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Filmkritik

(K)ein Grund zu Feiern

Die Kinostarts im Überblick und was sonst Filmisches in der Stadt geschieht

  (K)ein Grund zu Feiern | Die Kinostarts im Überblick und was sonst Filmisches in der Stadt geschieht

Von Sommerloch keine Spur: in dieser Woche starten einige hochkarätige und höchst abwechslungsreiche Filme in den Leipziger Kinos. Der kreuzer sagt, was lohnt...

Film der Woche: Janet hat es geschafft: sie wurde zur Gesundheitsministerin im Schattenkabinett des britischen Unterhauses gewählt. Eigentlich ein Grund zur Freude und Anlass für eine Party. Doch irgendwas stimmt nicht mit ihrem Mann Bill. Er sitzt apathisch auf seinem Sessel, die Jazzplatten auf Anschlag und leert allein eine Flasche Wein, während Janet das Essen vorbereitet. Bill rührt sich auch nicht, als die Gäste eintreffen. Die emanzipierte April, die ihren Eso-Typen Gottfried nur mitgeschleppt hat, um mit ihm Schluss zu machen. Das lesbische Paar Martha und Jinny, die in Kürze gleich drei Kinder erwarten, aber noch nicht so sicher sind, ob sich das mit ihrem Freiheitsdrang vereinbaren lässt. Und der geschniegelte Banker Tom, der eigentlich mit seiner Freundin Marianne zur Party stoßen sollte. Doch die Tatsache, dass er ein nervliches Wrack ist, deutet darauf hin, dass hier nicht alles so läuft, wie geplant. Das ist aber nur einer der zahlreichen Abgründe, die Regisseurin Sally Potter (»Orlando«) in ihrer bitterbösen Gesellschaftssatire aufreißt, um ihre Figuren hineinzustoßen. Mit einer großen Lust inszenierte sie diese Boulevardkomödie mit bissigen Dialogen, formal strikten Schwarz-Weiß-Bildern und einem großartigen Ensemble. Ausführliche Kritik im aktuellen kreuzer.

Bubigesicht, Collegejacke, Sonnenbrille, Kopfhörer immer im Ohr – »Baby« ist schon eine ungewöhnliche Erscheinung im Gangstermilieu, und da mangelt es bekanntlich nicht an ungewöhnlichen Erscheinungen. Niemand würde es dem schweigsamen Jungen zutrauen, aber er ist der Beste in seinem Job, als Fluchtwagenfahrer im Auftrag des sinistren Doc (entspannt verkörpert von Kevin Spacey). Dabei ist Baby eigentlich ein netter Kerl, der seinen tauben Ziehvater versorgt und mit analogen Gerätschaften und heimlich mitgeschnittenen Gangstertalk-Samples den Soundtrack seines irren Lebens aufnimmt. Es kommt, wie es kommen muss – Baby verliebt sich und will raus aus der Szene. Das gibt natürlich Stress. Klassischer Actionfilm-Plot, den man schon hunderttausend Mal gesehen hat? Stimmt. Aber selten mit so vielen überraschenden Wendungen, Witz, Liebe zum Detail und vor allem – ausgefeilten Charakteren. Da ist etwa die hübsche Kellnerin nicht einfach nur hübsch, sondern ebenfalls Musiknerd, und passt damit nicht nur optisch perfekt zum Protagonisten. Der Raser mit dem goldenen Herzen wird gespielt von Ansel Elgort (»Das Schicksal ist ein mieser Verräter«). Der Youngster gibt hier den klassischen American Boy à la Marty McFly so lässig, sympathisch und gewitzt, dass man dem Film vielleicht auch zweitklassige Action verziehen hätte. Gibt's aber nicht. Dafür sorgt Edgar Wright, Regisseur der kultigen Cornetto-Trilogie (»Shaun Of The Dead«, »Hot Fuzz«, »World's End«), indem er Humor, Herz und, vor allem, der Musik genauso viel Bedeutung beimisst wie der Raserei. Ausführliche Kritik von Karin Jirsak im aktuellen kreuzer.

»Baby Driver«: ab 27.7., Cineplex, CineStar, Regina Palast

Die Präzision und Härte der deutschen Asylpolitik und der Abschiebungen, die fern der Öffentlichkeit und abseits von Gegenprotesten vollstreckt werden, schildert »Deportation Class« mit erschreckenden Bildern und nüchterner Haltung. Dabei begleitet der Film zwei albanische Familien, die, nachdem ihr Herkunftsland als »sicher« deklariert wurde, eben dorthin verbracht werden. Zwei von mehr als 250 Fällen, die 2016 binnen drei Tagen allein von Rostock aus Richtung Balkan abgewickelt wurden. Bundesweit waren es 25.000 Asylsuchende, die zwangsweise in ihre Heimat zurückgeführt wurden. Für den dreifachen Vater Gezim heißt das konkret, dass 3.30 Uhr ein »Zuführungskommando« - gut ein Dutzend Polizisten und Beamte - unangekündigt seine Wohnung betritt und eine halbe Stunde zum Sachenpacken lässt. Die 12-jährige Tochter ist auf Klassenfahrt im Harz - für das Kommando unerheblich. Nur die Mutter darf bis zu ihrer Rückkehr bleiben. Den notwendigen Dolmetscher hat nur das Filmteam dabei. Schnitt zum leitenden Beamten: »So weit ist die Lage unter Kontrolle.« In seiner Vielstimmig- und Sachlichkeit ist der Film ein Stück politische Bildung, vor allem für diejenigen, die die Lebensrealität von Asylsuchenden in Deutschland nicht kennen. Der Lehrer einer Integrationsklasse rätselt darüber, wie er mit seinen traumatisierten Schülern über Abschiebungen ins Gespräch kommt. Das zuständige Ministerium hat informiert, diese seien aus dem laufenden Unterricht nicht auszuschließen. Interessant wird es auch dann, wenn Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Caffier auftritt. Offensichtlich als PR-Kampagne für die damals anstehende Landtagswahl geplant, inszeniert sich der CDU-Spitzenkandidat als softer Hardliner, als solidarischer Polizeioberster, der auch mal mit anpackt, als verständnisvoller, aber rigoroser Rechtsvollstrecker. Ausführliche Kritik von Sebastian Gebeler im Julikreuzer.

»Deportation Class«: 30.7.–2.8., Cinémathèque in der Nato

Wann man über »Dark Blood« spricht, muss man über seine Entstehungsgeschichte reden. Der Niederländer George Sluizer (»Spurlos«) drehte ihn 1993 in Utah. Wenige Wochen bevor er vollendet werden konnte, starb sein Hauptdarsteller River Phoenix an einer Überdosis. 19 Jahre lag der Film unvollendet in der Schublade Sluizers. Als der Regisseur selbst schwer erkrankte, entschloss er sich, das Kapitel zu schließen. So erblickte »Dark Blood« im Februar 2013 doch noch das Licht der Leinwand im Rahmen der Berlinale. Nun, über 20 Jahre er doch noch ins Kino. Auch wenn der Wüsten-Thriller unvollendet bleibt und Off-Kommentare von Sluizer elementare, ungedrehte Szenen ersetzen, ist »Dark Blood« ein interessanter Bonustrack für Cineasten. Die Dreiecksgeschichte am Rande eines Atomwaffentestgeländes ist hervorragend besetzt und Ed Lachman fing die karge Natur in eindrucksvollen Aufnahmen ein. Jonathan Pryce und Judy Davis spielen das Ehepaar Harry und Buffy, unterwegs auf ihrer „zweiten Hochzeitsreise“, als ihr Wagen zusammenbricht und sie bei dem seltsamen Einsiedler Boy stranden. River Phoenix verleiht ihm eine mysteriöse Aura. Die Trauer um seine Frau, die an den Folgen radioaktiver Strahlung verstarb, und die Einsamkeit inmitten der Wüste ergeben einen gefährlichen Cocktail aus Wut und Paranoia, den Phoenix überzeugend verkörpert. So legt sich eine zusätzliche Melancholie über den Film, betrachtet man die verbliebenen Szenen doch mit der Gewissheit, dass Phoenix es noch weit hätte schaffen können. »Dark Blood« ist in dieser Form kein kompletter Film und wäre vielleicht auch nach der Fertigstellung kein Meisterwerk geworden. Aber als Testament eines hoffnungsvollen, jungen Schauspielers ist er absolut sehenswert.

»Dark Blood«: 30.7., 2.8., Schaubühne Lindenfels, 3.–9.8., Cineding

Einen Monat nach Spencers erstem Todestag kommt eine überwiegend via Crowdfunding finanzierte und unter anderemvon der Leipziger Departures Film GmbH produzierte Doku in die Kinos, mit deren Vorbereitungen schon vor Jahren begonnen wurde. Protagonisten sind zwei Hardcorefans der Haudrauf-Stars, die ihren Idolen sogar ein wenig ähnlich sehen und deren Lebensgeschichte mit ihrer Begeisterung für Spencer und Hill verknüpft ist: »Der Blonde« Marcus schöpfte nach einem schweren Skiunfall neuen Mut, als er gelähmt den heiteren Prügeleien mit stets glücklichem Ausgang zusah. »Der Dicke« Jorgo wiederum konnte mit Hilfe der Filme Probleme bewältigen, die durch seine angeborene Erblindung beim Heranwachsen auftraten. Mit einer Bud-Spencer-Marionette im Gepäck begeben die zwei sich in dieser merklich gescripteten, aber äußerst liebevoll inszenierten Roadmovie-Hommage auf eine Reise durch Europa, mit dem Ziel, Pedersoli höchstpersönlich zu treffen. Dabei erfährt man einiges über sie, das Fandom, vor allem natürlich über Spencer, Hill und die Filmschaffenden von einstund darf dank vieler passend gewählter Originalszenen aus »Vier Fäuste für ein Halleluja«, »Das Krokodil und sein Nilpferd« und Co. hemmungsloser Nostalgie frönen. Zum Gelingen des Unterfangens trägt zudem der gewohnt schnoddrige Humor aus der Feder Rainer Brandtsbei, der als Dialogbuchautor viele Streifen des Duos bei uns zum Erfolg führte, sowie die Erzählstimme von Thomas Danneberg, dem deutschen Sprecher von Terence Hill. Ausführliche Kritik von Peter Hoch im aktuellen kreuzer.

»Sie nannten ihn Spencer«: ab 27.7., Passage Kinos, Regina Palast, Schauburg

Der Sohn von Günther, »Pit« und Margarete, »Joy« Weisenborn beschreibt in »Die guten Feinde« die Geschichte seiner widerständigen Eltern anhand von Originalfilmaufnahmen, Fotos und eingesprochenen Tagebuchtexten. Er zeigt den Ort der Inhaftierung der Eltern, Plötzensee, sowie Gespräche mit den Kindern, Brüdern und Biografen anderer Widerstandskämpfer. Was nach einem ziemlich anstrengenden Filmerlebnis klingt, ist aber erstaunlich kurzweilig, ja leicht und teilweise sogar amüsant geraten. Was beispielsweise diese Mutter über ihr erstes Date erzählt, ist einfach umwerfend charmant und witzig. Dass sich Günther Weisenborn sofort verliebt und sie in seinen Liebesbriefen aus der Untersuchungshaft als seine Schicksalsfrau bezeichnet, versteht sich danach von selbst. Der Film lebt neben der Liebe von heiterer Swingmusik und guten Schlagern, von Originalfilmaufnahmen aus den Berliner Cabarets der Dreißiger, der Volksbühne, der Varietébühne Wintergarten, der Bullettenkneipe am Schönhauser Tor. Die erste Berliner Kneipe: roh, hart, herzlich, hat der Vater im Tagebuch bemerkt. Obgleich die Tagebuchaufzeichnungen extrem interessant sind, wurden sie sehr eng zusammengeschnitten, so dass man nicht alles versteht. Das ist das einzig Bedauerliche in diesem so formidablen Dokumentarfilm. Letztlich gilt: Die Rote Kapelle war eine Bezeichnung, die nicht von den Bezeichneten selbst kam - genauso wenig, wie das düstere Image, das man den Widerständigen nachher anlastete (der Stern 1951, der Spiegel 1968) – »Vaterlandsverräter« - ausgerechnet. Der Film ist darum eine wichtige Aufklärungsarbeit über die tatsächlichen Motive der Akteure, die durch und durch empfehlenswert ist. Ausführliche Kritik von Kristin Vardi im aktuellen kreuzer.

»Die guten Feinde. Mein Vater, die Rote Kapelle und ich.«: 30./31.7., Kinobar Prager Frühling

Flimmerzeit_JUNI_2017

 


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