein Smartphone –, etwas suchen muss ich doch. Eine gemeinsame Ernteaktion im Nachbarschaftsgarten fühlt sich da anders an. Das Entdecken macht Spaß, aber etwas einsam komm ich mir vor, durch Gebüsche zu strolchen. Vor neugierigen Blicken sollte der »Mundräuber« keine Schau haben. Die Biertrinker auf dem Grünstück gegenüber dem Amtsgericht schauen schon scheel, als ich mir einige Felsenbirnen in den Mund schiebe. Sie haben zum ersten Mal registriert, dass hier ein Obstbaum steht. Für zwei Stadtteile brauche ich einen halben Tag, und ich war nur unterwegs, um zu schauen, ob es funktioniert. Ernten hätte mich noch länger aufgehalten. Als ich irgendwann in Connewitz – ja, der angeblich so menschlich verwilderte Stadtteil – lande, habe ich Holunder und Hagebutten, Sanddorn, Malven und Birnen in den Taschen. Unterwegs habe ich die Stadt ganz neu entdeckt, das macht die Ernte vielleicht wirklich aus.

Denn seien wir mal ehrlich, man kann nicht jedes Hobby aufladen, als ob es ums richtige Bewusstsein ginge. Vielleicht ist der Drang ins Grüne einfach ein hedonistischer Trieb, macht schlichtweg Spaß? Die Keimzelle einer anderen Gesellschaft sind diese Tätigkeiten eben nicht; außer man sehnt ein naturromantisches »Zurück« herbei. Die Vorteile der arbeitsteiligen Gesellschaft sind auch in dieser Hinsicht nicht zu unterschätzen. Mit Muße zu jäten oder auf einem Spaziergang Obst zu ernten, kann eben einen Vergnügen sein, weil man nicht darauf angewiesen ist. Da hätte ganz schön zu sammeln, wer nur ein paar Gläser Walderdbeeren-Marmelade einkochen wollte. Viel Freizeit bliebe jedenfalls nicht bei der Selbstversorgung in der essbaren Stadt. Richard Mabey beschreibt es in seinem zum Klassiker gewordenen Buch »Essbar« ganz gut: »Dieses Essen ist nicht fertig, es macht uns fertig. Es bedeutet, durch Brombeersträucher zu kriechen, im Matsch zu wühlen, auf Bäume zu klettern, tränenden Auges Meerrettich zu reiben, Kastanien zu schälen oder pflichtbewusst herben Giersch zu mümmeln.«


Kommentieren


0 Kommentar(e)