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Käufer und Verkaufte

  Käufer und Verkaufte |
Es ist noch gar nicht lange her, da wurde Leipzig für seine nahezu unbegrenzt erscheinenden Freiräume gefeiert. Das ist Geschichte: Durch den massiven Zuzug füllen sich Stadtviertel um Stadtviertel und die Mieten steigen. Doch nur wenige profitieren davon. Anders als in den Großstädten des Westens ist privater Wohnraum hier größtenteils in der Hand von Kapitalanlegern, die nicht in der Stadt leben. Kaum irgendwo sonst in Deutschland hat der Häuser- markt in den vergangenen 27 Jahren derartige Berg-und-Tal-Fahrten erlebt und dabei so viele Skandale produziert. Wie konnte es zu alldem kommen? Die Spurensuche anhand der Geschichte zweier Leipziger.
Es ist Frühling 2015, als Angela Seidel ihrem Zuhause Lebewohl sagen muss. Vier Jahre lang wohnte sie in einer 160 Quadratmeter großen Halle mit vier Meter hohen Decken, bewohnbar gemacht im Eigenausbau. Es gab offene Wohnbereiche, ein Kinderzimmer, eine Küche, ein Bad und ein großes Fenster, unter dem das Wasser der Weißen Elster vorbeifloss. »Es war großzügig, es gab viel Raum zum Atmen, es war einfach wunderbar«, erzählt die Mittvierzigerin mit den kurzen Haaren. Weniger als drei Euro kostete die Miete pro Quadratmeter. Beim Auszug hat Seidel Tränen in den Augen. [caption id="attachment_56779" align="aligncenter" width="477"]Angela Seidel Angela Seidel: »Was wäre, wenn wir rechtzeitig selbst gekauft hätten?« (Foto: Henry W. Laurisch)[/caption] Bis zum Schluss hat sie dafür gekämpft, in der Holbeinstraße 28a bleiben zu dürfen, den Elsterwerken in Schleußig. Ohne Erfolg. Erst kam der Investor Jörg Zochert mit seiner Immobilienfirma KSW. Es folgte die über Medien ausgetragene Auseinandersetzung zwischen Mieter und Bauunternehmen (s. kreuzer 03/2014). Ein von der Stadt vermittelter Mediator soll schlichten, doch beide Seiten werden sich nicht einig. Am Ende fällt einem Amt auf, was jahrelang niemand gemerkt hat: Die frühere Fabrik war offiziell nie in Wohnraum umgewandelt worden, folglich gab es Mängel beim Brandschutz und anderen Vorschriften. Der alte Eigentümer hatte sich darum nicht gekümmert, die neuen Besitzer wollten am liebsten ohne die bisherigen Mieter sanieren. Die Mieter müssen ausziehen, denn die Fabrik gehört ihnen nicht. »Ich habe oft darüber nachgedacht, was wohl gewesen wäre, hätten wir früher die Elsterwerke selbst gekauft«, sagt Seidel heute und seufzt. Seit der Leerstand schwindet und die Mieten wieder steigen, zeigt sich deutlich, wie problematisch es ist, dass der größte Teil der Stadt nicht denjenigen gehört, die in ihr leben. Vom Mieter- zum Investorenparadies Manche sehen diese Entwicklung als Normalisierung, als Annäherung der Leipziger Verhältnisse an diejenigen im Rest der Republik. Im Westen sind Szeneviertel seit Jahren begehrte Wohnlagen, stehen die Räume von Subkulturen und Gering­verdienern schon lange unter Druck. Leipzig schien durch seinen üppigen Leerstand von diesen Problemen bis vor Kurzem noch weit entfernt – nur so konnte der Mythos vom Hypezig entstehen. Doch nun wächst die Stadt Jahr für Jahr um 10.000 Einwohner und mehr. Laut Berliner Morgenpost sind die Mieten im Durchschnitt aller Stadtbezirke seit 2012 um 21 Prozent gestiegen, Leipzig steht auf Platz vier der Städte mit der stärksten Mietsteigerung in Deutschland. Damals kostete eine durchschnittliche Kaltmiete laut Stadtverwaltung 4,95 Euro pro Quadratmeter, heute liegt der beim Immobilienportal Wohnungsboerse.net angebotene Wohnraum im Schnitt bei 7,27 Euro. Zwar sind die Durchschnittsmieten in Großstädten wie München, Stuttgart, Frankfurt, aber auch Hannover, Bremen oder Nürnberg noch deutlich höher. Doch ein direkter Vergleich hinkt. Neben deutlich niedrigeren Gehältern, die in Leipzig gezahlt werden, gibt es einen weiteren wichtigen Unterschied: Nirgendwo sonst profitieren so wenige Menschen finanziell vom Boom der Immobilienmärkte wie hier. [caption id="" align="aligncenter" width="560"]Die maroden Bauten in Leipzig wurden saniert – größtenteils von Investoren aus dem Westen Realexistierender Sozialismus: Connewitzer Hinterhof 1990 (Foto: Thomas Böhme)[/caption] Genaue Daten über die Verteilung des Leipziger Grundbesitzes sind schwer zu bekommen. Das beim Amtsgericht beheimatete Grundbuchamt kennt zwar zu jedem Flurstück auch den Eigentümer, gibt bislang aber keine Angaben heraus. Man kann sich der tatsächlichen Lage also nur annähern mithilfe der städtischen Grundstücksmarktberichte, die über den Handel mit Boden und Gebäuden Auskunft geben. In den Jahren 2004 bis 2008 kamen rund 70 Prozent aller Käufer von Immobilien aus den alten Bundesländern. Von 2009 bis 2015 differenziert die Statistik noch genauer: Bei sanierten Altbauten, beliebt wegen der Steuersparmöglichkeiten, wohnen 80 Prozent der Käufer nicht in Leipzig. Bei Neubauten, zu denen auch Familieneigenheime zählen, lag der Anteil von Käufern aus Leipzig immerhin bei rund 39 Prozent. Mit einem Anteil von 58 Prozent stellten auswärtige Käufer aber auch hier klar die Mehrheit. Laut kommunaler Bürgerumfrage lebten 2012 zwar rund 12 Prozent aller Leipziger in den eigenen vier Wänden. Ergo: 88 Prozent der Leipziger haben keinen Immobilienbesitz in der Stadt. Und neun dieser 12 Prozent waren Einfamilienhäuser, die vor allem in den Randlagen stehen. Gerade einmal drei Prozent der Leipziger leben also in einer Wohnung, die ihnen auch gehört. Doch wem gehören die Wohnungen, in denen die restlichen 97 Prozent der Mieter in Leipzig wohnen? Aus Sicht von Stadtgesellschaft und Kommune ergeben sich meh­rere größere Probleme aus dieser Verteilung. Weil die Eigentümer nur selten vor Ort und meistens auch gar nicht direkt ansprechbar sind, beteiligen sie sich selten bis gar nicht an Diskussionen über die Entwicklung der einzelnen Stadtviertel, in denen steigende Mieten die soziale Durchmischung bedrohen. Weil die Steuern aus den Mieteinnahmen an den Wohnort der Eigentümer gehen, geht auch die Stadtkasse leer aus. Wie aber konnte es zu dieser massiv ungleichen Verteilung des Leipziger Immobilieneigentums kommen? Wie wurde aus dem sogenannten volkseigenen Wohnraum der DDR der private Immobilienbesitz überwiegend westdeutscher Eigentümer? Und welche Konflikte ergeben sich daraus für die Gegenwart? In der folgenden Geschichte geht es auf der einen Seite um Angela Seidel, die stellvertetend steht für Leipziger, denen die Jahre der günstigen Mieten Raum zur eigenen Entfaltung gaben, die nun aber Verdrängung erleben und sich von steigenden Mieten bedroht fühlen. Auf der anderen Seite steht Jörg Zochert, einer der beiden Chefs des Bauträgers KSW, der zahlreiche ­Häuser in Leipzig saniert und verkauft hat. Die KSW stieß den Umbau der Elsterwerke an und war in diesem Konflikt der Gegner von Seidel und den übrigen verbliebenen Mietern. Beide, Seidel und Zochert, wurden in Leipzig geboren und sind nahezu gleich alt. Ihre Situation heute könnte jedoch kaum verschiedener sein. Während Jörg Zochert als erfolgreicher mittelständischer Unternehmer in seiner Generation eine Ausnahme darstellt, lebt Angela Seidel als Geschäftsführerin eines Kulturvereins von kleinem Gehalt und teilt mit vielen Leipzigern das Schicksal eines prekären Arbeitsverhältnisses. Die Stunde null 1989 ist der in Schleußig und Gohlis aufgewachsene Jörg Zochert 21 Jahre alt. Seine Eltern sind Ärzte und auch der Sohn will eigentlich Medizin studieren. Doch er bekommt nur einen Platz in Chemie. Angela Seidel ist Kind eines Eisenbahners und einer Sachbearbeiterin, sie wächst in Markkleeberg und Mockau auf. Seidel ist 20 Jahre alt, hat gerade eine Berufsausbildung mit Abitur abgeschlossen und arbeitet als Hotelfachangestellte im Astoria am Bahnhof. Fotos aus dieser Zeit zeigen ein Leipzig, das heute kaum jemand wiedererkennen würde. Viele Straßenzüge sind komplett verfallen. Fassaden zerbröckeln, auch im Zentrum bedrohen herabfallende Stuckelemente die Passanten. In der Volkmarsdorfer Konradstraße oder der Biedermannstraße in Connewitz brechen die alten Häuser gleich reihenweise zusammen. Es ist kein Geld da für die Instandhaltung der alten Bausubstanz, denn der Staat hat die Mieten auf Vorkriegsniveau eingefroren. In Ostberlin kostet der Quadratmeter Wohnfläche zwischen 85 Pfennig und 1,25 Mark Ost. Die DDR setzt auf neue Plattenbauten, zieht im Kolonnaden- oder Seeburgviertel Blöcke mit vorgefertigten Betonteilen wie aus der Retorte hoch. Zochert zweifelt schon lange am sozialistischen Staat und wird mit seinem Studienfach auch nicht warm. Er denkt darüber nach, sich an einer Revolution zu beteiligen. Doch müsste diese ja im Namen aller geschehen. Was aber ist dann mit den Menschen, die sich lächelnd vor ihrer neuen Plattenbauwohnung fotografieren lassen und von Plakaten herab verkünden: Wir sind stolz auf die DDR, unser sozialistisches Vaterland – wollen die überhaupt eine Veränderung? Zochert entscheidet sich für die Flucht. Wie viele seiner Landsleute beantragt er ein Reisevisum für Ungarn und bekommt es. Er will aber nicht allein gehen und wartet, dass ein Freund aus Erfurt mitkommt. Dem Vertrauten wird das entscheidende Schriftstück jedoch verweigert. Zur gleichen Zeit kampieren bereits Tausende DDR-Bürger auf dem Gelände der westdeutschen Botschaft in Prag. Als Zochert die Nachricht hört, dass die Prager Botschaftsflüchtlinge ausreisen dürfen, packt er einen kleinen Koffer und setzt sich in den Zug nach Budapest. Am frühen Morgen kommt er in der ungarischen Hauptstadt an, nimmt sich ein Taxi und fährt bei aufgehender Sonne der österreichischen Grenze entgegen. Noch heute empfindet er das als Schlüsselerlebnis. Mit 21 Jahren lässt er den Eisernen Vorhang hinter sich und betritt ein unbekanntes Land, ganz allein. »Meine Freunde, meine Eltern, alle Leute, die ich kannte, waren im Osten«, sagt er. Auch Angela Seidel sieht zu dieser Zeit, dass es so nicht mehr weitergehen kann. »Ein Verfall war sichtbar, es wurde nicht investiert. Früher oder später wäre vieles nicht mehr haltbar gewesen«, sagt sie. Seidel findet die grundlegenden Werte einer sozialistischen Gesellschaft gut, glaubt an Solidarität und Mitmenschlichkeit und will sie gar nicht abschaffen, eher verändern. Aber sie war nicht dabei, bei den Bürgerrechtsgruppen der Vorwendezeit. Als Angestellte im Astoria sieht sie aber ab Oktober jede Woche die großen Demonstrationen auf dem Ring vorbeilaufen. Irgendwann ist sie dann auch dabei. [caption id="" align="aligncenter" width="477"]Jörg Zochert Jörg Zochert: »Wir konnten nicht mehr für drei Euro vermieten« (Foto: Henry W. Laurisch)[/caption] Die Planung des Umbaus Zochert fühlt sich wie ein Urmensch, der eben vom Baum herabgestiegen ist. Im Flüchtlingslager in Freilassing an der deutsch-österreichischen Grenze reicht man ihm Bananen. Er lehnt ab. Eine Nacht lang bleibt er in dem Zelt der Diakonie, dann fährt er weiter zu seiner Tante nach Köln. Dort werden die Karten neu gemischt. Zuerst denkt der 21-Jährige über ein Jura-Studium nach oder über Betriebswirtschaftslehre. »Medizin musste nicht mehr sein. Im Westen kannst du deine Meinung ja frei sagen und deshalb mit diesen Fächern wirklich etwas anfangen.« Dann ­entscheidet er sich aber für eine Ausbildung zum Industriekaufmann bei der Niederlassung einer spanischen Firma, die mit Elektroprodukten handelt. »Es gab dort nur 15 Mitarbeiter, die aber aus sechs Nationen kamen. Es war ein Amerikaner dort, der Chef war Belgier, es gab Holländer, Franzosen, Westdeutsche und einen Ossi. Es war multinational.« Zochert macht seine ersten Erfahrungen auf einem freien, kapitalistischen Markt. Etwa zur gleichen Zeit beginnen die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung. Vertreter von BRD, DDR, USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich sitzen an einem Tisch und handeln den Übergang von der sozialistischen Staatswirtschaft zur kapitalistischen Demokratie aus. »Die Privatisierung von Eigentum und somit auch die Privatisierung von städtischem Immobilieneigentum ist eine der wichtigsten Di-mensionen dieses Prozesses«, schreibt die Berliner Soziologin Bettina Reimann in ihrer Studie »Städtische Wohnquartiere«, bei der sie vor allem die neue Eigentümerstruktur im Prenzlauer Berg in den Blick nimmt. Anders als in anderen osteuropäischen Ländern wird für die DDR kein neues Gesetzeswerk aufgesetzt, sondern ein fertiges von West- nach Ostdeutschland transferiert. Noch in den letzten Tagen der Teilung, am 28. September 1990, tritt das »Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen« in Kraft, das die Besitzverhältnisse im vereinten Deutschland neu regelt. Kern ist der Grundsatz »Rückgabe vor Entschädigung«. Statt Alteigentümer zu entschädigen und das Eigentum neu zu verteilen, wird die Eigentumsgeschichte aller Immobilien rekonstruiert und die Alteigentümer erhalten ihren früheren Besitz zurück. Die DDR hatte vor allem die Mietshäuser in den großen Städten Schritt für Schritt in das sogenannte Volkseigentum überführt, bei dem es sich tatsächlich aber um Staatseigentum handelte. Ent­eignet wurden besonders diejenigen, die aus dem Land geflohen waren, sei es nach Westdeutschland oder ins Ausland. Aber auch dort, wo privates Eigentum erhalten blieb, übernahmen die kommunalen Wohnungsverwaltungen über Wohnberechtigungsscheine die Kontrolle darüber, wer die Räume bewohnen durfte. Weil die Mieten die Instandhaltungskosten nicht deckten, reparierten meist die Mieter selbst ihre Räume und bauten sie aus. Sie rückten dadurch in eine eigentümerähnliche Rolle, schreibt die Soziologin Reimann. Diese Eigenleistungen spielten im Einheitsvertrag allerdings keine Rolle. Stattdessen entscheiden nun die neu gegründeten Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen in einem bürokratischen, komplizierten und langwierigen Verfahren darüber, wer die rechtmäßigen Eigentümer sind. Bis 1992 haben Antragsteller Zeit, ihre Ansprüche geltend zu machen. In den Jahren 1994 und 1995 sind in Leipzig insgesamt 76 Prozent aller Flurstücke mit Restitutionsansprüchen belegt, nur in Potsdam sind es laut der Studie noch mehr. Neustart brutal Als er mit der Ausbildung fertig ist, steht Jörg Zochert wieder vor der Möglichkeit, ein Studium aufzunehmen. Er entscheidet sich noch einmal dagegen. Stattdessen springt er abermals ins kalte Wasser und geht zurück in den Osten. »Jedem war sonnenklar, in Leipzig geht jetzt die Post ab. Da wird sich was entwickeln«, sagt er. Und er hat einen Vorteil: Er kennt die Sprache der Westdeutschen, die im Osten investieren wollen, denen es aber an Ortskenntnissen und an Kontakten fehlt. Seine westdeutschen Floskeln öffnen ihm die Türen, seine ostdeutsche Herkunft schafft Vertrauen. Zunächst entwickelt Zochert mit einem Architekturbüro aus dem schwäbischen Reutlingen neue Supermärkte in den Kleinstädten des ostdeutschen Südens. Außerhalb der großen Zentren in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen geht das zunächst leichter, denn die Eigentumsverhältnisse sind größtenteils geklärt. Und die alten DDR-Kaufhallen vor Ort sind auf die neuen Zeiten nicht vorbereitet. Ihre Lager sind viel zu groß, nehmen oft die Hälfte des ganzen Marktes ein. Die Lieferzeiten waren zuvor häufig unberechenbar gewesen, also bestellte man den Warennachschub, wenn er verfügbar war, nicht wenn er gebraucht wurde. Parkplätze hingegen gab es vor den Ostmärkten meist nicht. Auf einmal sind Autos aber keine Mangelware mehr, folglich wollen die Kunden ihre Einkäufe nicht mehr zu Fuß nach Hause tragen. Und barrierefrei sind die alten Kaufhallen auch nicht, zwei bis drei Stufen, die Kunden überwinden müssen, sind normal. Das ist natürlich ein Problem für ältere Menschen. »Es gibt eine Faustregel: Jede Stufe im Handel kostet 15 Prozent vom Umsatz«, sagt Zochert. Persönlich läuft es sehr gut für ihn. Auch ohne Ausbildung und Vorkenntnisse als Supermarkt-Expander hat er schnell Erfolg. Bei der Suche nach geeigneten Grundstücken werden er und seine Kollegen meist bei alten Gärtnereien fündig. Auch mit den Direktoren der ehemals volkseigenen Betriebe und Kombinate redet er. Die T-förmigen Tafeln sind mit rotem Fahnentuch bedeckt. Dort trifft er Menschen, die zum ersten Mal in ihrem Leben Angst um ihre Arbeitsplätze und damit um ihre Zukunft haben müssen. Zochert glaubt aber, dass es zum radikalen Neuanfang keine Alternative gibt. Die Fabriken mit teilweise über 80 Jahre alten Maschinen – nicht überlebensfähig, genau wie das alte System. »Die meisten Menschen, die mir damals dort gegenübersaßen, haben nicht gesehen, dass ihre Betriebe abgewickelt werden müssen, und zwar aus völlig rationalen Gründen. Die alte Gesellschaftsordnung wies Grundfehler auf. Man konnte nicht am System herumdoktern, es brauchte einen klassischen Neuanfang. Erst wenn kein Schornstein mehr raucht, konnte es wieder bergauf gehen«, sagt er rückblickend. Aber der Wandel kommt nicht schleichend, wie bei den Altindustrien im Westen. Er kommt radikal. Etwa 80 Prozent aller ostdeutschen Industriearbeitsplätze gehen in den neunziger Jahren verloren. Für die Empfangssekretärin Angela Seidel fängt die neue Zeit zunächst aufregend an. An der Rezeption des Astoria-Hotels lernt sie zwei Weingroßhändler aus dem Saarland kennen. Sie folgt ihnen für drei Monate an die Saar und wird dort in das Geschäft eingeführt, das die Händler nun auch im Osten aufbauen wollen. Seidels Familie hat obendrein Glück, die Eltern werden nicht arbeitslos. In der übrigen Leipziger Gesellschaft ändert sich das Klima dagegen rapide. »Jeder musste gucken, wie er klarkommt«, erinnert sie sich. Die grundlegende Veränderung, der Druck, den das neue System schuf – Seidel brauchte zwei Jahre, um sich daran zu gewöhnen. Die schmerzhafte Aufarbeitung alter Illusionen kam noch obendrauf. Wie viele erkannte sie erst damals, dass es in der DDR am Ende nicht mehr um menschenfreundlichen Sozialismus gegangen war, sondern um den Machterhalt einer kleinen Parteibürokratie. Von der Restitution zur Wertanlage Für Jörg Zochert ist das Supermarktgeschäft Ende 1992 vorbei. Die meisten Grundstücksverträge sind abgeschlossen, die großen Ketten bauen ihre Vertriebssysteme auf. In den Großstädten ist das Geschäft komplizierter. Deshalb sattelt Zochert um und steigt mit seinem Geschäftspartner Holger Krimmling ins Baugeschäft ein. Zusammen gründen sie die KSW. Das Geschäft beginnt mit dem Ankauf vermögensrechtlicher Ansprüche. Die meisten Alteigentümer, die Anträge auf Rückübertragung gestellt haben, wollen die Immobilien gar nicht behalten und suchen schon vor Ende des Verfahrens nach möglichen Käufern. Das sind in der Regel Bauträger wie die KSW. Bezahlt wird erst, wenn das Amt den Anspruch des Antragstellers auch tatsächlich anerkennt. »Die Chancen der Entscheidung konnte man nie abschätzen«, sagt Zochert. Solange die Verfahren noch laufen, verwalten die städtischen Wohnungsgesellschaften die Immobilien. In Leipzig ist dafür die Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft (LWB) zuständig. An dieser Stelle geschehen in der Stadt die meisten berühmt gewordenen Immobilienskandale. Vom Sachsensumpf bis zu den herrenlosen Häusern, fast überall spielt die LWB eine Rolle oder steht sogar im Mittelpunkt. Die Chronik der krummen Nummern ist allerdings zu lang für diese Geschichte und wird daher Gegenstand einer anderen. 1993 haben die Ämter die ersten vermögensrechtlichen Ansprüche geklärt. Es sind meist die einfacheren Verfahren. Ein typisches Muster damals: Der Antragsteller lebt noch in Leipzig, hatte seine Immobilie aber abgegeben, weil sie durch die ein­gefrorenen Mieten völlig überschuldet war. Nun bekommt er sie zurück, verfügt jedoch über keinerlei Kapital – und verkauft sie an einen Bauträger, der mit dem Geld von Investoren ausgestattet ist. Viele Ostdeutsche gaben damals so ihren Immobilienbesitz oft viel zu billig ab: mit Blick auf ein vermeintliches Vermögen in Westmark, dem Traum vom Neuanfang – und mit einiger Naivität, was den wahren Wert ihres Besitzes anging. [caption id="" align="aligncenter" width="660"] Alt und neu existierten lange nebeneinander: Ostplatz Mitte der neunziger Jahre (Foto: Cordula Giese)[/caption] Die Bundesregierung derweil fördert Investitionen in ostdeutsche Immobilien, ganz besonders in historische Altbauten. Zu Beginn der neunziger Jahre kann ein Anleger bis zu 50 Prozent seiner Ausgaben für die Modernisierung eines Gründerzeithauses von der Steuer absetzen. Bis 1996 werden auch Neubauten gefördert. Da lassen sich viele Westdeutsche mit Kapital nicht lange bitten. Ärzte, Rechtsanwälte und gut verdienende Ingenieure wollen eine Wohnung im Osten als Geldanlage. Vertriebsbüros in Großstädten wie Frankfurt, München, Hamburg, aber auch West-Berlin vermitteln die Anleger an die Bauträger. Zochert und Krimmling konzentrieren sich auf die Gründerzeithäuser und sind zunächst nicht wählerisch, was Lage und Ausstattung angeht. Sie betreuen Projekte überall in der Stadt: Schönefeld, Möckern, Schleußig, Plagwitz, Lindenau, das Musikviertel, die Südvorstadt und Connewitz. Aufgrund des weitgehenden Verfalls sind Wohnungen mit einfachem Weststandard zunächst Mangelware. Gibt es Raufasertapete, Heizung, moderne Elektrik sowie Bad und Klo in der Wohnung, werden Mieten von bis zu 20 Mark pro Quadratmeter bezahlt, sogar an der Georg-Schumann-Straße. Die Restitutionsverfahren führen zu einem gigantischen Transfer von Immobilienvermögen in den Westen. Dadurch, dass vor allem geflohene DDR-Bürger enteignet wurden, sind es mit ihnen nun Westdeutsche, die entschädigt werden. Weil es in der alten Bundesrepublik auch mehr Menschen gibt, die das für Sanierung oder Neubau nötige Kapital investieren können, verstärkt sich der Transfer noch weiter. »Bereits 1994 befand sich mehr als die Hälfte des privaten Wohneigentums in Ostdeutschland in den Händen westdeutscher Haus- und Wohnungseigentümer«, schreibt Bettina Reimann, die Berliner Soziologin. [caption id="attachment_56799" align="aligncenter" width="726"]In den neunziger Jahren stiegen die Immobilienverkäufe massiv an, während die Bevölkerung stark schrumpfte – nun steigt beides gleichmäßig (Grafik: Stadt Leipzig) In den neunziger Jahren stiegen die Immobilienverkäufe massiv an, während die Bevölkerung stark schrumpfte – nun steigt beides gleichmäßig (Grafik: Stadt Leipzig)[/caption] Späte Wiedergutmachung Das Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung« hat aufgrund seiner Effekte viel Kritik auf sich gezogen. Der Bundesregierung wurde vorgeworfen, gezielt die Kolonisierung des Ostens zu betreiben. Dabei wird allerdings übersehen, dass die Restitution ein his­torisches Vorbild hat. Im Grundsatz folgten Rückgaben nämlich den gleichen Verfahren, mit denen jüdische Hauseigentümer nach dem Ende des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik entschädigt wurden. In der DDR war das nicht geschehen. »Vieles, was heute als belastend und schwierig empfunden wird, geht darauf zurück, dass sich die DDR nach Kriegsende der materiellen Wiedergutmachung weitgehend entzogen hat. Die DDR lehnte eine Verantwortung für die Untaten des NS-Regimes ab. Rückgabe und Entschädigung geraubten Vermögens jüdischer Bürger wurden als Restauration des Kapitalismus, die Rückgabe feststellbarer Vermögenswerte als ›Wiederherstellung des amerikanischen Monopolkapitalismus‹ angesehen«, schreibt Bettina Reimann. Bis Juni 1998 wurden in Sachsen 90 Prozent aller Rückgabeverfahren abgearbeitet. Die Bilanz: 22,2 Prozent der Anträge wurden bewilligt, 57 Prozent abgelehnt. Elf Prozent der Anträge wurden zuvor zurückgezogen, in rund fünf Prozent wird eine Entschädigung gezahlt, weil das Eigentum aus verschiedenen Gründen nicht zurückgegeben werden kann. Die hohe Zahl von Ablehnungen betraf unter anderem die Nachkommen sogenannter Ariseure, also Deutscher, die während des Nationalsozia­lismus enteignetes jüdisches Eigentum billig aufgekauft hatten. In diesen Fällen hatten die Ansprüche der Nachkommen jüdischer Eigentümer Vorrang. Die verkauften ihre Ansprüche auch an Zochert. Was die frühen Investoren der neunziger Jahre meistens übersehen: Leipzig schrumpft, und zwar mit großem Tempo. Die Industrie wird im großen Stil abgewickelt, binnen zehn Jahren verlassen fast 100.000 Menschen die Stadt. Zum Jahreswechsel 1998/99 sinkt die Einwohnerzahl auf den Tiefststand von 437.101. Als Ende 1998 die üppigen Abschreibunsgmodelle auslaufen, beginnt für Baubranche und Anleger das böse Erwachen. Es sind wesentlich mehr sanierte Wohnungen am Markt, als nachgefragt werden. Der Leerstand ist gewaltig, die Mieten fallen ins Bodenlose. Die Aufträge brechen ein, Architekturbüros und Bauträger melden Insolvenz an. Anleger profitieren nicht länger von der Abschreibung und haben plötzlich Probleme, die zu hohen Zinsen aufgenommenen Kredite zu bezahlen, mit denen sie ihre Investition finanziert haben. »Die Blase war geplatzt. Bis 2005 blieb der Markt in ­völlig desolatem Zustand«, erinnert sich Zochert. Er hatte das Problem allerdings kommen sehen und sich vorbereitet. Die KSW überlebte. »Pakt der Vernunft« Angela Seidel lernt in den neunziger Jahren die wilden und zwielichtigen Seiten des neuen Systems kennen. Fünf Jahre lang arbeitet sie in einem Casino. »Dort kamen alle hin. Es gab eine Immobilienmaklerin, die sich völlig stillos mit Schmuck vollhängte wie einen Weihnachtsbaum. Es kam der Konsul irgendeiner Landesvertretung. Da waren Hochschulprofessoren und Leute, die aussahen, als gehörten sie zur italienischen Mafia, auch Damen aus dem Rotlichtmilieu kamen zum Zocken. Dazwischen saßen die Glücksritter aus der normalen Bevölkerung«, erinnert sie sich. Im wachsenden Leerstand blüht aber auch die Kunst- und Kulturszene auf. Es gibt witzige Aktionen im öffentlichen Raum und heute bekannte Figuren wie Judy Lybke betreten die große Bühne. Seidel schließt sich Ende der Neunziger dem Jazzclub an und steigt in die Organisation der Leipziger Jazztage ein. In Merseburg studiert sie Kultur- und Medienmanagement und fängt danach als Geschäftsführerin im Werk 2 an. Etwa zur gleichen Zeit erwacht die frühere Karosseriefabrik an der Weißen Elster wieder zum Leben. Der Besitzer hat die Immobilie für wenig Geld von der Treuhand erworben, nun überlässt er sie für wenig Geld jungen Menschen, die Räume für ihre Ateliers, ihre Werbeagentur oder zum Wohnen im Selbstausbau suchen. Es beginnt das Jahrzehnt der großartigen Möglichkeiten in Leipzig: Zur Jahrtausendwende standen in Leipzig laut Angaben der Stadt 62.000 Wohnungen leer. Von vielen unbemerkt startet aber auch die Erholung des Immobilienmarkts. Während Studenten im Waldstraßenviertel für ihr stuckverziertes WG-Zimmer in der 150-Quadrat­meter-Wohnung weniger als 200 Euro inklusive Internet bezahlen, kommt eine neue Welle von Anlegern in die Stadt. Gleichzeitig verknappt die Stadt den Wohnraum ganz bewusst mit einem Programm, das – eingebettet in das große Programm »Stadtumbau Ost« – den Namen »Pakt der Vernunft« trägt. Damals, so klagte vor allem die Wohnungswirtschaft, habe der Kollaps auf dem Mietmarkt gedroht. Zwischen 2003 und 2013 reißt die Kommune darum 12.830 Wohnungen ab – zum größten Teil in den Neubaugebieten. Doch nun wächst Leipzig plötzlich wieder. Ab 2006/07 haben sich die Preise langsam erholt, jetzt konzentrieren die Investoren sich auf die guten Wohnlagen. An leer stehenden Häusern wachsen wieder Baugerüste empor. Zurück zum Investorenparadies Angela Seidel zieht 2011 zu ihrem Freund in die Elsterwerke. Die Bewohner ahnen bereits, dass die guten Bedingungen eines Tages vorbei sein könnten. In Berlin ist die Verteuerung im vollen Gang, nun gründen sich auch in Leipzig Projektgruppen, die ihre Häuser kaufen, solange sie noch günstig sind. Auch die Elsterwerker machen dem alten Besitzer ein Kaufangebot. Er geht nicht darauf ein. In Leipzig werden die leer stehenden unsanierten Häuser langsam knapp. Ende 2013 wird die KSW als neue Eigentümerin vorgestellt. Anders als sonst will Zocherts Unternehmen diesmal ein noch teilweise vermietetes Objekt umfangreich sanieren. Den Bewohnern wird eine Entschädigung von 10.000 Euro angeboten, wenn sie ausziehen. Seidel und die verbliebenen Mieter ziehen gegen die KSW zu Felde und organisieren Demonstrationen. Zocherts Unternehmen gerät unter einen Druck der Öffentlichkeit, den er selbst nicht für möglich gehalten habe. Die Stadt vermittelt einen Mediator, der den Streit schlichten soll. Beide Seiten vereinbaren Stillschweigen über die Inhalte der Verhandlung, deshalb ist an deren Ende nur so viel klar: Die Bewohner nehmen das Angebot des Bauträgers, nach der Sanierung wieder einzuziehen, nicht an. Es ist ihnen zu teuer. Zochert wiederum wehrt sich gegen den Vorwurf, sein Unternehmen habe den Wohnraum durch eine Luxussanierung unbezahlbar machen wollen. Nur: »Wir konnten es nicht mehr für drei Euro vermieten, das wäre völlig unwirtschaftlich gewesen.« [caption id="" align="aligncenter" width="660"]Die Elsterwerke – einst Zuhause von Angela Seidel Tränen in den Augen: Angela Seidel (2.v.r.) und Nachbarn kurz vor ihrem Auszug aus den Elsterwerken. Das Werbeplakat unten soll schon neue Bewohner locken (Foto: Sandra Neuhaus)[/caption] Als dem zuständigen Amt die fehlende Wohnraumzulassung auffällt, hat Zochert dann doch gewonnen. Schließlich bezahlt die KSW den Ausziehenden eine Entschädigung, die sogar höher als das ursprüngliche Angebot ausfällt. Der Bauträger will den Ablauf beschleunigen, denn er hat ein gutes Angebot: Während der Streit das Bauvorhaben verzögert hat, ist die Immobilie weiter im Wert gestiegen. Nun kann er sie mit deutlichem Gewinn weiterverkaufen. Veränderungen Ein gutes Gefühl hat der inzwischen 49-jährige Zochert dennoch nicht, wenn er heute an diesen größten Konflikt seiner Unternehmensgeschichte zurückdenkt. Viel Kraft habe die öffentliche Debatte gekostet, nicht nur wegen der Presse und der Demos. Vermummte hatten auch nachts Farbbeutel auf die Firma geworfen. »Das müssen wir in Zukunft nicht noch einmal haben«, stellt er fest. Häuser, die noch halb vermietet sind, sind daher erst mal kein Thema für die KSW. Lieber denkt er darüber nach, wie sich seine Firma neu erfinden kann, die heute 16 Mitarbeiter beschäftigt und 2015 einen Überschuss von rund 800.000 Euro erwirtschaftet hat. Jetzt, wo die meisten Altbauten saniert sind, gilt es, neue Geschäftsmodelle zu finden. Bei leeren Wohnungen etwa können die Grundrisse verändert und den aktuellen Bedürfnissen angepasst werden. Mikroapartments für Singles heißt der Trend. Und im benachbarten Halle sieht Zochert noch Möglichkeiten. Auch wenn sie letztlich nicht bleiben durften, haben Seidel und die anderen in der Stadt etwas erreicht. Inzwischen ist das Problem der ungleichen Eigentumsverteilung ein großes Thema für Stadtrat und Verwaltung. Mit dem wohnungspolitischen Konzept haben die Parteien Veränderungen angestoßen, durch die Menschen mit wenig Geld bessere Chancen bekommen, ihren Wohnraum zu sichern. Das klappt noch nicht immer, aber es gibt Fortschritte. Auch Seidel ist wieder optimistischer: »Man kann Räume erhalten, man muss sich nur die Frage stellen, in was für einer Stadt will man leben.«

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