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Stadtleben

Schmerz und Solidarität

Das Coronavirus verändert das Leben aller: Eindrücke aus dem Alltag von Leipzigern

  Schmerz und Solidarität | Das Coronavirus verändert das Leben aller: Eindrücke aus dem Alltag von Leipzigern

Kai ist Arzt, Luise die Nachbarin von Renate, Jana hat die Glasknochenkrankheit und Samira lebt auf der Straße. Sie alle erzählen von ihrem Alltag in einer Stadt mit dem Coronavirus

Ein Abschied. In einer kleinen Dachgeschosswohnung in Leipzig sagen sich zwei Menschen auf unbestimmte Zeit Adieu. Zumindest körperlich. Sie arbeitet im Gesundheitswesen, fährt täglich in eine Klinik auf dem Land. Er gehört zur sogenannten »Risikogruppe«. Sein Immunsystem ist aufgrund einer Vorerkrankung geschwächt. Trotz jungen Alters raten die Ärzte zu Vorsichtsmaßnahmen. Eine letzte Umarmung auf dem Podest vor dem Fenster. Dahinter entschwinden die Schienen der stillgelegten Bahnstrecke in Richtung Völkerschlachtdenkmal. Heute scheinen sie noch trostloser. Es ist erst früher Nachmittag, das Zimmer ist in violette Stille getaucht.

Das Coronavirus hat den Abschiedsschmerz mitgebracht. Enkel verabschieden sich von ihren Großeltern, Menschen mit Behinderungen schicken ihre Assistenten nach Hause, Kollegen sehen sich fortan nur noch virtuell. Neben der Todesrate und der schnellen Verbreitung ist dies vielleicht das Schlimmste an dem Coronavirus: Verantwortungsbewusst, empathisch und solidarisch handelt, wer seine Uroma nicht mehr im Altenheim besucht, wer seinen Nachbarn nicht mehr die Hand gibt und auch sonst auf Abstand geht. Und so gehen überall die Tore zu. Flüchtlings- und Pflegeeinrichtungen riegeln sich ab. Wer jetzt noch allein ist, wird es wohl lange bleiben.

Kai

Ein Arzt aus Leipzig, der seit Kurzem in einer Corona-Ambulanz aushilft, erzählt, dass er seine Freunde in nächster Zeit lieber nicht sieht. Um sie zu schützen. Ein Klinikum in Leipzig: Durch ein Fenster in der Außenwand kommunizieren zwei Töchter mit ihrem Vater. Er befindet sich in einem Patientenzimmer. Die Wand ist dick genug, um ihre Stimmen zu verschlingen. Deshalb halten sie sich ihre Telefone ans Ohr. Wenigstens sehen können sie sich so. Der an Covid-19 erkrankte Mann erblickt sonst keine Menschen mehr. Diejenigen, die sich um ihn kümmern, sehen aus wie Weltraumwesen, mit ihren Schutzanzügen, Masken und Brillen. Kaum erkennbar, ob man es mit einer Frau oder einem Mann, einem Pfleger oder einer Oberärztin zu tun hat.

Auch Kai Adamskis* Augen sind unter der Schutzbrille kaum mehr zu erahnen. Der junge Mediziner sollte eigentlich auf einer anderen Station arbeiten, die hat aber bereits großteils dichtgemacht, um die Kräfte zur Coronabekämpfung zu bündeln. Also hat sich Adamski freiwillig gemeldet, auf der Coronastation. Herz der Coronabekämpfung ist ein großes Klinikum in Leipzig. Das Krankenhaus verfügt über eine infektiologische Abteilung, alle Covid-19-Patienten mit schwereren Verläufen landen hier. Zumindest, solange noch genügend Platz ist. Wenn Patienten »kippen«, geht das ganz schnell. Keine 24 Stunden dauert es, dass sie in einen kritischen Zustand abrutschen, nicht mehr genügend Sauerstoff im Blut ist. Der Schaden, den das Virus angerichtet hat, führt dann zu Entzündungsreaktionen in der Lunge. Noch sind es in Leipzig nicht sehr viele Menschen, die auf der Intensivstation landen. Einer von zehn Patienten, schätzt Adamski. Die Stimmung auf den Stationen sei sehr professionell, erzählt er. Aber natürlich sei auch eine gewisse Anspannung spürbar. Alle kennen die Bilder von überbordenden Corona-Ambulanzen aus Italien und Spanien. Steht uns das noch bevor? Vor ein paar Wochen dachte Adamski, das würde nun auch in den Kliniken in Leipzig passieren. Die Kapazitäten waren zwar noch lange nicht ausgeschöpft, aber es wurden täglich mehr Patienten auf der Station. Dann kamen die Ausgangssperren. »Man merkt hier schon, dass diese regulatorischen Maßnahmen etwas bringen«, erzählt Adamski. Er fragt sich, was passiert, wenn diese wieder gelockert werden. »Über den Berg sind wir noch lange nicht«, glaubt der junge Mediziner.

Luise und Renate

In den Intensivstationen der Leipziger Kliniken erleben Menschen wie Adamski die schlimmsten Auswirkungen des Virus. An anderen Orten hat die Krankheit auch schöne Dinge gebracht. Solidarität zum Beispiel.

Leipzig ist gerade eine schöne Stadt, wenn man an den richtigen Ecken schaut. Bei Luise Winkler fing es mit einem Zettel im Hausflur an. »Liebe Nachbar*innen«, schrieb die 29-jährige Studentin der Geografie, »sollten Sie zu einer der durch die derzeitige Pandemie betroffenen Risikogruppen gehören, möchte ich Sie unterstützen, gesund zu bleiben, und greife Ihnen in den nächsten Wochen gerne unter die Arme.«

Nach einer Woche klingelte bei Winkler das Telefon. Zuerst war die Verbindung schlecht. »Und ich war auch ein wenig schüchtern, um ehrlich zu sein«, erzählt Renate Uhlig später. Der Anruf bei der Nachbarin hatte sie doch einige Überwindung gekostet. Uhlig lebt seit dem Tod ihres Mannes alleine in einer geräumigen Zweizimmerwohnung. Vor dem Ausbruch der Lungenkrankheit pflegte sie viele Kontakte. »Hauptsächlich zu Frauen meines Alters«, erzählt sie. Inzwischen traut sich keine mehr raus. »Und die meisten sind nicht so gut mit Internet und Telefon vertraut wie ich«, erzählt Uhlig, ein wenig traurig ob der fehlenden Kontakte, ein 
wenig stolz ob der eigenen Anpassungsfähigkeit. Die ehemalige Apothekerin ist über 70 und leidet unter Kurzatmigkeit. Das Virus macht ihr Angst. Per Telefon bittet sie Luise Winkler, für sie einzukaufen und Medikamente abzuholen.

Beim ersten Treffen ist die Studentin darauf bedacht, nichts anzufassen und Abstand zu halten. Als sie mit den gepackten Einkaufstüten zurück in die Wohnung kommt, legt sie lachend ein Dutzend Rollen Klopapier auf den Tisch. Dort liegen schon ein paar Plätzchen, in blaue Servietten eingewickelt. Und selbst gemachter Quittenschnaps. Den brauchen die jungen Leute jetzt mehr als ich, sagt Frau Uhlig.

Luise Winkler bringt nach dem Einkaufen seitdem öfter etwas ins Dachgeschoss. Gegen die Einsamkeit hat die junge Frau mit dem scharf geschnittenen Pony und einem Ring in der Nase ihrer Nachbarin die sozialen Netzwerke Instagram und Twitter auf dem Handy installiert. »Da bekommt man mit, was die Leute so denken«, freut sich Renate Uhlig.

Zusammen haben sich die beiden eine Onlinelesung der Autorin Sibel Schick angehört. »Eine ganz sympathische junge Frau«, sagt Frau Uhlig. Aber so viel verstanden habe sie ehrlich gesagt nicht. 
»Irgendwie um Feminismus« sei es gegangen, aber anders, als sie das früher in der DDR gelernt hatte. Twitter sei sehr informativ, aber Instagram gefalle ihr persönlich noch besser, »da ist man den Leuten so nah«, sagt sie und kichert. Noch liest sie dort aber nur stumm mit, hat bisher keine Beiträge verfasst oder Fotos online gestellt. »Ich möchte doch nicht, dass ich Luise vor ihren Freundinnen peinlich werde«, sagt sie schüchtern lächelnd.

Jana

Es sind nicht nur alte Menschen, die durch das Coronavirus besonders gefährdet sind. Jana Zöll wohnt in einer Single-Wohnung in der Südvorstadt. Schlafen tut sie trotzdem nie alleine in der Wohnung. Sechs Assistentinnen und Assistenten beschäftigt die Performerin im Schichtdienst. Sie helfen ihr im Alltag. Zöll hat eine Form von Osteogenesis imperfecta. Glasknochen. Sie hat ein sehr geringes Lungenvolumen und kaum Kraft zum Abhusten. Hat sie doch mal einen Husten, brechen ihr schon mal die Rippen. Covid-19 könnte für die 35-Jährige gefährlich werden. Wie schützt man sich vor einer solchen Gefahr? Mit der Assistenz hat sich Zöll auf bestimmte Vorkehrungen geeinigt. Die Menschen, die ihr im Alltag helfen, sehen jetzt nur noch eine andere Person und fahren nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Zöll ist sehr froh, dass sie mitziehen, das sei nicht selbstverständlich. Die Angst aber bleibt. Auch, dass mehrere Helfer krankheitsbedingt auf einmal ausfallen.

Am Anfang war ihr die eigene Gefährdung noch kaum bewusst. Sie fuhr nach Nordrheinwestfalen auf einen Tanzworkshop, obwohl es dort bereits die meisten bestätigten Infektionsfälle gab. Zöll ist Schauspielerin und Tänzerin, das Leitbild ihrer Kunst beschreibt sie so: Herauszufinden, was normal ist und was nicht, wer das bestimmt und was für Auswirkungen das hat. Das Reden übers Coronavirus hat die Künstlerin zuerst für die alljährliche Grippe-Hysterie gehalten. Nach und nach setzten sich die Meldungen zur Krankheit, erst war es nur ein »Moment, hier ist was schräg« und dann kam wie ein Knall die Erkenntnis. Zurück nach Leipzig und in die Isolation. Wenige Tage später feiert Zöll ihren Geburtstag. Zuerst hat sie gar keine Lust, aber die Leute sind schon eingeladen. Dann also auf Zoom, einer Videokonferenzplattform. Und das wird dann richtig schön. Menschen, die Zöll lange nicht gesehen hat, aus unterschiedlichen Städten feiern zusammen und am Ende gibt es sogar Musik und es wird getanzt.

Angst hat Zöll vor allem vor dem Moment, wenn sich die Ausgangsbeschränkungen lockern. Einige Wochen zu Hause bleiben, darauf haben sich die meisten Menschen geeinigt. In vielen Bundesländern war Ostern die magische Kehre, das Fest der Auferstehung war anvisiert als das Ende der auferlegten Isolation. In Sachsen war früher klar, dass die Regularien länger gelten werden. Trotzdem wird es wahrscheinlich kein gemeinsames Ende der Pandemie geben.

Das Coronavirus spaltet. Während die einen aus Angst um ihre Angehörigen die Menschen auf der Straße ermahnen, doch zu Hause zu bleiben, brauchen die anderen dringend Geld für die nächste Miete. Während die einen Videos davon posten, wie sie mit ihren Quarantäne-WGs Lieder aufnehmen, sehnen sich andere nach menschlichen Kontakten.

Wenn die Welt da draußen wieder anläuft, wird es für Jana Zöll schwerer werden, daheim zu bleiben, vermutet sie. »Noch stecke ich ja in der gleichen Haut wie alle anderen auch«, sagt sie. Alle ihre gleichaltrigen Freunde sind zu Hause. Aber wenn sich das Leben für die meisten wieder normalisiert, ist die Gefahr für sie immer noch überall, wahrscheinlich, bis es irgendwann einen Impfstoff gibt. Damit wird nicht vor dem nächsten Jahr gerechnet. Doch was ist, wenn die Welt sich draußen wieder normal dreht? »Ich weiß nicht, ob ich es dann schaffe, weiter auf mich achtzugeben«, sagt Zöll. Dann hätte sie schon große Lust, alle Vorsichtsmaßnahmen einfach hinzuschmeißen. Das will sie aber selbst entscheiden dürfen. Ihr graut es davor, sollte der Gesetzgeber entscheiden, sie als Teil einer »Risikogruppe« in die eigenen vier Wände zu verbannen. »Seit Jahren ringen wir um Inklusion, das würde uns behindertenpolitisch weit zurückwerfen«, mahnt sie.

Samira

Sie ist nicht vorbereitet, als der Ordnungshüter aus dem Schatten tritt. Samira Kahedi sitzt am Bahnhof, betrunken so wie meist zu dieser Uhrzeit, aber natürlich wissen auch sie und ihre obdachlosen Freunde, dass nichts ist wie immer. Natürlich haben auch sie von den Ausgangsbeschränkungen gehört und sich gefragt, was nun eigentlich mit ihnen werden soll. Die zwei Polizisten schauen sie lange an, Kahedi macht sich innerlich bereit für das Wortgefecht, das sich normalerweise so sicher aus dieser Situation ergibt wie der Kater am nächsten Morgen. Dann gehen die beiden Polizisten einfach weiter.

Das Coronavirus bringe sie um fast 100 Prozent ihres normalen täglichen Einkommens, erzählt Kahedi. Dafür gebe es gerade mehr Betten in den Notunterkünften. Sie hat zum Glück gerade sowieso eine eigene Wohnung. Früher teilte sie die mit vielen ihrer Freunde, wer grad wollte, konnte eine Nacht bei ihr unterkommen, sich waschen und am Morgen einen warmen Kaffee trinken. Das geht jetzt nicht mehr. »Das wäre virologisch zu gefährlich«, meint die 22-Jährige. Auch die Obdachlosen versuchen, ihren Teil zur Eindämmung der Pandemie beizutragen. Soweit sie eben können, denn einfach macht ihnen ihre Lage das nicht. Die ist sowieso ziemlich beängstigend. Wer weiß schon, wann die Menschen und damit auch das Geld zurück auf die Straßen kommen? Zumindest sei jetzt Sommer. Und zumindest habe sie das Gefühl, es gebe doch ein paar Menschen, die »an uns denken«, sagt Kahedi.

Ein Bretterzaun im Leipziger Osten, nahe dem backsteinernen Turm der Heilig-Kreuz-Kirche. »Lieber Mensch ohne Zuhause«, steht in schwarzen Lettern auf einem gerahmten Blatt Papier an der Wand, an der die Farbe blättert, »bitte nimm, was du dringend brauchst, vom Gabenzaun.« Weiße Plastiktüten mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Getränken sind an das Holz genagelt. Ein alter Mann in braunem Parka steht davor, zieht lange an seiner schwelenden Zigarette. Er murmelt etwas in einer Sprache, die es gar nicht gibt. Dann geht er weiter. Ein Tütchen mit Bananen und Desinfektionsmittel ist nun noch zu ergattern.


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