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Die Schmidts im Stress

Wie Leipzig sich durch das Bevölkerungswachstum verändert hat – erzählt an der schrecklich durchschnittlichen Familie Schmidt

  Die Schmidts im Stress | Wie Leipzig sich durch das Bevölkerungswachstum verändert hat – erzählt an der schrecklich durchschnittlichen Familie Schmidt

Die Bevölkerung in Leipzig wächst seit Jahren, die Stadt gilt als die am schnellsten wachsende Großstadt der Bundesrepublik. Demnächst wird die Einwohnerzahl die 600.000-Marke knacken. Nun schwächt sich das Wachstum langsam ab. Wie beeinflusst die steigende Zahl der Bewohner das Leben der Leipziger?

Um dies zu erzählen, haben wir eine durchschnittliche Leipziger Familie erdacht: Katrin und Daniel, die Kinder Emma und Emil, Tante Nadine und die Großeltern Helmut und Hannelore. Alles an ihnen ist purer Durchschnitt, selbst ihre Namen. Eingeflossen in diese Geschichte sind Situationen, die viele schon einmal erlebt haben, und zwar in der Realität. Statistische Daten bilden die Grundlage für alle Erlebnisse der Familie Schmidt in Leipzig. Unsere fiktive Familie spürt die Auswirkungen der wachsenden Stadt von der Geburt des Kindes bis zum Tod der Eltern – oder auch nicht. Denn einen Kinderarzt findet man weitaus schwieriger als einen Platz auf dem Friedhof.

»Waren Sie schon mal bei uns?« Katrin Schmidt kann die Frage nicht mehr hören. Nein, sie war bislang noch nicht bei diesem Arzt. Deswegen ruft sie ja an, weil sie einen neuen Frauenarzt sucht, doch überall, wo sie sich meldet, lautet die Antwort: »Wir können keine neuen Patienten mehr annehmen.« Sie wählt die Nummern von den Gynäkologen, die in ihrem Stadtviertel praktizieren. Dann die, die sie mit der Straßenbahn ohne Umsteigen erreichen kann. Irgendwann hat sie Glück. »Also, in den nächsten drei Monaten hab ich nichts mehr frei, aber danach kann ich Ihnen einen Termin anbieten«, sagt die Frau am anderen Ende der Leitung. Als Katrin erwähnt, dass sie ab und an Schmerzen hat, wird die Frau noch gnädiger: »Sollte es ein akutes Problem sein, dann müssen Sie ohne Termin kommen.« Sie müsse wahrscheinlich lange warten, aber sie werde drangenommen. Im Morgengrauen des nächsten Tages macht Katrin sich auf den Weg zum Arzt.

Viele Schwangere, wenige Hebammen

Als sie dann endlich im Arztzimmer sitzt, ereilt Katrin nach kurzer Untersuchung die frohe Kunde: Sie erwartet ein Kind. Nach dem dritten Schwangerschaftsmonat fängt Katrin langsam an, nach einer Hebamme zu suchen. Zu langsam, wie es scheint. Sie fängt sich mehrere Absagen ein, denn Hebammen sind ausgebucht. 137 Hebammen waren Anfang des Jahres in Leipzig gemeldet, doch knapp 7.000 Kinder wurden in der Stadt geboren – so viele wie noch nie seit der Wende. Und viele der Hebammen beschränken sich auf die sogenannte Nachsorge.

Mehr braucht auch Katrin nicht, denn sie hat sich für eine Geburt im Krankenhaus entschieden. Was Katrin in der Klinik erwartet, weiß sie allerdings noch nicht so genau. Einige ihrer Freundinnen haben ihr Horrorgeschichten von vollen Geburtsstationen erzählt. Eine hat ihr Kind sogar fast auf dem Gang bekommen, weil gerade kein Kreißsaal frei war. Letztlich ging alles gut – doch knapp war es allemal. Inzwischen haben die Kliniken allerdings reagiert – das St. Elisabeth in Connewitz zum Beispiel hat ausgebaut. Platz gibt es also wieder mehr. Nur, wo sollen all die Hebammen herkommen, um dort zu arbeiten? Zwei Tage später klingelt Katrins Telefon. Die Zusage einer Hebamme. Auch einen Namen für das Kind haben sich Katrin und ihr Mann Daniel schon ausgesucht. Emma wird ihre Tochter heißen – der derzeit beliebteste Mädchenname der Stadt.

Viele Kinder, wenige Ärzte

Ein halbes Jahr später: Katrin hält ihre Tochter Emma im Arm. Bei der Geburt ist alles gut gegangen, auch wenn die Klinik ziemlich voll war. Nun steht das nächste Abenteuer bevor: der Kinderarzt. Über den hatten sich Katrin und Daniel gar keine Gedanken gemacht. Schließlich war Emmas großer Bruder Emil schon lange bei einem Arzt – und der Geschwisterbonus gilt auch dort. Doch der letzte Termin war wirklich der letzte. Emils Kinderarzt geht in den Ruhestand. Einen Nachfolger gibt es bisher nicht.

Na ja, suchen wir halt einen anderen, denken sich die Eltern. Doch sie sind ziemlich schnell frustriert. Ebenso wie bei den Hebammen und Gynäkologen heißt es wieder: telefonieren. Meistens vergeblich. Viele Ärzte nehmen keine neuen Patienten mehr an. Der Versorgungsgrad liegt in der Stadt bei 110 Prozent – theoretisch gesehen fast eine Überversorgung. Doch Kinder und Ärzte sind ungleich in der Stadt verteilt. In Vierteln mit vielen Kindern gibt es zu wenige Kinderärzte. Mehr Stellen werden trotzdem nicht zugelassen. Doch die vielen Geburten machen sich auch im Wartezimmer bemerkbar, denn Säuglinge benötigen mehr Zeit. Zu dem Arzt, den Katrin und Daniel nach vielen Telefonaten schließlich doch noch finden, müssen sie jetzt jedes Mal 40 Minuten mit der Straßenbahn fahren. Wenn sie dann da sind, erwartet sie jedes Mal: ein volles Wartezimmer. Kinder springen umher, husten, schreien, streiten sich um Spielzeug, Eltern schimpfen. Und je länger die Wartezeit mit 20 Eltern und Kindern in einem kleinen Raum, umso knapper der Sauerstoff.

Viele Kinder, wenige Kitas

Fast ein Jahr ist Emma nun alt. Daniel hatte nach der Geburt vier Monate Elternzeit, inzwischen geht er wieder arbeiten. Katrin könnte noch entspannt zu Hause bleiben, doch auch sie ist schon wieder im Stress. Denn kurz nach Emmas erstem Geburtstag muss sie wieder arbeiten gehen. So ist zumindest der Plan – wenn Emma denn einen Kitaplatz hätte. Im Kindergarten ihres Bruders gibt es keine Krippe, also hilft hier der Geschwisterbonus nicht.

Über das elektronische Elternportal Kivan der Stadt soll die Vergabe funktionieren. Aber warum nicht bei ihr? Mehrere Male hat die Stadt den großen Sprung nach vorne angekündigt – zumindest beim Elternportal. Nun wird endlich alles gut, hieß es mehrfach – wurde es dann aber doch nicht.

Seit 2013 gilt ein Rechtsanspruch für Unter-Dreijährige. Doch die Situation in Leipzig ist dramatischer denn je, denn die Stadt kommt beim Kita-Bau einfach nicht hinterher: Von 2010 bis 2017 hat die Zahl der Kinder unter sieben Jahren um rund 9.000 zugenommen. Gleichzeitig wurden nicht alle geplanten Kitas fertiggestellt. Das Ergebnis: eine große Lücke und leidtragende Eltern. Ob sie ihr Recht einklagen wollen, wie die Eltern von rund 400 weiteren Kindern im vergangenen Jahr, wissen Katrin und Daniel noch nicht. Dass der Weg zur Kita ein langer werden wird, darauf stellen sie sich aber schon mal ein. Sie sehen sich schon in einer Schlange stehen mit Hunderten anderen Eltern, die alle um wenige Kitaplätze konkurrieren. So wie im Mai 2017, als Fotos einer riesigen Schlange von rund 450 Eltern, die vor der neu eröffnenden Kita »Tillj« in der Südvorstadt -warteten, deutschlandweit durch die Medien gingen.

[caption id="attachment_70565" align="aligncenter" width="640"] Foto: Christiane Gundlach[/caption]

Viele Schüler, wenige Schulen

Jetzt steht erst mal der große Tag von Emmas Bruder Emil an: die Einschulung. Doch die Gäste machen schon Witze, in was für einen baufälligen Schuppen der Junge gehen muss. Das Gebäude müsste dringend saniert werden. Stattdessen wird erst mal angebaut. Es hämmert, klopft, wummert von nebenan, während Emil das ABC lernen soll.In die Klassenräume wird zuweilen noch ein Tisch zusätzlich gestellt, um alle Schüler unterzukriegen. Auch bei den Lehrern könnte die Stimmung wegen der Diskussionen um Verbeamtungen, Seiteneinsteiger und Lehrermangel besser sein.

Sogar an neu gebauten Schulen herrscht große Platznot, so zum Beispiel in der nagelneuen Kurt-Masur-Schule in der Südvorstadt. Hier werden seit zwei Jahren sieben 1. Klassen eingeschult – obwohl das hochmoderne Gebäude nur für vier Klassen pro Jahrgang ausgelegt ist. Die Folge ist unweigerlich Stress bei Kindern, Lehrern und Erziehern.Zwar hat Leipzig ein großes Schulbauprogramm angekündigt, rund 150 Millionen Euro sollen investiert und zahlreiche Schulen ausgebaut, reaktiviert oder auch komplett neu gebaut werden. In den Jahren der Leipziger Schrumpfung wurden aber 31 Grundschulen geschlossen, die nun fehlen. Und die Arbeiten an den Schulen werden mehrere Jahre dauern. Die langen Wartezeiten bei Handwerkern verschärfen die Lage zusätzlich.

Dabei drängt die Zeit. 2017 gab es schon 18.000 Leipziger Grundschüler, bis 2020 werden noch mal rund 2.000 dazukommen. Die Stadt hat die Not erkannt und baut, wo sie kann. Aber das dauert.

Viele Studenten, wenige Bibliotheksplätze

Leipzig wächst rasant, auch wenn das Wachstum in den vergangenen Jahren nicht mehr ganz so stark ausfiel. Auch die Studierenden der Uni Leipzig tragen dazu bei. Seit 2014 ist ihre Zahl um rund 2.000 gestiegen. Davor gab es jahrelang kaum einen Anstieg. Katrins Schwester Nadine absolviert ihr letztes Semester, sie ist an der Philologischen Fakultät eingeschrieben. Frauen sind in der Uni klar in der Überzahl. Seit Jahren gibt es außerdem einen weiteren kontinuierlichen Trend: Die Anzahl ausländischer Studierender steigt. Leipzig wird langsam internationaler, mehr Menschen mit Migrationshintergrund kommen in die Stadt – als Geflüchtete etwa oder eben als Studierende.

Für das Schreiben ihrer Masterarbeit geht Nadine am liebsten in die Bibliothek Albertina. Um dort überhaupt noch einen Sitzplatz zu bekommen, muss sie früh aufstehen. Zum Mittagessen schiebt sie sich durch die Mensa – gemeinsam mit der Masse anderer Studenten.

Viele Jobs, wenige Arbeitslose

Nadines Masterarbeit liegt in den letzten Zügen. Sie freut sich, wenn sie endlich fertig ist, aber sie ist sich nicht ganz sicher, wie es dann weitergeht. Umziehen in eine andere Stadt will sie nicht. Wieso auch? Viele junge Erwachsene bleiben inzwischen nach dem Studium in Leipzig – auch hier haben sie Aussicht auf einen guten Job. Die Arbeitslosigkeit liegt nur noch bei 6,6 Prozent und damit auf dem niedrigsten Stand seit 1991. Allerdings zeichnet sich zwischen den Vierteln eine soziale Spaltung ab, der Anteil von Arbeitslosen oder Hartz-IV-Empfängern variiert stark. In Grünau-Mitte ist die Quote am höchsten (40,2 Prozent), in Leipzig-Plaußig-Portitz am niedrigsten (2,3 Prozent). Insgesamt lag die Hartz-IV-Quote 2017 bei fast 15 Prozent. 17,1 Prozent der Leipziger galten im Jahr 2017 als armutsgefährdet, 0,2 Prozent mehr als zwei Jahre zuvor.

Viele Junge, Reiche und Männer

Generell ist Leipzig aber reicher geworden. Das Nettoeinkommen ist in den letzten fünf Jahren um über 150 auf 1.328 Euro pro Person gestiegen. Dennoch liegt Leipzig damit weit unter dem Bundesdurchschnitt von 1.890 Euro netto. Den Titel »ärmste Stadt Deutschlands«, den Leipzig 2010 mal innehatte, kann die Stadt nicht mehr tragen. Sie wurde inzwischen von Gelsenkirchen unterboten.

Und Leipzig wird jünger. Das Durchschnittsalter ist in den letzten Jahren von 43,4 auf 42,4 gesunken. Überraschend dabei ist, dass die Einwohnerzahl in fast allen Altersgruppen steigt. Aber nicht bei den 20- bis 25-Jährigen. 6.000 junge Twens sind zwischen 2011 und 2015 verloren gegangen. Auch bei den 40- bis 50-Jährigen ist die Zahl gesunken.Jünger und reicher ist die Stadt also geworden. Und männlicher. Zwar leben immer noch etwa 10.000 Frauen mehr in der Stadt, aber 2012 waren es etwa 18.000 mehr.

Viele Singles, hohe Mieten

Nadines Jobsuche war erfolgreich. Sie verdient ganz gut, seitdem sie bei einem großen Autozulieferer arbeitet. Zwischendurch hat sie kurz bei DHL am Flughafen gejobbt.

Seit Nadine arbeitet, fühlt sie sich in ihrer Studenten-WG nicht mehr so richtig wohl. Deshalb will sie gerne in eine eigene Wohnung ziehen. Damit ist sie nicht alleine: In 54 Prozent der Leipziger Haushalte wohnt nur eine Person. Das schlägt sich neben dem starken Bevölkerungswachstum auf dem Wohnungsmarkt nieder. Denn je weniger Menschen in einer Wohnung leben, desto höher ist die durchschnittliche Wohnfläche pro Person. Ergo: Viele Singlehaushalte fressen viel Wohnfläche.

Zudem sind die Mieten in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. 2011 lag der angebotene Quadratmeterpreis von Neuvermietungen durchschnittlich noch bei 4,75 Euro, 2017 schon bei 6,38 Euro, so die Preisdatenbank des Berliner Instituts Empirica.

Auch Familie Schmidt will eigentlich in eine größere Wohnung ziehen. Seit Emma geboren wurde, schielen Daniel und Katrin auf die Immobilienangebote. Mit den beiden Kindern wäre eine Vier-Zimmer-Wohnung natürlich schön. Doch die ist nicht zu finden. Gerade mal vier entsprechende Angebote in ihrer Nachbarschaft zeigt die Suchmaschine an – alle weit jenseits der 1.000 Euro Warmmiete, die Katrin und Daniel sich maximal leisten können. Wochenlang schauen sie täglich in die Wohnungsportale im Internet, doch die Preise haben sich in den letzten Jahren manchmal fast verdreifacht. Letztens hat Daniel herausgefunden, dass die neu eingezogenen Nachbarn doppelt so viel pro Quadratmeter zahlen wie sie.

Daher hat sogar der Oberbürgermeister mal gesagt, dass es in Leipzig zurzeit günstiger wäre, nicht umzuziehen. Freunde von ihnen suchen bereits seit drei Jahren, doch wohnen immer noch mit zwei Kindern in einer Zweiraumwohnung. Auch Katrin und Daniel gehen zu Besichtigungsterminen, wenn sie schnell genug waren. Doch bei denen, wo der Preis noch in Ordnung ist, ist die Konkurrenz groß. Manche Makler nehmen die Wohnungen nach nur einer Stunde wieder aus dem Netz, weil sich dreißig ernsthaft Interessierte gemeldet haben. Zumindest in bestimmten Stadtteilen wie Südvorstadt, Plagwitz oder auch im Osten.

Laut Stadt ist die monatliche Grundmiete in den vergangenen Jahren von 5,08 Euro (Jahr 2013) auf 5,62 Euro (2017) gestiegen. 84 Prozent der Haushalte befinden sich in gemieteten Wohnungen oder Häusern – deshalb sind die Leipziger besonders anfällig für Mieterhöhungen.

[caption id="attachment_70563" align="aligncenter" width="640"] Foto: Christiane Gundlach[/caption]

Viele Autos, viele Räder, schlimme Unfälle

Nadine wohnt im Süden Leipzigs, ihre Firma liegt im Norden. Erst war sie mit dem Auto unterwegs, doch das hat sie schnell wieder gelassen. Auf Leipzigs Straßen macht sich eben bemerkbar, dass seit 2013 jedes Jahr rund 5.000 Fahrzeuge mehr unterwegs sind. Der Großteil davon sind PKW – insgesamt über 255.000 im Jahr 2017. Allerdings ist der PKW-Bestand pro Einwohner leicht zurückgegangen. Es scheinen nicht mehr alle aufs Auto als Fortbewegungsmittel zu setzen. Auch die Anzahl der Unfälle nimmt jedes Jahr leicht ab.

Einen Parkplatz hat Nadine aber zur Feierabendzeit selten bekommen, bis sie nach langer Sucherei einen Geheimtipp gefunden hat, wo immer noch was frei ist. Da läuft sie allerdings immer noch zehn Minuten. Ihren Freunden rät sie, sie nicht mit dem Auto besuchen zu kommen. Eine Freundin ist schon mal wieder nach Hause gefahren, nachdem sie eine halbe Stunde lang keinen Parkplatz gefunden hat.

Nadine ist daher nun viel mit dem Rad unterwegs, hat dabei allerdings immer etwas Angst. Schließlich gab es im Jahr 2017 insgesamt 1.171 Unfälle mit Radfahrern, was nur einen kleinen Rückgang bedeutet. Und obwohl sie es immer übervorsichtig und peinlich fand, trägt Nadine nun Helm. In der Zeitung liest sie immer häufiger von Fällen, wo ein LKW einen Radfahrer überrollt hat. Am Wilhelm-Leuschner-Platz erinnern immer noch Blumen und Briefe an die 16-jährige Radfahrerin, die dort bei einem Unfall gestorben ist.

Viele Passagiere, wenige Straßenbahnen

Bei schlechtem Wetter quetscht Nadine sich in die Straßenbahn, wenn sie zur Arbeit muss. Hier hat die Zahl der Fahrgäste von 2013 bis 2017 um über 10.000 zugelegt – auf über 126 Millionen im gesamten Jahr. Insgesamt fuhren im vergangenen Jahr bei den Leipziger Verkehrsbetrieben 156 Millionen Fahrgäste mit. Deren Zahl wuchs damit prozentual schneller als die Bevölkerung der Stadt. Blöd nur, dass parallel dazu die Anzahl der Straßenbahnwagen, die insgesamt in Leipzig unterwegs sind, im selben Zeitraum leicht abgenommen hat.

Der Kinderwagen mit Nadines Nichte Emma passt gerade noch so in den Straßenbahnwagen. Die alten Tatras mit den elternfeindlichen Treppen sind inzwischen seltener unterwegs. Allerdings werden die neu eingesetzten Straßenbahnen von einer Pannenwelle heimgesucht.

Zu richtigen Wutausbrüchen kommt es morgens in der S-Bahn. Vor allem die Pendler, die pünktlich ins Büro nach Halle wollen, drängen sich mit sehr viel Nachdruck in die Bahnen, die häufig – meist wegen technischer Probleme, die den Fahrgästen nicht weiter erläutert werden – nur mit einem Wagen statt der üblichen zwei durch den City-Tunnel tuckern. Wer die Dreistigkeit besitzt, sein Fahrrad mitnehmen zu wollen, wird beschimpft, wer das Glück hatte, einen Sitzplatz zu bekommen, hat drei fremde Hinterteile direkt vorm Gesicht, und wer nicht genug kämpft, bleibt zurück. Der Schaffner versucht erst gar nicht, die Tickets zu kontrollieren, sondern versteckt sich vor der schlechten Laune in seinem Kabuff.

Viele Parks, noch mehr Wald

Zusammen gehen Nadine und Katrin in den Clara-Zetkin-Park, wo sie gelegentlich auch ihre Eltern Helmut und Hannelore treffen. Leipzig ist eine grüne Stadt – auch einer der Gründe, warum die Stadt als so lebenswert bezeichnet wird. Zusätzlich zu über 2.000 Hektar Wald gibt es fast 900 Hektar öffentliche Grünanlagen, deren Anzahl hat sich trotz vieler Neubauten auch in den letzten Jahren nicht geändert. Allerdings müssen sich immer mehr Menschen das Grün der Stadt teilen. Aber obwohl es in den letzten vier Jahren durch das Bevölkerungswachstum eine »Verschlechterung des Versorgungsgrades« (O-Ton Grünflächenamt) mit öffentlichen Grünflächen um neun Prozent gab, kommen auf jeden Einwohner noch 15 Quadratmeter öffentlicher Grünfläche. Das sind mehr als das »Umweltqualitätsziel« der Stadt, das 13 Quadratmeter Grünfläche pro Einwohner vorsieht, die in fußläufiger Entfernung zur Verfügung stehen sollen. Wenn sich Familie Schmidt also zu viert im Park trifft, könnte sie sich theoretisch auf 60 Quadratmetern ausbreiten. Wenn ihnen das nicht reicht, bleibt immer noch der Wald, der fast neun Prozent des Stadtgebiets einnimmt.

Aber sowohl im Wald als auch im Park vermeiden es Hannelore und Helmut zu bestimmten Zeiten, bei gutem Wetter spazieren zu gehen. Denn ständig rasen Fahrradfahrer vorbei, oft zu zweit nebeneinander ins Gespräch vertieft, während ein dritter Rennfahrer sie überholt – den Gegenverkehr ignorierend. Wer hier mit seinem Hund Gassi gehen will, riskiert sein Leben – oder zumindest das vom Tier.

[caption id="attachment_70564" align="aligncenter" width="640"] Foto: Christiane Gundlach[/caption]

Viel Kultur, weniger Gäste

Abends wollen die Eltern noch ins Große Concert im Gewandhaus. Sie haben noch Karten bekommen, bevor das Konzert ausverkauft war. Nach eigenen Angaben des Gewandhauses besuchten im letzten Jahr rund 215.000 Zuschauer die eigenen Veranstaltungen, das entspricht einer Auslastung von über 95 Prozent. Insgesamt sind die Besucherzahlen des Gewandhauses in den letzten fünf Jahren um knapp 15.000 Besucher gestiegen, doch vor drei Jahren waren es schon mal deutlich mehr als heute.

Auch das Stadttheater kann bislang nicht wirklich davon profitieren, dass in Leipzig immer mehr Menschen wohnen. 2016 jubelten die Medien über steigende Besucherzahlen: »Das Schauspiel Leipzig verbucht ein sattes Zuschauerplus«, titelte die LVZ. Doch im nächsten Jahr blieb es auffallend ruhig. Anscheinend hatte das Theater keine Pressemitteilung mehr rausgehauen, in der hätte stehen müssen, dass die Zahlen wieder auf einen schlechteren Wert als 2015 gefallen waren.Man kann also nicht unbedingt sagen, dass die wachsende Einwohnerzahl den großen Kultureinrichtungen der Stadt mehr Zuschauer bringt. Auf jeden Fall nicht kontinuierlich.

Leipzig verfüge »über die Angebotsvielfalt einer Millionenstadt«, heißt es im Konzept »Leipzig 2029« der Stadt, in dem sie das Ziel festgelegt hat, die Verschiedenartigkeit der Angebote zu erhalten. In der Subkultur kamen mit dem Hype auch neue Macher in die Stadt, die irgendwelche Kneipen, Clubs und Läden aufgemacht haben. Manche von ihnen haben längst wieder geschlossen, aber sowohl neue wie auch alteingesessene Clubs – wie das So&So und die Distillery – müssen um ihre Zukunft bangen. Grund dafür: neue Wohngebiete.

Auch Nadine ist immer wieder überrascht, wenn sie abends ausgeht, welche Konzerte und Clubs voll sind und welche leer. So hat sie es erlebt, dass eine ihr nahezu unbekannte deutsche Band im UT Connewitz ausverkauft war, während eine überregional abgefeierte Band im Conne Island keine hundert Leute zog. Wie sehr sich die Stadt in den letzten Jahren verändert hat, lässt sich gut an der Karl-Heine-Straße festmachen. Vor zehn Jahren war da außer dem Noch Besser Leben und der Schaubühne kaum ein Ort zum gemütlichen Besäufnis, dann kamen die Hipster. Jeden Sommerabend tranken sie auf dem Bürgersteig billiges Bier vom Späti. Inzwischen sind es hauptsächlich schickere Tapasbars und kleine Restaurants, deren Freisitze das Straßenbild bestimmen. Nur vorm Noch Besser Leben hängen immer noch alle ab, die billiges Bier zu schätzen wissen.

Mehr Sportler, wenig Hallen

Während es bei den Besucherzahlen der kulturellen Angebote der Stadt also ein Auf und Ab gibt, verzeichnen die Sportvereine einen stetigen Zulauf. Elf neue Sportvereine haben sich seit 2012 gegründet, zehntausend Mitglieder gibt es mehr. Da müssen selbst die Kleinsten schauen, dass sie noch einen Platz bekommen. Als Emmas Eltern ihre Tochter zum Bambini-Training anmelden wollten, kamen sie zu spät. »Achtung!!!« mit drei Ausrufezeichen stand auf der Webseite des Vereins: »Aufgrund zahlreicher Anmeldungen können wir derzeit keine weiteren Kinder aufnehmen.«

Auch wenn Oma Hannelore schwimmen gehen will, muss sie sich ihre Bahn mit anderen Schwimmerinnen teilen. Doch ihr Eindruck, dass es jedes Jahr mehr werden, trügt. Vor vier Jahren gab es Zehntausende öffentliche Besuche mehr in den acht Hallenbädern. Aber die Öffnungszeiten für Leute, die einfach mal schwimmen wollen, sind sehr beschränkt, da der Großteil der Zeit und des Platzes an Schwimmunterricht oder Sportvereine geht. Und so muss Hannelore sich an den anderen Schwimmern in ihrer Bahn vorbeidrängen oder sich an deren Tempo anpassen. Denn zurzeit hat auch noch die Schwimmhalle Mitte geschlossen, ihr Umbau soll bis Ende Oktober abgeschlossen sein. Danach gibts auch längere Öffnungszeiten. Auch die anderen Hallen will die Stadt im nächsten Jahr länger öffnen.

Mehr Alte, mehr Pflegeheime

Dass mit mehr älteren Menschen auch mehr Pflegeheimplätze gebraucht werden, liegt auf der Hand. Leipzig hat inzwischen reagiert. Heute gibt es zehn Pflegeheime mehr als noch im Jahr 2010. Auch Helmut muss wahrscheinlich bald ins Heim. Und wenngleich es hier manchmal Wartezeiten gibt, so lange wie im Burgenlandkreis wird es wohl nicht dauern. Dort sind einige der Menschen, die auf der Warteliste stehen, schon gestorben, wenn endlich ein Bett für sie frei wird.

Aber nicht nur Kinder, auch Rentner leiden unter vollen Wartezimmern bei Ärzten oder im Krankenhaus. Eine 87-Jährige mit einer komplexen Erkrankung musste in der Uniklinik mal auf dem Gang übernachten, weil alle Betten belegt waren. Gut genesen ist sie wahrscheinlich nicht, denn es war ein Gang mit Publikumsverkehr.

Viele Tote, viel Platz

Dass Leipzig immer mehr Einwohner bekommt, wird seit ein paar Jahren nicht nur bei der Zahl der Zugezogenen deutlich, die die der Wegziehenden längst übersteigt, sondern auch bei den Babys und Toten. Seit 2014 werden mehr Menschen in Leipzig geboren, als Menschen sterben. 2016 gab es fast 900 mehr Neugebore als Gestorbene.Wenn sie sterben werden – das haben Hannelore und Helmut schon festgelegt –, wollen sie nicht beerdigt, sondern eingeäschert wer-den. Das ist billiger. Außerdem habe die Familie dann nicht so viel Arbeit mit der Grabpflege. Und wer weiß, ob die Angehörigen überhaupt in Leipzig bleiben. Das sind die typischen Gründe, warum deutschlandweit vom Friedhofssterben gesprochen wird. Auch in Leipzig wurden im letzten Jahr von 2.578 Bestattungen nur 131 Leichen in der Erde begraben, die anderen 95 Prozent wurden in Urnen beigesetzt. Daher denken viele Friedhofsbetreiber – ob Kirchen oder Kommunen – darüber nach, wie man die frei werdenden Plätze auf Friedhöfen anderweitig nutzen kann. Von Blumenwiesen über Wohnungsbau bis zu Kunsträumen ist alles möglich. Friedhöfe als Orte zur Erhaltung gefährdeter Arten, als Erholungsorte oder Freiräume mit neuen Konzepten. Am Ende des Lebens kann von der überfüllten Stadt also keine Rede sein.


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