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Stadtleben

»Merkwürdiges Wanderungsverhalten der Stühle«

Strafanzeige wegen Sachbeschädigung: Rolf Allerdissen hat sich für Blinde eingesetzt

  »Merkwürdiges Wanderungsverhalten der Stühle« | Strafanzeige wegen Sachbeschädigung: Rolf Allerdissen hat sich für Blinde eingesetzt

Die Stadt Leipzig hat einen Mann mit Behinderungen zu einer 650-Euro-Strafe verurteilt. Rolf Allerdissen, der auch an einer Augenerkrankung leidet, hatte mit abwaschbarer Sprühfarbe den Schriftzug »Achtung! Blinden-Leitsystem! Rote Linie« auf die Petersstraße geschrieben. Er wollte damit auf das im Boden eingelassene Blindenleitsystem hinweisen, das durch den Freisitz der Bäckerei Lukas regelmäßig vollgestellt wurde. Im Interview spricht der 50-Jährige über den Fall und einen generellen Bewusstseinsmangel gegenüber Behindertenrechten.

kreuzer: Sie störten sich daran, dass in der Petersstraße die Stühle und Tische der Bäckerei Lukas das Blindenleitsystem blockierten. Was haben Sie dagegen getan?

ROLF ALLERDISSEN: Unabhängig von einem Blindenleitsystem gibt es für jemanden, der eine Sehschwäche hat oder blind ist, jeden Tag Gefahrenquellen in der Stadt. Viele Durchgangsbreiten auf den Straßen werden durch Werbeaufsteller oder Pflanzen blockiert. Auch ein Spiegel von einem Lieferfahrzeug in der Höhe des Kopfes ist mit dem Blindenstock natürlich nicht zu ertasten. Man rennt einfach davor. Schlimm wird es, wenn auch das Blindenleitsystem blockiert wird, wie im Fall des Lukas Bäcker. Ich hatte den Betreiber schon vor mehr als anderthalb Jahren auf die Verletzungsgefahr durch den Freisitz hingewiesen. Die Angestellten wussten gar nicht, was das Blindenleitsystem überhaupt ist. Während ich noch dabei war, wurden die Stühle und Tische immer mal wieder entfernt. Doch am nächsten Tag standen sie wieder dort. Nach mehreren Ansprachen, auch gegenüber dem Betriebsleiter, ist nichts passiert.

kreuzer: Dann haben Sie sich an die Stadt Leipzig gewandt?

ALLERDISSEN: Erst habe ich das Ordnungsamt angerufen. Als das keine Wirkung zeigte, habe ich mein Anliegen schriftlich eingereicht. Daraufhin ist mir erklärt worden, dass mir keine Auskunft gegeben werden kann. Aus datenschutzrechtlichen Gründen kann nicht in die Verträge des Betreibers zur Genehmigung des Freisitzes eingesehen werden.

kreuzer: Den Behindertenbeirat haben Sie auch kontaktiert. Wie hat man dort reagiert?

ALLERDISSEN: Ein Originalzitat war: »Es ist ein merkwürdiges Wanderungsverhalten der Stühle zu erkennen«. Gerade auch von Betroffenen im Behindertenbeirat wurde das also bagatellisiert, im Sinne von: Ja, ja, das kann schon mal passieren.

kreuzer: Warum bekommen Sie keine anderen Reaktionen?

ALLERDISSEN: Es liegt an Ignoranz. Und an Unwissenheit über Rechtsvorschriften, die hier kollidieren. Einerseits geht es um das Recht des seheingeschränkten Fußgängers, das besonders geschützt werden muss. Andererseits um das Interesse des Beitreibers, der ja eine möglichst große Fläche haben will, um möglichst großen Umsatz zu machen. Im Prinzip steht Geld der Unversehrtheit des Lebens gegenüber. Das ist eine schwierige Sache.

kreuzer: Das Nutzen des Markierungssprays war eine Ordnungswidrigkeit. Die Stadt Leipzig hat Sie daraufhin angezeigt ...

ALLERDISSEN: Ich hatte noch versucht, mit dem Behindertenbeauftragten des Landkreises von Leipzig einen Konsens zu finden, quasi als letzter Versuch. Das hatte aber nicht gefruchtet. Nach drei Tagen habe ich mich dazu entschieden, die Aktion mit dem Markierungsspray durchzuführen. Gegen den Strafbefehl haben mein Anwalt und ich Einspruch eingelegt. Es hatte sich herausgestellt, dass die Stadt Leipzig bei der Genehmigung zur gewerblichen Nutzung der Petersstraße gar nicht auf das Freihalten des Blindenleitsystems hingewiesen hatte. Das wurde jetzt eingeräumt. Die Stadtverwaltung hält die Anzeige aber noch aufrecht.

kreuzer: Sie müssen jetzt 650 Euro bezahlen, weil Sie auf eine Gefährdung aufmerksam gemacht haben, die von der Stadt nicht beachtet worden ist?

ALLERDISSEN: Das ist alles sehr verwunderlich. Es handelt sich hier zweifelsohne um ein Kommunikationsproblem innerhalb der Verwaltung. Ich kämpfe schon seit Jahren für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. In der Politik bin ich also kein Unbekannter. Aber der Vorschlag, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen, ist bisher noch nicht gekommen. Es ist nie wieder mit mir Kontakt aufgenommen worden.

kreuzer: Wie geht Leipzig Ihrer Meinung nach generell mit den Interessen und Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen um?

ALLERDISSEN: Was die Barrierefreiheit betrifft, ist Leipzig, und Deutschland generell, ganz schlecht aufgestellt. Ich als Betroffener, teilweise im Rollstuhl sitzend und fahrend, mache diese Erfahrungen. Als gesunder Fußgänger sieht man gar nicht, was an Barrieren alles da ist und wie wenig Schutz es gibt. Ich weiß, dass es aufgrund der vergangenen Sparmaßnahmen in der Verwaltung zu Personalkürzungen gekommen ist. Wenn also ein Bürger mal anruft und sich darüber beschwert, dass jemand regelmäßig seinen Verkaufsaufsteller mitten auf den Fußweg stellt, kommt heute keiner mehr vom Ordnungsamt vorbei, um zu prüfen, ob das tatsächlich so ist. Grundsätzlich sind Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft das schwächste Glied in der Kette. Was uns an Rechten verbrieft ist, schon seit 15 bis 20 Jahren, wird regelmäßig ignoriert. Damit meine ich auch eine bewusste Ignoranz seitens der Zivilgesellschaft, aber auch gerade von Entscheidern in den Ämtern. Und von der Politik sowieso. Die Bürger müssten deshalb mehr Courage zeigen und die Verursacher von solchen Blockaden auch mal ansprechen. Vielleicht würde sich dann etwas ändern. Generell ist ein größeres Bewusstsein für eine inklusive Gesellschaft wünschenswert.


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2 Kommentar(e)

StadtLiebe Leipzig 15.12.2016 | um 02:01 Uhr

Merkwürdig das ein so großes Bäckerei Unternehmen sich nicht für ihre Gäste bzw. zahlende Kundschaft interessiert. Wenn alle Menschen mit einer Sehschwäche nicht mehr ihr Brot dort kaufen würde. Sondern bei einem Bäcker der schwer mit Leib und Seele nachts kurz vor 4 sein Brot in den Ofen schiebt. Würde Lukas ganz schön doof aus der Röhre schauen!!! PS:. Auch unsere benachteiligten Menschen machen unsere Stadt Lebens & liebenswert. MFG StadtLiebe Leipzig/twitter

Micha 15.12.2016 | um 19:06 Uhr

Abwaschbare Sprüfarbe? Kreide, Sprühkreide.