anzeige
anzeige
Kultur

Das Wälzen der Sounds

Wie es sich anfühlt, die Kinoorgel im Grassimuseum zu spielen

  Das Wälzen der Sounds | Wie es sich anfühlt, die Kinoorgel im Grassimuseum zu spielen

Herrlicher Klanfarbkasten, mächtiger Orgelsound, tremolierende Tutti: kreuzer-Musik-Redakteurin Anja Kleinmichel, im Hauptberuf Pianistin, erinnert sich an ihre Zeit an der Kinoorgel im Grassimuseum, die im Jahre 1931 gebaut wurde.

Als ich Ende der neunziger Jahre nach Leipzig zog, war das Kino im Grassi eines der beliebtesten Programmkinos der Stadt. Das verschwand mit der Sanierung des Museums und es dauerte eine Zeit lang, bis ich auf eine Stummfilmreihe im Grassi aufmerksam wurde. Sie diente vor allem dazu, eine neu restaurierte Welte-Kinoorgel vorzuführen, die jahrzehntelang in Hunderte von Einzelteile zerlegt in den Depots des Museums Dornröschenschlaf gehalten hatte. Das ursprünglich aus dem Erfurter Ufa-Palast stammende Prachtstück von 1931 hatte dort Anfang der sechziger Jahre endgültig ausgedient.

Ich besuchte mehrere Filmvorstellungen und war magisch angezogen von der Kinoorgel und ihren Möglichkeiten, Filme zu beleben und Stimmungen zu lenken. Schließlich bekam ich selbst die Gelegenheit, darauf zu spielen und ganz anders in den Rausch der Töne und Bilder zu geraten, als ich es bisher vom Stummfilm-Begleiten am Klavier kannte.

Auf alten Fotos sieht man, dass der große Vortragssaal im Grassi ähnlich wie heute schon ab 1929 mit Leinwand und Orgel ausgestattet war – wobei er damals hübsch getäfelt und anders möbliert einen wohnlicheren Eindruck machte. Es ist immer eine kleine Hürde, die heute recht sterile Atmosphäre des Saals mental zu überwinden und auch ohne den Charme verkratzter Filme und eines knatternden Vorführapparats bei einer digitalen Projektion in Stimmung zu kommen. Letztendlich aber braucht es in der Dunkelheit nur den kleinen vergnüglichen Tritt auf einen Fußschalter, Piston genannt, um einen echten vollen Kinogong auszulösen, die Realität hinter sich zu lassen und auf den Zug des laufenden Films aufzuspringen.

Wie ein herrlicher Klang-Farbkasten liegt dann die Fülle der Möglichkeiten vor dem Spieler. Die Kinoorgel ist mit Streicher- und Bläserklängen und großem Schlagwerk ausgestattet, da sie ab Ende der zwanziger Jahre als Ersatz für ein ganzes Orchester herhalten sollte. Weiche und sanfte Flächen, Instrumentalsoli, Überlagerungen, Schichtungen bis zum aggressiv tremolierenden Tutti kann man generieren und bei Bedarf den Saal akustisch unter dem mächtigen Orgelsound begraben. Ich stelle mir immer vor, wie es damals in amerikanischen Kinos mit gleich zwei Kinoorgeln zugegangen sein muss.

Bestimmte Registerkombinationen kann man vorab speichern, um bei überraschendem Szenenwechsel auch mal blitzschnell in eine völlig andere Soundwelt zu fahren. Unwiderstehlich sind die Klangeffekte von Glockenspiel, Kastagnetten, Wind- und Regenmaschine, Schiffssirene, Hupe, Vogelgezwitscher, Telefonklingel und vielem mehr. Ich lasse keine Gelegenheit aus, obwohl die Effekte rein illustrativen Charakter haben und man die Stimmung oder Spannung letztendlich mit echter Musik an den Tasten erzeugen muss. Als Musiker hat man hier alle Freiheiten und die stilistische Bandbreite reicht von spätromantisch über Ragtime bis zu Minimal oder atonalen Klängen. Mein erster Film an der Kinoorgel war »Nanook of the North«, ein Dokumentarfilm über das Leben der Inuit in der Eiswüste von 1922, und ich generierte eisige dissonante Schneestürme in den schmerzend hohen Registern gepaart mit der Windmaschine, oder mit Schellenklang verzierte Melodien zum Zug der Schlittenhunde durch die Arktis. Eine kontemplative Szene beim Angeln auf der Eisscholle unterlegte ich mit zarten Klängen des Glockenspiels. Die an Land verendende Robbe spielte ich ganz körperlich mit den wellenförmig bewegten Clustermassen auf den Fußpedalen. Überhaupt ist das Spiel an der Kinoorgel, das Wälzen der Sounds, sehr körperlich. Wollte ich bildgenau Highlights illustrieren, müsste ich gut vorausplanen und die Filmsequenzen haargenau kennen, da alle Effekte mit einiger Verzögerung ausgelöst werden.

Wenn der Film läuft, vergessen die meisten Leute, dass der Soundtrack gerade live produziert wird und dass das hübsche antike Möbelstück unten rechts vor der Leinwand mit den zwei Manualen, unzähligen Knöpfen und Registern eben keine elektronische Orgel und kein Synthesizer mit Samples ist, sondern lediglich ein Spieltisch. Erst nach der Vorstellung, wenn alles bestaunt und der Spieler befragt wird, klärt sich, dass der Tastenanschlag elektronisch übertragen wird. Der Tisch ist lediglich die Zentrale mit Blick auf die Leinwand, hinter der das eigentliche Orgelwerk mit den Pfeifen, Trommeln, Metallblechen und Tröten verborgen bleibt. Kilometerlange Kabel im Inneren sichern die Verbindung zwischen Spieltisch, Schaltschrank und den Pfeifenwerken sowie dem Effektapparat. Im Grassi-Museum ist der Orgelraum für das Publikum begehbar und sorgt immer wieder aufs Neue für Faszination und Erhellung.


Kommentieren


0 Kommentar(e)