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Kultur

Schwedische Gardinen

Knastklassiker aus unserem :logbuch

  Schwedische Gardinen | Knastklassiker aus unserem :logbuch

Die Leipziger Buchmesse 2020 findet nicht statt, wegen Coronavirus wurde sie abgesagt. Trotzdem posten wir die Inhalte unserer kostenlosen Beilage :logbuch für Ihre Kultur-Hamstereinkäufe und unfreiwillige Quarantänen zuhause.

Bis vor kurzem gingen wir davon aus, dass die Leipziger Buchmesse 2020 kein Gastland haben würde, weswegen wir uns im alljährlichen, diesmal ganze 100 Seiten umfassenden :logbuch des kreuzer einem Thema widmen wollten, das vielleicht nach Genre klingt, aber sehr vielschichtig ist: Literatur hinter Gittern. Also Büchern, die im Gefängnis entstanden sind, die es thematisieren oder die ihre Verfasser und Verfasserinnen, sagen wir mal, in Schwierigkeiten gebracht haben. Stichwort Freiheit. Kunstfreiheit, Pressefreiheit, sowas. Dass wir nun alle von der Buchmesse ausgesperrt werden, verbuchen wir mal unter »Ironie des Schicksals«.

Nun soll es freilich auch um einige »Knastklassiker« gehen – vom Graf von Monte Christo bis Deniz Yücel, von Oscar Wilde und Stefan Zweig über Anne Frank und Milena Jesenská bis zu Jean Genet und Alexander Solschenizyn. Auf drei von ihnen schauen wir hier, weitere zwölf gibt’s im gedruckten und im verPDFisierten :logbuch (wo man übrigens auch was über E-Books in Gefängnisbibliotheken erfährt).

Fjodor Dostojewski

»Hier hatte man seine eigene Welt, die nichts anderem mehr gleich war, hier hatte man seine eigenen Gesetze, seine Kostüme, seine Sitten und Bräuche, hatte bei lebendigem Leib ein totes Haus, ein Leben wie nirgendwo und Menschen von eigener Art.« So schildert es schon zum Ende der ersten Seite Alexánder Petrówitsch in seinen Aufzeichnungen »Szenen aus einem toten Haus« aus der Lagerhaft in Sibirien eindrücklich. Natürlich ist Petrówitsch ein Kunstgriff Fjodor M. Dostojewskis, der selbst von 1849 bis 1859 in einem solchen Lager als politischer Gefangener inhaftiert war und seinen Erzähler eben jene tagebuchartigen Texte Petrówitschs auffinden und lesen und kommentieren lässt – vielleicht, um von dem Erlebtem überhaupt sprechen zu können; um nicht »Ich« sagen zu müssen.

Wer den Klassiker nicht sowieso schon kennt, hat mit der Neuübersetzung der vielfach ausgezeichneten Barbara Konrad (für ihre Übertragung von »Krieg und Frieden« erhielt sie den Preis der Leipziger Buchmesse) jetzt die Gelegenheit, eine Leselücke zu füllen. Das Buch aus dem Hause Hanser kommt schmal daher, was an dem bibelartig dünnen Papier liegt, auf dem die über 540 Seiten gedruckt wurden; verborgen zwischen den schönsten Farben, die ein Vorsatzpapier, ein Leineneinband und ein Schutzumschlag je gesehen haben. Ein gewichtiger Text, der in der Manteltasche Platz findet und von dort auch nicht so schnell wieder hinaus – eine ganze Welt, wenn auch eine tote, findet da Platz und will trotz aller Schrecken erkundet werden.

Lew Tolstoi schreibt übrigens, er habe das Buch wiedergelesen, als er sich schlecht fühlte und befand danach, dass er »kein besseres Buch aus der ganzen neuesten Literatur« kenne. Schlecht fühlt man sich auch nach dem Lesen, so, wie es einem nach eindrücklichen Gefängnisberichten eben nur gehen kann. Doch dazwischen schleicht sich auch eine heimliche Freude ein, über einen Text der so gut ist, dass man am Ende trotz allem wieder von vorn beginnen will: »Freiheit, ein neues Leben, die Auferstehung von den Toten … was für ein wunderbarer Moment!«

LINN PENELOPE MICKLITZ

Erich Loest

Ein Bier trinken und dann vielleicht noch eins, hatten sie sich drinnen so überlegt, das müsste das erste sein, zurück in der Freiheit. Aber Gert Kohler hat keinen Appetit auf Bier, als er nach zweieinhalb Jahren das Gefängnis verlassen darf. Er fährt zur Mutti, nicht zu seiner Frau. Vater ist zum Glück nicht da, und als die Situation doch in eine Art Gespräch zu kippen droht, verschwindet er wieder und tut das, was man eh viel öfter tun sollte: Er geht auf die Radrennbahn in Kleinzschocher. Herzlich willkommen in den Sechzigern, herzlich willkommen in Leipzig. Herzlich willkommen in einem ruhigen, beeindruckenden Gefängnisroman von 1973. Will heißen: Clemens-Meyer-Fans, aufgepasst!

Erich Loest, selbst von 1957 bis 1964 in Halle und Bautzen inhaftiert (infolge »konterrevolutionärer« Aktivitäten nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953) schaut in »Schattenboxen« nicht ins Gefängnis, sondern auf das »Gegenteil von Knast«. »Kohler hat seit zweieinhalb Jahren kein Pferd gesehen. Keine Kuh, keinen Hund, kein Kind, keine Wasserfläche, kein Auto … Kohler staunt, wie klein Kinder sind, die schon reden, schon laufen können.« Ein Mann an der Bushaltestelle saugt seine Umwelt auf, sieht, hört, riecht, bemerkt, was den meisten von uns in diesem Wimmelbild, das wir Welt nennen, gar nicht auffällt – vor allem aber versucht er, darin wieder Fuß zu fassen: Einen Job finden, niemandem von früher oder gar von drinnen begegnen. Es gibt viel zu verdrängen und »Es gibt unendlich viel aufzuholen, nicht nur Anschmiegen und Küssen.« Seine Frau Carla ist da, die Liebe, wie früher, aber da ist nun auch Jörg, ihr Sohn, der nicht seiner ist. Kohler liest – mit schwankender Begeisterung – Falladas »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt«, über das es heißt: »aber etwas lauert im Hintergrund, zu viele Lügen können platzen, vor allem die große Hauptlüge. Nie fragt Kufalt, wer der Vater des kleinen Willi ist, nie spricht Hilde davon.« Man ersetze Kufalt, Willi, Hilde durch Kohler, Jörg, Carla – und aus Fallada wird Loest. Im Gefängnis hatte einer mal gesagt: »Aber eure Frauen können doch nicht dafür, daß ihr sitzt, oder?«

Kohler geht in die Lausitz, wo ihn keiner kennt. Es läuft nicht alles glatt, aber es scheint zu gehen, Carla und Jörg kommen nach, eine Art Alltag entsteht, Problemchen und Probleme, unspektakulär. Dem entsprechen zahlreiche, ganz wunderbare kleine Sätzchen wie: »Ich habe noch nie einen lebendigen Igel gesehen« oder »Schuberts haben sechs Kühe und einen Wartburg im Stall« oder »Oma soll kommen, Eisenbahn böse« oder »Schubert findet anerkennende Worte für die Gardinen« oder »Hoyerswerda ist eine Stadt mit wenig Omas«. Aber der Fallada-Verweis hat es schon angekündigt: Da lauert was im Hintergrund. Ein Mithäftling taucht auf und mit ihm die Paranoia, so dass ein harmloser Witz das Fass zum Überlaufen bringt: »Was ist sexy?«

BENJAMIN HEINE

Norbert Bleisch und Norbert Leithold

Norbert Leitholds zur Hyperfiktion aufgeblasener Roman »Herrliche Zeiten« über eine Familie astreiner Naziprofiteure erschien 2014 und ist das letzte literarische Lebenszeichen des Autors, dessen Biografie der einer Romanfigur gleicht. »Der Historiker Norbert Leithold hieß bis 2004 Norbert Bleisch, hat Romane geschrieben und driftete in den Neunzigern dann für einige Zeit als Pornofilmer ab.«, fasste er selbst es in einem Interview mit der Welt einmal zusammen.

Leitholds Buch »Graf Goertz« über einen Prinzenerzieher in der Goethezeit war 2010 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Erst nach der Nominierung habe die Jury ihn aber als Autor des Buchs »2040« ausgemacht, das – Houellebecqs »Unterwerfung« vorwegnehmend – den Wandel in eine islamische Republik schildert. Darin sei Leithold als Preisträger der Berliner Akademie der Künste bezeichnet, was die Akademie nicht bestätigen konnte – die Leipziger Jury strich den »Hochstapler« Leithold von der bereits veröffentlichten Liste.

Doch er ist wirklich Träger des Alfred-Döblin-Förderpreises der Akademie – allerdings unter dem Namen Norbert Bleisch. Als dieser wurde er 1957 in Schwerin geboren. Er forschte als Historiker zu den Lebenbornheimen im Nationalsozialismus, die der »rassereinen« Kinderproduktion dienen sollten. Über dieses Thema veröffentlichte er auch seinen ersten Roman: »Kontrollverlust« (1988). Das zuvor verfasste Werk »Lord Müll« konnte erst nach der Wende erscheinen. Bleisch erhielt 1991 den bereits erwähnten Förderpreis der Akademie sowie eine Einladung zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Im Jahr darauf erschien sein Roman »Das Vierte Deutschland« bei Suhrkamp. Weil ihn zu dieser Zeit die Pornografisierung der Gesellschaft interessierte, der er mit der Ästhetisierung des Genres begegnen wollte, verfasste er ein pornografisches Manifest. Und drehte Pornofilme. »Einige der Darsteller waren Jugendliche. Mit ihnen derartige Filme zu drehen, steht nach deutschem Recht nicht unter Strafe, wohl aber, jugendliche Darsteller dafür zu bezahlen. Genau das habe ich getan und dafür bin ich zu Recht von einem Schöffengericht zu zweieinhalb Jahren verurteilt worden.«, führte Leithold im oben genannten Welt-Interview aus. Ein Jahr verbrachte er in offenem Vollzug. »Ich bin dem Staatsanwalt noch heute dafür dankbar, dass er beendete, wozu ich nicht die Kraft hatte, denn längst war ich in finanzieller Abhängigkeit.«

Nach diesem Kapitel nahm er den Namen seiner Frau an, mit der er mittlerweile das klassizistische Palais Bülow in Ludwigslust erworben hat, wo er heute zu Konzerten und zum Basteln in der Pappmaché-Manufaktur lädt.

TOBIAS PRÜWER


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