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Stadtleben

Telegram statt Ticketkauf

Angesichts ÖPNV-Fahrkarten organisieren sich Leipzigs Schwarzfahrer

  Telegram statt Ticketkauf | Angesichts ÖPNV-Fahrkarten organisieren sich Leipzigs Schwarzfahrer

Hat eine Einzelfahrt bei den Leipziger Verkehrsbetrieben 2002 nur 1,30 Euro gekostet, liegt der Preis heute mit 2,70 Euro bei mehr als dem Doppelten. In der Stadt regt sich deshalb Widerstand – eine öffentliche Gruppe beim Kurznachrichtendienst Telegram warnen mehr als 2000 Mitglieder in Echtzeit vor Kontrollen.

Viele Menschen ziehen nach Leipzig und finden hier einen Job. Kein Wunder also, dass auch der öffentliche Nahverkehr vermehrt genutzt wird. Allerdings werden es sich einige zweimal überlegen, ob sie sich für jede Fahrt mit Bus und Bahn auch ein Ticket kaufen. Denn ungefähr in dem Maße, in dem die Stadt wächst, nehmen auch die Kosten für Mobilität in Leipzig zu. Hat eine Einzelfahrt bei den Leipziger Verkehrsbetrieben (LVB) 2002 nur 1,30 Euro gekostet, liegt der Preis heute mit 2,70 Euro bei mehr als dem Doppelten. Eine Monatskarte kostet so viel wie in München, wo der durchschnittliche Arbeitnehmer aber auch 1.300 Euro mehr verdient als in Leipzig. Die jährlichen Preissteigerungen sind schon so normal geworden, dass die Leipziger Volkszeitung von einem »Paukenschlag im Stadtrat« sprach, als CDU und Linke im Oktober beschlossen, dass die Ticketpreise die nächsten zwei Jahre nicht steigen werden.

Wer sich angesichts dessen dann doch mal kein Ticket kauft, kann sich unter Umständen sogar in erzwungener Immobilität wiederfinden, nämlich im Gefängnis. Schwarzfahren ist in Deutschland keine Ordnungswidrigkeit, sondern eine Straftat, und wer mehrmals dabei erwischt wird, muss irgendwann mit einer Anzeige wegen sogenannter Leistungserschleichung rechnen. Meist wird im nächsten Schritt eine Geldstrafe verhängt und wer diese ebenfalls nicht bezahlt, dem droht eine Ersatzfreiheitsstrafe. Knapp 500 Personen saßen im letzten Jahr in Sachsen aufgrund des Straftatbestandes Leistungserschleichung im Gefängnis.

Telegram-Gruppe: Mehr als 2000 Mitglieder warnen in Echtzeit

Im Ernstfall drohende Gefängnisstrafen und die steigenden Preise für den Nahverkehr haben dazu geführt, dass sich zunehmend Widerstand gegen das jetzige Ticket-System formiert. So gibt es bereits seit 2013 die Facebook-Seite »Schwarzfahren Leipzig«, auf der sporadisch vor Fahrkartenkontrollen gewarnt wird und ansonsten Informationen zu Ticketpreisen und dem kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) verbreitet werden. Wichtiger für aktive Schwarzfahrer in Leipzig ist jedoch eine öffentliche Gruppe beim Kurznachrichtendienst Telegram, in der die mehr als 2.000 Mitglieder in Echtzeit vor Kontrolleuren warnen, übertragbare elektronische Tickets posten und sich teilweise gegenseitig helfen, wenn einzelne Betroffene die 60 Euro Strafgeld der LVB nicht bezahlen können.

Simon und Eva* haben die Gruppe vor anderthalb Jahren gegründet und wollen dadurch nach eigener Aussage das bestehende ÖPNV-System erweitern, indem sie es Leuten, die sich kein Ticket leisten können, ermöglichen, den Nahverkehr zu nutzen. »Das Ganze ist ziemlich schnell ein Selbstläufer geworden«, berichten sie. Angesichts der möglichen Gefängnisstrafen fürs Schwarzfahren sind sich beide einig, dass die Gesetzeslage ein »Armutszeugnis« für unsere Gesellschaft ist. Simon ist für einen steuerfinanzierten kostenlosen ÖPNV, Eva würde es schon reichen, wenn es mehr ermäßigte Tickets und insgesamt niedrigere Preise für Bus und Bahn geben würde. Eines ist ihr sehr wichtig: »Schwarzfahren ist super stressig, keiner macht das gerne und es macht, glaube ich, niemand aus Spaß.« Die beiden planen für die Zukunft, eine Schwarzfahrer-App zu entwickeln, andere politische Aktionen haben sie nicht geplant.

Die LVB reagieren gelassen auf den digitalen Kampf gegen den Fahrscheinkauf. »Unsere Teams sind, im Sinne unserer zahlenden Fahrgäste, in der Regel schneller«, ist sich der Pressesprecher der LVB, Marc Backhaus, sicher. Die Kontrolleure würden in Leipzig so oft und so schnell kontrollieren, dass Warnungen vor ihnen zu spät kommen. Die Telegram-Gruppe sei der LVB noch nicht bekannt, doch über verschiedene Facebook- und Whatsapp-Gruppen, in denen Schwarzfahrer sich organisieren, wisse man Bescheid. Backhaus geht davon aus, dass »eine solche Gruppe gar nicht die Reichweite und Aktualität haben kann, um Leistungserschleichungen dauerhaft zu ermöglichen.«

Die Linke will fahrscheinlosen Nahverkehr in Leipzig

Martin Eickhoff geht einen Schritt weiter als Eva und Simon. Er und seine wenigen Mitstreiter bei der »Umweltaktivistischen Zelle« in Leipzig fordern einen komplett kostenlosen ÖPNV. Sie setzen sich in Bahnen, mit Ansteckern, auf denen steht, dass sie schwarzfahren, führen dort Umfragen zum kostenlosen Nahverkehr durch und wollten bereits eines ihrer Mitglieder in ein Kontrollteam der LVB einschleusen. Dies sei gescheitert, weil die betreffende Person keinen Führerschein habe, der eine Voraussetzung für die Arbeit als Fahrkartenkontrolleur in Leipzig ist, berichtet Eickhoff. In Zukunft wollen sie »spektakulärere Aktionen, die Aufmerksamkeit schaffen«, durchführen, womit jeder anfangen könne, was er oder sie wolle. Das sei notwendig, weil die »etablierten Parteien das Thema nicht wirklich ansprechen«.

Neu ist die Initiative des Umweltverbandes Ökolöwe für eine 365-Euro-Jahreskarte, der sich jüngst auch einige Parteien anschlossen. Auch Marco Böhme begrüßt die Initiative, kämpft aber schon länger für ein konsequenteres Modell. Böhme sitzt für die Linkspartei im Sächsischen Landtag und ist Sprecher für Klimaschutz, Energie und Mobilität seiner Fraktion. Zudem ist er einer der Betreiber der Schwarzfahrer-Gruppe auf Facebook. Böhme will einen fahrscheinlosen ÖPNV durchsetzen, finanziert durch eine Nahverkehrs-Abgabe, ähnlich der GEZ, allerdings solle sie »sozial ausgeglichener« sein. Jeder Einwohner einer Stadt wie Leipzig würde dann 20 bis 30 Euro Mobilitätsgebühr bezahlen, dafür müsste niemand mehr ein Ticket kaufen.

Stadtverwaltung sperrt sich gegen ÖPNV-Vergünstigung

Auch er sieht gerade in Leipzig Handlungsbedarf: »Das Einkommensniveau ist in Leipzig im bundesweiten Vergleich immer noch sehr niedrig. Die Fahrpreise sind hier dafür mit die höchsten in ganz Deutschland.« Das Sozialticket, das die LVB Bürgern mit niedrigen Einkommen für 35 Euro im Monat ermöglicht, sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein und genauso wie andere Tickets auch kontinuierlich teurer geworden. Ein entgeltfreier ÖPNV ist nach Böhmes Ansicht auch keine Utopie. Wenn der Staat die Infrastruktur bezahlt und die Kommunen den Betrieb durch die von ihm geplante Gebühr am Laufen halten, dann wäre das finanzierbar. »Wir finden es gerechtfertigt, wenn das öffentliche Gut ÖPNV auch von der Öffentlichkeit finanziert wird und nicht nur von denen, die es nutzen müssen oder wollen«, sagt Böhme.

Gerade in Leipzig könnte ein Plan nach Böhmes Vorbild oder ein 365-Euro-Ticket auf viel Zustimmung stoßen. Laut der kommunalen Bürgerumfrage aus dem Jahr 2017 müssen 22 Prozent der Leipziger Haushalte mit weniger als 1.100 Euro im Monat zurechtkommen. Diese Geringverdiener können sich oft keine Alternative zum ÖPNV leisten, wenn sie nicht ausschließlich mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs sein wollen. Denn nur ein Viertel dieser Haushalte besitzt ein Auto. Der ÖPNV ist in Leipzig das wichtigste Fortbewegungsmittel für Menschen mit niedrigen Einkommen und bei den Preissteigerungen der Vergangenheit können ihn sich viele von ihnen nicht mehr leisten.

Wer trotzdem glaubt, dass Mobilität ein Nischenthema für ein paar Öko-Aktivisten bleibt, braucht nur nach Frankreich zu schauen. Ausgelöst wurden die landesweiten Proteste der Gelbwesten durch die scheinbar harmlose Entscheidung, den Diesel-Preis um 6,5 Cent anzuheben. Die Stadt Leipzig scheint keine Angst vor heimischen Nahverkehrs-Gelbwesten zu haben. Unlängst haben das Sozialdezernat und der Stadtrat eine Petition abgelehnt, die forderte, das Sozialticket der LVB für 20 Euro anzubieten. Dieser Vorschlag ist laut Stadtverwaltung »derzeit nicht finanzierbar«.

*Namen von der Redaktion geändert


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1 Kommentar(e)

masch 24.04.2019 | um 11:40 Uhr

eine günstige alternative für ab-und-zu-fahrer ist das abo flex, bei dem man monatlich nur sieben euro zahlt und dafür bei jeder einzelfahrt mindestens die hälfte spart. ich habe das seit einigen monaten und finde das richtig gut. einfach einsteigen und ticket für 1,30 ziehen ... und ich brauche nicht mal kleingeld!