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Solohalma & Solidarität

Gelegentliches Alleinsein war schon Rezept antiker Philosophen. Pure Einsamkeit aber gebiert Ungeheuer

  Solohalma & Solidarität | Gelegentliches Alleinsein war schon Rezept antiker Philosophen. Pure Einsamkeit aber gebiert Ungeheuer

»Der Mensch wird am Du zum Ich«, fasst Martin Buber seine dialektische Philosophie zusammen. Am Gegenüber, in seinen Beziehungen zu anderen wird das Individuum erst zum Menschen. Und doch kann diese Grundeinsicht in den sozialen Charakter des Menschen eines nicht überbrücken: Im Zweifelsfall sind wir je für uns allein. Man kann den anderen nicht in den Kopf gucken, nicht in eine andere Haut fahren, trotz aller Nähe nicht der andere sein. Sterben muss sowieso jeder für sich. Vielleicht ist es diese Spannung, die dazu führt, dass der Mensch bedürftig nach beidem, nach Einsam- und Gemeinsamkeit ist. Man darf das nur nicht mit der chronischen Einsamkeit verwechseln, mit der nicht zu spaßen ist.

Überhaupt droht der Hype um Einsamkeit als neue Gefahr echtes Leiden mit einem Modephänomen zu überdecken – ähnlich wie beim Burnout oder der Laktoseempfindlichkeit. Die Sorge vor krank machender Einsamkeit ist berechtigt, aber mit Einsetzen der Einsamkeit als gesellschaftlichem Trendproblem wird sie zum Allerweltswehwehchen verwässert, mit Langeweile gleichgesetzt oder durch Esoteriktand der Lächerlichkeit preisgegeben. Manche Menschen gehen sogar (temporär) freiwillig ins Kloster, nicht aus Glaubensgründen, sondern weil sie sich dort Weltabschottung erhoffen. Während die einen die Kunst der Einsamkeit als Solo der Glückseligkeit feiern, wollen andere mit einem eingeredeten Massenleiden Geld verdienen.

Beispiele gefällig? »Die Kunst des Alleinseins« empfiehlt ein Buchtitel. Ein anderer: »Positive Einsamkeit: Die Kraft des Alleinseins (Achtsam leben)«. Da wird gefordert, »mit sich selbst befreundet zu sein«, ein Kloster wirbt mit »Urlaub von der Welt«. Pater Anselm Grün verdient Geld mit Tipps für einen »stillen Rhythmus« und weiß: »Das Alleinsein kultivieren, denn: Wer allein sein kann, ist nie mehr einsam!«

Historisch greifbar wird Einsamkeit besonders als religiöses Phänomen. Christliche Eremiten zogen für die gottgefällige Lebensführung in die Wüste, ins Unbewohnte. In abseits gelegenen Klausen suchten die Einsiedler Kontemplation im Gebet. Der Heilige Antonius rang im Sandmeer mit seinen Dämonen, Heimerad verwahrloste auf einem nordhessischen Burgberg, Juliana von Norwich überstand in dieser Art Quarantäne immerhin die Pest. Jesus wird als Einsamer unter den Menschen beschrieben. Der Hinduismus sieht für den Brahmanen in der Waldeinsamkeit höhere Erkenntnis vor. Schamanen haftet immer etwas Distanziert-Entrücktes an. Schließlich gipfelt die gesamte Glaubenslehre des Buddhismus in einer einzigen Weltentsagung, die auch die drei monotheistischen Religionen in ihren jenseitsbezogenen, das Paradies preisenden Auslegungen kennzeichnet. Mystiker versenken sich zur Gottfindung in sich selbst.

Selbstverständlich ist auch die westliche Philosophie an der Einsamkeit nicht vorbeigekommen. Der Grieche Heraklit lebte zurückgezogen in der Natur. Ob Diogenes in seiner öffentlich platzierten Tonne alleine war, wäre zu diskutieren. Das Wechselspiel von Einsamkeit und Gesellschaft befanden die Stoiker für wichtig. Michel de Montaigne rettete sich nach dem Tod seines Freundes in ein zehnjähriges zurückgezogenes Selbstgespräch, schrieb das Essay »Über die Einsamkeit«.

Stellte der gelegentliche Rückzug für die Aufklärer noch ein nüchtern kontemplatives Mittel dar, so bildete das in einsamer Melancholie dahinsiechende Subjekt für die Romantiker und andere Schwärmer das Ideal. Auch im Geniekult kam die Feier der Einsamkeit zur vollen Blüte. Friedrich Nietzsche etwa war groß darin, sich als unverstandene Geistesgröße, als unzeitgemäßen Zeitgenossen zu stilisieren. Solchen Großkopferten blieb nur die Einsamkeit im Denken.

Da mag etwas dran sein: Dass sich manche Menschen dermaßen in ihre Projekte steigern, dass sie jeden Umweltreiz als störende Ablenkung wahrnehmen. Ihnen sei die reine Konzentration darauf gegönnt. Toxisch jedenfalls ist eine Einsamkeit, die anderen Leid zufügt. Man denke an die verquere Männlichkeitsideologie der Incels (»Unfreiwillige Zölibatere«), die durch mehrere Amokläufe zur traurigen Berühmtheit gelangten. Der junge Mann, der im April 2018 in Toronto zehn Menschen totfuhr, rechtfertigte seine Tat mit dem Incel-Verweis. Sie legitimieren Gewalt gegen Frauen, weil diese ihnen Zweisamkeit, Intimität und Sex vorenthalten würden, worauf sie als Männer ein Recht hätten.

Alleinsein auf Dauer ist für die meisten Menschen keine Option. Sie entsprechen ihrem Wesen nach der »ungeselligen Geselligkeit«, die der Philosoph Immanuel Kant dem Menschsein attestierte. Wir brauchen ein soziales Umfeld zum Leben und Glücklichsein, wenngleich nicht stets und unentwegt. Hier setzen dann auch die vernünftigeren Versionen an, die Alleinsein als einen Aspekt der menschlichen Daseinsverfassung begreifen, ohne in esoterisches Blabla oder Geschäftemacherei zu verfallen.

Ernst genommen, wird Alleinsein erst einmal von der krank machenden Einsamkeit geschieden. Mal für sich sein braucht der Mensch. Damit ist nicht nur das Nichteingespannt-Sein in den Job, in Ausbildung und Studium oder die Müh(l)en der Erwerbslosigkeit im Hartz-IV-Komplex gemeint. Sondern auch das Abstandnehmen von Familie und Freunden, der menschlichen Mitwelt, ist ein Bedürfnis. Einfach machen, was man machen will, oder im Stillen nachdenken, über den Lebensentwurf sinnieren und zu Gelassenheit finden. Dazu reicht mal eine Stunde, andere benötigen dazu einen Solourlaub. Wichtig ist, dass man zu Gelassenheit findet. Denn dann kann man wieder einigermaßen sicher der Welt begegnen – und dabei geht es weniger um Regeneration der Arbeitskraft, sondern um seelische Gesundheit.

Schließlich kommt es ja darauf an, sich nicht verrückt machen zu lassen in einer Gesellschaft, die zugleich Ermüdung und Vereinzelung befördert sowie an das große Wir-Kollektiv und sozialen Zusammenhalt appelliert.Auch das führt zum Gefühl, allein zu sein. Konkurrenzkampf als gesellschaftliches Leitmotiv fördert Einsamkeit. Das permanent geforderte Gegeneinander in der vermeintlichen Leistungsgesellschaft produziert immerzu ein Heer von Verlierern, die an ihrer Lebenssituation, vielleicht sogar Ausgeschlossensein von Arbeitsmarkt und soziokultureller Teilhabe, leiden und daran auch noch selbst Schuld tragen sollen. Hinzu kommen lose Bekanntschaften, Bestätigungssuche in sozialen Netzwerken, die Zunahme von Singlehaushalten, die Notwendigkeit zu pendeln etc. pp., die alle Faktoren dafür sein können, dass sich Menschen einsam – nicht nur allein – fühlen. Das Individuum leidet so sehr an der Individualisierung, wie es sie genießt. Es ist gerade diese Projektion nach außen, die zum Einsamwerden führt, die Bestätigungssuche durch andere, die natürlich immer nur unperfekt ausfallen kann. Warum fallen Promis in Einsamkeitsdepressionen, obwohl sie von aller Welt bejubelt werden? Das ist das Paradox: Die narzisstische Gesellschaft mit ihrer Selbstinszenierungsfreude, Gefallsucht und ihrem Exhibitionismus ist besonders geeignet, Einsamkeit hervorzubringen. Womit nichts über das tatsächliche Vorkommen im Vergleich zu früheren Gesellschaften gesagt werden soll.

»Der Mensch wird am Du zum Ich«: Martin Bubers Worte erinnern daran, dass der Mensch als soziales Wesen daran leiden muss, in einer wenig sozialen Welt leben zu müssen. Und da können bloße Vereinzelung und der Rückzug ins Schneckenhaus nicht die empfehlenswerteste Haltung sein. Denn niemals die Warnung von Ton Steine Scherben vergessen: »Allein machen sie dich ein.«


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