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Heldinnen des Alltags

Das Dorf ist schön, das Dorf schrumpft. Freiräume für die Zukunft

  Heldinnen des Alltags | Das Dorf ist schön, das Dorf schrumpft. Freiräume für die Zukunft

Leerraum als Freiraum: Dörfer und Kleinstädte sterben aus, so lautet die Erzählung dieser Tage. Die Akteure unserer Titelgeschichte beweisen das Gegenteil: Neun Menschen, die dem Landleben ein neues, hoffnungsvolles Gesicht verleihen.

Ungefähr 6.500 Kilometer Gleise wurden bundesweit seit 1990 stillgelegt, vierzig Prozent davon im Osten. Rekordhalter ist Sachsen-Anhalt mit 660 Kilometern, in Sachsen sind es 510 Kilometer, in Thüringen 470. Solche unrentablen Nebenstrecken verschwanden natürlich auch im Westen, und zwar schon vor der Wende. Verlassene Bahnhöfe verdeutlichen die Schrumpfungserzählungen vom Osten und seinem ländlichen Raum so gut, dass die Nachricht von den vielen Kilometern ehemaliger Bahnstrecken in diesem Frühjahr die Runde machte: Erst wanderten Millionen Ostdeutsche ab – in den Westen oder in die größeren Städte –, für die Dagebliebenen fährt nicht mal mehr ein Zug. Sie sind abgehängt. Zurück blieben vor allem schlecht ausgebildete, nicht mehr ganz junge Männer. Die sitzen enttäuscht auf den Dörfern und in den Kleinstädten und sind wütend auf die Politik, die darauf verzichtet, ihnen lauter Annehmlichkeiten zu servieren, so heißt es. Währenddessen verfallen die Häuser, schließen Restaurants, Kneipen, Dienstleistungen, Kultureinrichtungen. Es fehlen die Arbeitgeber. Irgendwann bedeutet selbst der Weg zum Bäcker eine kleine Reise in die nächstgrößere Stadt, die man dann, wenn man schon mal da ist, mit Geldabheben, Haareschneiden und Autowäsche verbinden kann.

Binnen weniger Jahre nach der Wende haben sich ganze Regionen krass verändert. Das war allerdings nicht komplett neu. Schon während der DDR-Zeit schrumpfte die Bevölkerung in den Kleinstädten und auf dem Land, während die mittleren und größeren Städte wuchsen. Auch wenn in den neunziger Jahren Schrumpfung vor allem ein Thema für Ostdeutschland war, sind strukturschwache Regionen keineswegs ein rein ostdeutsches Phänomen, lassen sich solche Prozesse auch in Westdeutschland und in anderen Industriestaaten beobachten.

Was sollen die Enkel vorfinden, wenn sie ihre Schule beendet haben? Was lässt sich mit dem Leerstand anfangen? Und hat es nicht auch Vorteile, wenn es weniger Leute gibt? Eröffnen Leerräume nicht auch Freiheiten und Möglichkeitsräume? So lässt sich die fatale Nostalgie drehen: Es ist kein Naturgesetz, dass alles immer schlechter wird. Und die sogenannte 
Alternative für Deutschland hat kein einziges Konzept in der Schublade, das sich mit Zukunftsfähigkeit des ländlichen Raums und mit Entwicklungsmöglichkeiten überschreiben ließe. In einer Zeit der Landflucht, in der die Leute in den Städten sich in der Landlust blätternd in ein zeitlos-unschuldiges Dorfleben hineinträumen, gilt es, die Möglichkeiten und Vorteile der ländlichen Regionen und der kleinstädtischen Strukturen zu erkennen und zu nutzen.

Ganz ohne Politik geht es freilich nicht. Infrastruktur und Daseinsfürsorge sind Themen, die Privatleute nicht alleine stemmen können: Schulen, Kindergärten, Feuerwehr, die Versorgung mit medizinischem Personal und mit Trinkwasser oder Internet, selbst mit einem Kino oder Theater, sind keine Aufgaben für eine Handvoll Aktive vor Ort. Deshalb ist es fraglich, ob die Sichtweise zielführend ist, dass nur die größeren Städte eine entsprechende Förderung erhalten sollten und – so ein Vorschlag des Instituts für Wirtschaftsforschung in Dresden Mitte Juni – Fördermittel möglicherweise besser angelegt sind, wenn sie Dorfbewohnern den Umzug in die Stadt finanzieren. Das Thema schrumpfende Städte wurde allerdings viel eher angepackt als das des schrumpfenden Umlands. Das mag mit daran liegen, dass der ländliche Raum uninteressant zu sein scheint, vielleicht auch daran, dass er sehr unterschiedlich ist. Für seine Zukunft gibt es kein einfaches Rezept.

Auch für unsere Titelgeschichte konnten wir nicht immer aufs Auto verzichten, um die Protagonisten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zu erreichen. So mancher nicht mehr betriebene Bahnhof lag an der Strecke. Allerdings hört damit schon die Erzählung der hoffnungslosen Schockstarre auf, bevor sie überhaupt begonnen wurde. Es mag ihn geben, den klagenden Ossi, der in der Vergangenheit hängt, in der – aus heutiger Sicht – vieles irgendwie besser lief. Es gibt aber natürlich auch die Sicht nach vorne. Die haben Leute, die selbst handeln, statt auf Segnungen von oben zu warten. Leute, die ihre ganz persönliche Zukunft im Blick haben. Und das sind Leute, die sich über die Zukunft der Region Gedanken machen, sich mit anderen zusammentun und gemeinsam etwas entwickeln, vielleicht sogar daran arbeiten, Visionen zu verwirklichen. FRANZISKA REIF

 

70 PS an der Parthenaue

[caption id="attachment_78725" align="alignright" width="342"] Foto: Christiane Gundlach[/caption]

Die Sonne brennt vom Himmel, die Pferdepension in Sehlis scheint bis auf die unzähligen Schwalben, die sich im Sturzflug von den Ställen stürzen, verlassen. Aus dem Schatten einer alten Backsteinmauer schält sich ein Dalmatiner und trottet übers Pflaster. Dann ist das Klacken der Pferdehufe zu hören und eine schlanke Frau mit blondem Zopf kommt zügig auf den Hof. Marie-Luise Stein heißt sie und sie wusste genau, was sie nach dem Abitur machen wollte, nachdem sie es als Zwölfjährige das erste Mal mit Pferden zu tun bekam: mit ihnen leben und arbeiten. Mittlerweile wohnen 70 Pferde hier, fast alle in weitläufigen Offenställen. Von sieben Uhr morgens bis zur Abendfütterung sind Stein und ihre acht Angestellten, »ohne die das alles nicht möglich wäre«, auf dem Gelände unterwegs. Jeden Tag, 365 Tage im Jahr. Hinter der Idylle steckt harte Arbeit. Bereits 2004 startete sie ihre Pension für Pferde mit sieben Tieren. Die Sehliserin mit den braun gebrannten Armen deutet Richtung Parthe. »Nach und nach wurden Ställe um- und ausgebaut, Paddocks angelegt und artgerechte Haltungsbedingungen geschaffen.« So weit das Auge reicht, erstrecken sich Wiesen und Felder rund um die Parthe. »Großzügige Bewegungsflächen, Sozial-kontakt, viel Licht und Luft und natürlich ausreichend Heu rund um die Uhr stehen jedem Tier hier zur Verfügung.« Zusammen mit den Reit- und Longierhallen und den wetterfesten Außenplätzen ist das ein Alleinstellungsmerkmal in der Umgebung und ein Konzept, das aufgeht: Alle zur Verfügung stehenden Pensionsplätze sind belegt. Der Reit- und Voltigierverein Sehlis nutzt die Infrastruktur ebenfalls, und so treffen sich in dem kleinen Dorf früher oder später alle, die von Pferden nicht genug bekommen können. »Das funktioniert nur, weil wir alle mit Herzblut dabei sind und nicht nur Dienst nach Vorschrift machen.«

Doch es gibt Ärger im Paradies. Eine neue vierspurige Trasse für die B87n ist im Gespräch. Wenn die Pläne des Freistaates umgesetzt werden, ist nicht nur ein Drittel der Fläche des Geländes in Gefahr. »Denn die Ruhe ist dann weg und vielleicht auch die Pferdesportler«, befürchtet die Hofbesitzerin. Eine Trauerbachstelze genehmigt sich eine Abkühlung in einer Wasserlache. Marie-Luise Steins Handy klingelt. Sie nimmt ab, nickt, sagt: »Gib mir ein paar Minuten«, legt auf und ruft einmal quer über den Hof: »Ich muss noch mal los!« Ihre Bewegungen sind energisch, trotz der Hitze. Sie geht zum Auto, muss rüber aufs Feld, um einem ihrer Mitarbeiter zu erklären, bis wohin er mähen darf und wo das Feld des benachbarten Bauern beginnt. Der Hund springt auf und läuft ihr nach. Dann ist der Wagen verschwunden, langsam legt sich der Staub. LINN-PENELOPE MICKLITZ

 

»Ich steh auf und mach das« 

Menschen in Ganzkörper-Netzstrumpfhosen, Bienenkostümen oder mit streng geometrisch gestalteten Overalls. Techno, Seifenblasen und Blasmusik. Und dann auch noch ein fast echter Papst. Am 6. April streifte Weimar sein beschauliches Klassikerstadtimage ab und wurde in Blau-Rot-Gelb eingefärbt: Die Bauhaus-Parade gedachte des Beginns der Kunstschule vor hundert Jahren mit einem Umzug in ihrer Tradition. Kopf und Ideengeber hinter diesem Korso der Kuriositäten: Max Schreiner. Seit Jahren prägt er in Weimar Musik- und Kulturveranstaltungen und verleiht ihnen seinen ganz eigenen Anstrich.

[caption id="attachment_78729" align="alignleft" width="374"] Foto: Christiane Gundlach[/caption]

Weimar ohne Schreiner? Längst ist der Österreicher aus der Stadt nicht mehr wegzudenken. Seinen eigentlichen Plan, MTV-Moderator zu werden, verwarf er, um an der Bauhaus-Universität Mediengestaltung zu studieren. 1999 in Weimar angekommen, fand er sofort Anschluss im Gaswerk, einem Freiraum für Künstler und Gestalter. Diese halfen ihm dann auch bei der Umsetzung seiner Idee für den Aufnahmetest an der Uni. »Es war und ist immer noch so, dass ich die Ideen habe und andere sie für mich umsetzen.« In Gera arbeitet er beispielsweise gerade daran, eine Brache im Stadtzentrum neu zu beleben, um so einen Ort der Begegnung zu schaffen. Als Kurator ist er dabei auf die Mitarbeit der Geraer Bürger, Mitarbeiterinnen der Verwaltung und von Gestaltern angewiesen. »Ich sehe mich nicht als Netzwerker, sondern eher als Dompteur. Ich bringe Menschen zusammen und gebe ihnen die Möglichkeit, sich zu entfalten.«

Regisseur, Musiker, Künstler, Architekt? Eine Berufsbezeichnung lässt sich für Schreiner kaum finden. »Wenn ich gefragt werde, sage ich immer: Ich bin Märchenerzähler.« Singende Badewannen, die zufällige Arbeit mit millionenschweren Gemälden in einer Galerie in San Francisco, der naive Umgang mit Gangstern in Sri Lanka. – Manche seiner Erzählungen gleichen wirklich Märchen. Durch seine Offenheit und Neugier gerät er in aberwitzige Situationen, aus denen wiederum aberwitzige Ideen entstehen. »Meine Ideen sind ja nicht wirklich von mir, sondern sie sind in der Welt und entstehen immer im Miteinander mit anderen Menschen.« So gestaltet er derzeit gemeinsam mit anderen Künstlern unter dem Hashtag »#bauhauslebt« eine Ausstellung für das Sommerfest der Thüringer Landesregierung in ihrer Berliner Vertretung. Weitere Projekte sind das Musterhaus Bauhaus Eins in Weimar und seine Band Something Will Come. Was treibt Schreiner an? »Es ist kein Idealismus, sondern eher die Lust darauf, meine Ideen umzusetzen. Ich stehe einfach auf und mache das dann halt.« TINA FEDDERSEN

 

Die Mutmacherin

Ob Spargelschälaktion, Nachwuchswettbewerb oder Kurse mit Behinderten – wenn sie gebraucht wird, ist auf Ines Lehne Verlass. Die in Wurzen Geborene leitet eine kleine Pension im Ortsteil Dehnitz und verfügt über Charisma wie Organisationstalent. Im Jahr 1985 begann sie in ihrer Heimatstadt im HO-Restaurant Schweizer Garten eine Ausbildung zur Köchin, hängte später ein Fachschulstudium an und absolvierte »genau im rechten Moment« ein Praktikum im damaligen Interhotel Stadt Leipzig. Das hat ihre berufliche Entwicklung gefördert, doch ihre Wurzeln, ihr Wohnort und ihr berufliches Wirken liegen nach wie vor im Muldental – was sie nicht davon abhält, zu helfen, wenn anderswo Hilfe gebraucht wird, zum Beispiel im Internationalen Kochkunstverein zu Leipzig 1884 (IKL), wo sie seit vielen Jahren im Vorstand die Jugendarbeit organisiert. Genau diese liegt der Mutter von drei Kindern besonders am Herzen: »Es wird leider immer schwerer, Betriebe und junge Köche zu finden, die sich über das nötige Maß hinaus engagieren, einfach, weil überall die Personaldecke so dünn ist.« Und so lässt sie nichts unversucht,

[caption id="attachment_78730" align="alignright" width="224"] Foto: Christiane Gundlach[/caption]

Menschen zu motivieren, aus ihrer Ausbildung das Beste zu machen. Eine gute Gelegenheit dazu ist jährlich der Nachwuchswettbewerb um den Susanna-Eger-Pokal des IKL. Bei solchen Herausforderungen ist Ines Lehne in ihrem Element: Sie gewinnt Sponsoren, koordiniert Teilnehmer und die Jury, tritt selbst als Jurorin auf, moderiert die Preisverleihung, redet mit Eltern und Gästen. Nebenbei entstand ein verzweigtes Netzwerk, das ihr ehrenamtliches Wirken am Laufen hält. »Ich will gerade jungen Frauen Mut machen, dass es auch in unserer Branche möglich ist, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen«. Den Erfolg der Selbstständigkeit lebt sie vor. Als wäre das alles nicht genug, setzte sie 2018 erstmals eine weitere Idee um und stellte mit der AWO Sachsen-West, die in Wurzen eine Werkstatt für behinderte Menschen betreibt, ein Kochprojekt auf die Beine. Die erste Staffel fand bei ihren Klienten im Alter zwischen 20 und 60 Jahren so viel Anklang, dass es dieses Jahr eine zweite geben wird, bei der jeweils zwei Gruppen mit einem in einfacher Sprache selbst verfassten Rezeptbuch für die anderen ein Drei-Gänge-Menü kochen. Ein eigenes Motto hat sie auch: »Alles, was ich mache, passiert aus innerer Überzeugung. Wenn ich spüre, dass sich Mühe und Energie nicht lohnen, lasse ich die Finger davon.« PETRA MEWES

 

Delitzscher Gesichter

Herr Ruhrmann ist viel unterwegs. Den Designer und Fotografen führt seine Arbeit immer wieder an die unterschiedlichsten Orte. Nach Delitzsch kam er jedoch seiner damaligen Freundin wegen. Gemeinsam bauten sie 2014 ein Haus aus, wobei Ruhrmann erste Erfahrungen mit den Delitzschern sammelte. »Was mir stark aufgefallen ist, ist dieser Hang im Osten, unter dem Radar zu fliegen. Nicht unangenehm aufzufallen«, erzählt Ruhrmann. Ein Beispiel dafür sei der Ausbau des Hauses gewesen, bei dem der gebürtige Rheinländer unter anderem eine freischwebende Dachgalerie einbaute. »Da kam immer der Spruch, was sollen denn die Leute denken«, sagt Ruhrmann, »und diese Mentalität hast du natürlich auch, was Kultur oder Aktionen angeht.« Dass es in Delitzsch eine rege künstlerische Szene gibt, gehörte zu den positiven Überraschungen für Ruhrmann, als er in die Kleinstadt zog. »Da gibt es einen Mikrokosmos von Leuten, die was machen«, erzählt Ruhrmann, »und die sich untereinander kennen, so dass zwischen den

[caption id="attachment_78731" align="alignleft" width="330"] Foto: Christiane Gundlach[/caption]

Projekten gerne mal getauscht wird. Das ist glaube ich eine Sache, die den ländlichen Bereich in Nordsachsen so ein bisschen auszeichnet.« Auch um Leute abseits des eigenen Freundeskreises kennenzulernen und zu erfahren, wie die Delitzscher ticken, startete Ruhrmann sein Fotoprojekt »Die Gesichter der Stadt«. Dafür nahm er sich einen Raum unweit des Marktplatzes und fotografierte Delitzscher, die bereit waren mitzumachen. Vor den Shootings setzte er sich mit seinen Modellen zusammen und ließ sich ihre Geschichten erzählen. »Das waren Gespräche, wo du manchmal dachtest, bitte kann das jetzt zu Ende sein. Aber es gab auch Leute, die waren hochgradig interessant.« Einer von ihnen ist Barbesitzer Jens Fahr, der europaweit als eine der Koryphäen im Bereich Whisky gilt. Ein anderer ein Feuerwehrmann, der sich nach einem schweren Unfall, entgegen ärztlichen Voraussagen, über Jahre zurückkämpfte und nun wieder auf dem Bock der Feuerwehr sitzt. Zehn von Ruhrmanns Bildern kaufte die Stadt und stellte sie aus. »Das sind dann natürlich die strahlenden Beispiele. Leute, die ein bisschen was bewirken und die eine sehr aufrechte Vita haben«, erzählt Ruhrmann. Diese Leute sollen auch in seinem neuesten Projekt stärker in den Fokus rücken. Dafür arbeitet Ruhrmann mit sächsischen Unternehmern an einer Initiative namens »Sächsische Unternehmer gegen Rassismus«. Die Absicht dahinter ist, ein Zeichen gegen den Rechtsruck in den ostdeutschen Bundesländern zu setzen und die Stimmen von Menschen hörbar zu machen, die sich damit nichtabfinden wollen. JOSEF BRAUN

 

Das Wir-Gefühl

[caption id="attachment_78733" align="alignright" width="343"] Foto: Christiane Gundlach[/caption]

Den Weg zu Hoang Huy Tran säumen viele Häuser an einer Hauptstraße. Manches von ihnen verfällt, an den blinden Fenstern von Gewerberäumen verwittert die Nachricht »Neueröffnung«. So oder ähnlich beginnt wohl jeder Bericht aus Zeitz: Leerstand und Verfall, Wegzug und Arbeitslosigkeit. Hoang Huy Tran aber gründete hier 2007 seine Design- und Kreativagentur Transmedial. Der 40-jährige Diplomdesigner stammt aus Fulda, studierte in Darmstadt, lebte und arbeitete in den Großstädten München und Frankfurt/Main. Die Familie zog ihn an die Weiße Elster. Hier fasste er schnell Fuß, arbeitete bald mit Unternehmen und Institutionen aus dem Landkreis und der ganzen Region zusammen. Schon damals hatte er die Idee zu »Wir sind Zeitz«, an die Umsetzung ging es erst vor drei Jahren: »Es wird gerne gemeckert«, fiel Tran auf. »Die Interviews mit Zeitzern auf unserer Plattform halten dem etwas entgegen und können zum Wir-Gefühl beitragen.« Denn einerseits ist die permanente Abwärtsspirale nur eine Perspektive auf einen bestimmten Ausschnitt. Ganz so, als blende man die bestehenden Geschäfte neben dem Leerstand vollends aus, sehe nicht die schöne Architektur der Altstadt samt Schloss und Dom, bemerke nicht den belebenden Blütenduft, der im Frühsommer an fast jeder Straßenecke weht. Andererseits prägt jeder Zeitzer seine Stadt, trägt mit seinem Gesicht zu ihrem Gesicht bei. Die Bühnenbildnerin Marianne Mächtig zum Beispiel oder Markus Lorenz, Werkleiter der Südzucker AG, oder Christian Kiefer, Geschäftsführer der ortsansässigen Bagel Bakery. So vermittelt die Initiative Außenstehenden – und wohl auch den Zeitzern selbst – ein differenziertes Bild von unternehmerischem, kulturellem, sozialem Engagement, einen Blick auf bürgerschaftliche Initiativen, auf die Stadt, ihre Leute und ihre Themen. »Auf die schönen Seiten«, wie Tran das Herzensprojekt zusammenfasst. An Zeitz gefällt ihm die Größe: »Man kann schnell Freundschaften schließen. Außerdem ist der Alltag nicht so hektisch.« Im Besprechungszimmer fällt der Blick nach draußen, blühender Mohn wiegt sich im Wind. Drinnen zieren Auszeichnungen die Wände, darunter zwei German Brand Awards und der Ehrenpreis Zeitzer Michael aus dem Januar 2018. »Da war ich gerührt«, erzählt der umtriebige Tran – den Ehrenpreis erhielt er immerhin für wirtschaftliche Beständigkeit und regionales Engagement. FRANZISKA REIF

 

Hüttels Musikwelt

Musikinstrumente-Ausstellung« prangt auf einer großen Schautafel vor dem Ortseingang. Den 7.648-Einwohner-Ort Markneukirchen im sächsischen Vogtland, eingekeilt zwischen der tschechischen Grenze, Bayern und Thüringen, besuchen jährlich genauso viele Gäste, wie es Einheimische gibt. Schülergruppen, Kaffeefahrtreisende, Touristen – sie kommen, um sich in einem unscheinbaren Einfamilienhaus mit großzügigen Gardinen und Kronleuchtern an der Decke alte Jahrmarktsorgeln, Plattenspielkästen und Orchestrien anzusehen. Seit der Wende gibt es dieses wunderbar bescheidene und gleichzeitig enorm wertvolle Museum, seit sieben Jahren führt Reiner Hüttel das Lebenswerk seiner Eltern – im Haus seiner Eltern. Sympathisch sonderbar sind dabei der Nostalgiesinn und die Sammlerleidenschaft der Familie. Hüttel senior, Zupf- und Streichinstrumentenbauer, hat mit 15 Jahren und einer Zungenorgel angefangen, die mechanischen Geräte zu sammeln. »55 Jahre pure Sammlerleidenschaft unter einem Dach«, sagt Hüttel junior mit stolzer Stimme und fränkisch-sächsischem Dialekt.

Der 45-Jährige ist eigentlich Tischler; seit die Eltern in Rente gegangen sind, widmet er sich jedoch ausschließlich der privaten Ausstellung. Täglich von 9 bis 15 Uhr können Besucher gegen Eintrittspreise zwischen einem und fünf Euro durch den 30 Quadratmeter großen Raum und Jahrzehnte der Musikgeschichte laufen. Hüttel ist unfassbar stolz auf seine »CD-Player von vor hundert Jahren« und das Lebenswerk seiner Eltern. Die Besucherzahlen sind zwar seit einiger Zeit rückläufig, doch ein zweiter Ausstellungsraum, der sich gerade noch im Aufbau befindet, soll wieder mehr Musikinteressierte nach Markneukirchen locken. »Alle drei großen Leipziger in einer Reihe, wer hat das schon?« Hüttel zeigt auf das wuchtige Hupfeld Sinfonie Jazz Orchestra in der Mitte des Raumes. »Jetzt horch her!« – Gegen zehn Pfennig Einwurf lässt Hüttel den Hupfeld spielen. Die Notenrolle fängt an sich zu drehen, das Klavier spielt die ersten Takte, ehe Schlagzeug, Triangel und Saxofon einsteigen und eine deftige Polka spielen. Hupfeld, Lösche und Popper zählen zu den bekanntesten und größten Herstellern von selbstspielenden Instrumenten, die in Leipzig hergestellt wurden. In Hüttels Ausstellung stehen sie markant nebeneinander.

[caption id="attachment_78735" align="alignleft" width="355"] Foto: Nadja Neqqache[/caption]

Hüttel senior hatte im Laufe der Jahre immer mehr alte Instrumente aufgekauft und sie mehrere tausend Stunden in Wochenend- und Feierabend-Schichten restauriert. Noch immer werkelt er an Jahrmarktsorgeln und Plattenspielkästen, will sein Wissen an seinen Sohn weitergeben. »Ich bin gerade Lehrling im eigenen Haus«, sagt Hüttel junior, während er bedächtig über ein fast 100 Jahre altes Instrument streicht. NADJA NEQQACHE

 

 

Gartenparty für Metaller

Es dauert keine zwei Minuten, bis Thomas Richter nahe dem schön restaurierten Marktplatz einen Bekannten trifft. Der großgewachsene Mittvierziger ist in seiner Heimatstadt Torgau bekannt wie ein bunter Hund und trägt die Liebe zur Kreisstadt im Herzen. Genau wie Heavy Metal. Die Leidenschaft für die harten Klänge ließ ihn vor 14 Jahren erstmals ein eigenes Festival am Entenfang aufziehen, das »In Flammen«.

Der Schwermetaller-Treff 45 Kilometer vor den Toren Leipzigs hat sich mit den Jahren prächtig entwickelt und genießt in der Szene einen herausragenden Ruf – sogar internationale Gäste wissen das Ambiente nahe dem Großen Teich in Torgau zu schätzen. »Letztes Jahr habe ich sogar Tickets nach Argentinien und Australien versendet«, berichtet Richter. Die Organisation stemmt er praktisch komplett alleine, an den Festivaltagen selbst ist natürlich ein größeres Helfer-Team im Einsatz.

[caption id="attachment_78736" align="alignright" width="261"] Foto: Christiane Gundlach[/caption]

Die Planung einer solchen Metal-Sause ist naturgemäß mit viel Stress und Arbeit verbunden. Zudem pendelt Richter zur Arbeit nach Stuttgart, fährt nur am Wochenende heim nach Torgau.  Offen und freundlich, strahlt er dennoch eine gewisse Ruhe aus. Dabei war bei Weitem nicht alles Sonnenschein in seinem Leben, mit 15 Jahren lag er nach einem schweren Unfall vier Tage auf dem Sterbebett, weitere Schicksalsschläge folgten. Wenn er aber vom »In Flammen« erzählt, merkt man, dass er es mit viel Herzblut vorantreibt. »Ich habe mir schon als kleiner Stift vorgestellt, wie es wäre, wenn meine Lieblingsbands in Torgau spielen würden«, sagt Richter. Gesagt, getan? So einfach ist das nicht, Richter fuhr die ersten acht Jahre nur Miese ein, war eine Zeit lang sogar bankrott.

»Man reibt sich teilweise schon an der Sache auf, manchmal gab es auch Gedanken, das alles sein zu lassen.« Für alle Freunde des Metal kam es dazu Satan sei Dank aber bis heute nicht. Stattdessen hat sich das Festival weiterentwickelt, was die Größe angeht. Bei der zweiten Ausgabe, damals noch am Brückenkopf, wurden ganze 95 zahlende Gäste gezählt. Die Zeiten sind vorbei, stattdessen ist stetiges Wachstum angesagt. Geblieben sind die ausgesprochen familiäre Atmosphäre und faire Preise für Eintritt sowie Speis und Trank.

Thomas Richter ist ein entspannter Typ, und das merkt man auch seinem Festival an. Das, was er sich wünscht – dass die Besucher Respekt vor den Mitfeiernden und der Natur um sich herum haben –, funktioniert in Torgau blendend. »Ich hoffe, dass die Leute das Gleiche erleben wie ich – nämlich, sich für ein paar Tage frei zu fühlen.« MARC BOHLÄNDER

 

»Im Tal sind neue Leute willkommen«

[caption id="attachment_78742" align="alignleft" width="215"] Foto: Kai-Uwe Schulte-Bunert[/caption]

Der Kultur-Naturhof in Bechstedt schaut mit Schiefer freundlich zur Straße. Hofseitig öffnet sich ein weites Gelände mit Garten und Obstbäumen. Teile des Zweiseithofs stehen für Veranstaltungen oder Gruppen bereit, außerdem wohnen hier die Fotografin und Filmemacherin Dörthe Hagenguth und Burkhardt Kolbmüller. Bechstedt liegt im Schwarzatal, einer Naturidylle mit murmelndem Flüsschen am Nordrand des Thüringer Schiefergebirges. Von Erfurt aus ist es mit Zug wie Auto nur eine Stunde hierher, von Leipzig ungefähr das Doppelte. In der ganzen Region künden Pensionen, Hotels und Villen vom Sommertourismus in dieser Wildromantik – und ihr Leerstand davon, dass der Boom des letzten Jahrhunderts vorbei ist. Dörthe Hagenguth drehte letztes Jahr einen Dokumentarfilm über die einstige Sommerfrische im Schwarzatal, der mit alten Aufnahmen und Erzählungen von früher die nun oft ungenutzten Orte belebt. Nach der Wende zogen die Leute aus dem Schwarzatal weg, die Urlauber suchten sich andere Ziele. In dieser Zeit kam Kolbmüller nach Bechstedt, den es vorher von Naumburg über Ilmenau nach Leipzig verschlagen hatte. Er bewirtschaftet Streuobstwiesen mit ungefähr 500 Bäumen für seine Mosterei, produziert Apfelsaft, Cidre, Glühwein.

Hagenguths Film tourt durch die Region: Die Vorführungen sind immer voll, erzählt Kolbmüller, und sie regen positive Diskussionen an, weil die Leute sich an die Zeiten erinnern, als im Tal noch viel los war. Allerdings bleiben sie der Nostalgie nicht verhaftet: »Das Gefühl hat sich verändert. Die Leute sagen jetzt, dass sie in einer tollen Region leben, nicht mehr, dass alles immer schlechter wird«, beobachtete Kolbmüller. In vielen Dörfern der Region gebe es engagierte Leute, daraus erwachse ein Angebot zwischen Naturschutz und Kultur. Darunter seien auch Zurückgekehrte und neu Zugezogene: »Das Tal kommuniziert nach außen, dass Leute willkommen sind.« Und zwar muss man sich nicht gleich ein Haus kaufen, sondern kann andere Arten der Nutzung probieren, die über ein paar Tage Ferienwohnung hinausgehen.

Der Kultur-Naturhof in Bechstedt ist Teil eines Netzwerks, das auf verschiedenen Ebenen – von Stadt- und Regionalplanung über Streuobst bis zum Tourismus – an der Zukunftsfähigkeit der Region arbeitet. Auch die Internationale Bauausstellung (IBA) Thüringen ist dabei (siehe Seite 22), laut Kolbmüller seit hundert Jahren die erste IBA, die sich um das Stadt-Land-Verhältnis kümmert. Die stärkere regionale Vernetzung sorgte nicht nur für den schon beschriebenen Perspektivwechsel, neuen Mut und neue Bewohner. Sie konnte auch das Wir-Gefühl stärken und neue Projekte entstehen lassen. Dazu tragen andere Entwicklungen ebenfalls bei: »Das Dorf ist keine Zwangsgemeinschaft mehr wie früher. Die Gestaltungshoheit über das eigene Leben ist im Dorf kaum anders als in der Stadt«, fasst es Kolbmüller zusammen. FRANZISKA REIF

 

Der Vorträger

Studierter Chemiker, Umweltaktivist, Bassdilettant, Dissident, Historiker, Songtexter, Rentner im Unruhestand: Dass das alles in einem Leben Platz findet, scheint unwahrscheinlich, und man stellt sich als Mittelpunkt auch irgendwie etwas Größeres vor als Meerane bei Gößnitz bei Altenburg. Für Joachim Krause ist das Haus im Grenzgebiet zwischen Sachsen und Thüringen aber ohnehin mehr Ruhepol als Residenz, denn im großen Radius unterwegs war er schon immer und ist es bis heute. Auf dem Dorf geboren, hat er in Dresden studiert. In den siebziger Jahren prägte er neben dem Studium die damalige ostdeutsche Musiklandschaft mit, er schrieb den ein oder anderen Songtext für Größen wie Karat, Lift oder die Puhdys, soff in Berlin mit Ostrockstars, solche Sachen. Der günstigen, familiengerechten Wohngelegenheit wegen ging es dann schließlich wieder aufs Land.

Ausgerechnet im Schoß der evangelischen Kirche schuf sich der laut eigener Aussage nicht eben fromme Krause zu DDR-Zeiten mit einer Offensivbewerbung seine eigene Stelle als Referent für Naturwissenschaften und Umwelt. Krause zog über die Dörfer und hielt vor Gemeinden Vorträge. Nicht nur das – als kritischer Geist, zu dem ihn seine Eltern erzogen hatten, erwarb er sich seinen Aktenvermerk als »Operativer Vorgang« der Stasi mit Aktionen wie unerlaubten Geigerzählermessungen im Uranabbaugebiet Erzgebirge (Ergebnis: wohl keine blühenden, dafür strahlende Landschaften). Den kritischen Geist wie die Vortragstätigkeit hat er auch nach der Wende beibehalten. Joachim Krause ist ein

[caption id="attachment_78745" align="alignleft" width="352"] Foto: Christiane Gundlach[/caption]

Aufklärer, dem Angst ebenso fremd zu sein scheint wie Berührungsängste: Er erzählt, wie er einmal zu einem Vortrag über Chemtrails in einer Gemeinde eingeladen wurde, auf dem dann eine vierzigköpfige, vom Thema faszinierte Delegation der NPD erschien. Denen musste er dann eben erläutern, dass das alles Schwachsinn ist – genauso, wie er sich das selbst begreiflich machen muss-te, als er zahlreiche Briefe seiner Eltern aus der NS-Zeit im hintersten Winkel des Speichers fand: Ediert im Band »Fremde Eltern« machte er der Öffentlichkeit Zeugnisse zugänglich, die belegen, dass die Mutter bis zum bittersten Ende glühend überzeugte Nationalsozialistin war. Seine Recherchen gegen das Verdrängen und Vergessen über die »Deutschen Christen«, entstanden wenige Kilometer von seinem Wohnort, brachten ihm im Landkreis sicherlich keine neuen Freunde, den Lesern aber einen aus der Perspektive völlig unbekannten Blickwinkel aufs Thema. KAY SCHIER


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