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Kultur

»Ich wollte Rockmusiker werden«

Der Pianist und Komponist Stefan Schleiermacher über alte Zeiten, ästhetische Kontinuität und seine Offenheit für Neues

  »Ich wollte Rockmusiker werden« | Der Pianist und Komponist Stefan Schleiermacher über alte Zeiten, ästhetische Kontinuität und seine Offenheit für Neues

Im Sessel vor seinen Büchern sitzend, hat es sich Steffen Schleiermacher zu Hause gemütlich gemacht. In altbewährter Weise streift er, skypend vor seinem kleinen Handy-Bildschirm sitzend, mit Witz und Eloquenz durch die Zeiten, während im Kopf Musik und Geschichte(n) vorbeiziehen.

kreuzer: Anlässlich Ihres 60. Geburtstags erscheint ein Buch mit Texten und Interviews, ist das eine besondere Form der Autobiografie?Steffen Schleiermacher: Nein, das sind Ansichten und Kommentare zu Themen, die mich interessieren. Die Idee kam von Olaf Wilhelmer, der jetzt auch der Herausgeber ist. Er hat es mal im Spaß vorgeschlagen, manchmal wird aus so was dann bitterer Ernst.

kreuzer: Sie sind Pianist, Komponist, Dirigent, Moderator, Konzertorganisator Musikschriftsteller, Hörspielproduzent – wo liegen da die Prioritäten?Schleiermacher: Der Tag hat 24 Stunden, die müssen ja gefüllt werden. Das geht je nach Auftragslage.

kreuzer: Komponieren Sie eigentlich immer im Auftrag, oder gibt es auch das ganz private Schreiben? Schleiermacher: Auftragskompositionen sind nur die großen Sachen, wie Orchesterkompositionen. Sonst hätte man ja keine Chance, das aufgeführt zu hören und darum geht es natürlich. Ich komponiere auch viel ohne Auftrag, beispielsweise Kammermusik oder Lieder.

kreuzer: Sie komponieren direkt am Computer. Machen Sie sich unterwegs auch Notizen?Schleiermacher: Nein, ich kann tatsächlich nur zu Hause komponieren. Im Sinne von etwas hinschreiben. Da brauche ich meine Ecke, meine Tasse Kaffee, meinen Keks, die Buntstifte und meinen Computer, die ganze Umgebung und die Ruhe. Ich komponiere ja meist nachts, das kann schon bis drei oder vier in der Frühe gehen. Musik geht einem immer irgendwie durch den Kopf, aber ich hab keine Notizbücher für die besonders einprägsamen Melodien, für die ich ja sehr berühmt bin (lacht).

kreuzer: Seit 1989 leiten Sie die Konzertreihe »Musica Nova« am Gewandhaus mit dem Ensemble Avantgarde. Wie hat das angefangen?Schleiermacher: Eine Reihe mit Neuer Musik gab es am Gewandhaus immer schon. Das hat anfangs Friedrich Schenker gemacht und ist dann sukzessive an mich übergegangen. Das erste Konzert mit dem Titel »Musica Nova« fand im September 1989 statt. Die Programme hatten wir schon 1988 geplant, mit der Wende hatte das nichts zu tun. Die Kollegen des Ensemble Avantgarde kenne ich großteils noch aus dem Studium, vom Anfang der achtziger Jahre.

kreuzer: Die kuratorische Arbeit für diese außergewöhnlichen Programme liegt ausschließlich bei Ihnen?Schleiermacher: Ja. Die Ideen dafür entstehen beispielsweise im Gespräch. Manchmal sind es auch zufällige Fundstücke, man gräbt immer weiter, irgendwann mündet es in ein Konzert. Das muss allerdings auch ganz praktischen Aspekten folgen, wie der Besetzung oder Stücklänge. Derzeit stellen wir immer zwei Komponisten vor im Konzert. Ich kümmere mich um die Musik der letzten 100 Jahre, Uraufführungen gibt es weniger.

kreuzer: In der kommenden Saison gibt es ein »Musica Nova« für Kinder. Wie kam es dazu?Schleiermacher: Das ist eine Idee des Gewandhauses. Ich spiele Stücke von Komponisten, die für Kinder gedacht sind, von Gubaidulina, Satie und Bartók. Es ist eigentlich das Musica-Nova-Konzept für Kinder zwischen zehn und fünfzehn Jahren, ein Experiment, auf das ich mich ganz gerne einlasse.

kreuzer: Sie sagen, »Komponieren kann man nicht unterrichten.« Hatten Sie selbst nie Schüler?Schleiermacher: Nein. Man kann Handwerk unterrichten, Tonsatz, Instrumentation, aber keine Fantasie oder Kreativität. Man kann diese nur lenken.

kreuzer: Sie selbst aber hatten doch auch Lehrer, die Sie geprägt haben.Schleiermacher: Ja, aber das ist eben meine Erfahrung mit Siegfried Thiele. Ich habe bei ihm anfangs nicht Komposition studiert. Ich war als Interpret bei ihm im Analyseunterricht. Thiele hat mich nie zum Komponieren animiert. Irgendwann habe ich von mir aus angefangen, eigene Stücke mitzubringen. Von da an ging es nur noch um diese Stücke und der Kompositionsunterricht fing an. Bei Friedrich Schenker war es dann nicht anders. Man musste etwas bringen.

kreuzer: Ein wichtiger Lehrer war auch Friedrich Goldmann?Schleiermacher: Ja, als Kompositionslehrer. Mein wichtigster Lehrer aber war Gerhard Erber, der Klavierlehrer, er hat mich erst mal in die Spur gesetzt. Und jeder Komponist, den ich aufführe, ist natürlich irgendwie auch ein Kompositionslehrer.

kreuzer: Wie kamen Sie eigentlich zur Neuen Musik?Schleiermacher: Ich wollte ja ursprünglich Rockmusiker werden, so Pink-Floyd- und Genesis-mäßig, dann wollte ich Jazzmusiker werden, ein Mittelding zwischen Chick Corea, Cecil Taylor, Herbie Hancock und Keith Jarrett. Das ging immer weiter in Richtung Free Jazz. Dann kam ich an die Leipziger Musikhochschule, zu Gerhard Erber, der ein Neue-Musik-Freak war. Ich selbst hatte bis dahin wenig damit zu tun und habe das im Sinne meiner Free-Jazz-Erfahrung eher als verrückte Klangentäußerung gehört. Gerhard Erber hat mich dann mitgenommen zu Konzerten der »Gruppe Neue Musik Hanns Eisler«. Ich fand den Formwillen, die gestaltete Zeit bei den Stücken, die ich dort hörte, interessanter als Free Jazz. So fing ich an, mich dafür zu interessieren. Anfangs tauchten DDR-Komponisten, später dann auch andere als Namen auf. Jedes musikalische Zimmer, das ich betrat, hatte wieder zehn weitere Türen, hinter denen es wieder neue Überraschungen gab. Das hat sich bis heute kaum geändert.

kreuzer: Wie sind Sie denn als Student an die Noten gekommen, einfach kaufen konnte man die ja nicht?Schleiermacher: In der Musikbibliothek Leipzig gab es extrem viele Noten, auch aus dem Westen, vermutlich Ansichtsexemplare von der Buchmesse. Andere Stücke bekam ich über die internationale Musikbibliothek in Berlin oder über den Verlag Edition Peters, der ja aufgrund der Verlagsgeschichte einen engen Draht nach Frankfurt am Main und New York hatte. Die Noten hat man abfotografiert, da gab es am Thomaskirchhof so ein Fotostudio, wo ich Stammkunde war. Wo ein Wille war, fand sich ein Weg. Irgendwann habe ich angefangen, Verlage und Komponisten aus dem Westen direkt anzuschreiben. Stockhausen hat immer sofort geantwortet und ganz viel geschickt, von Lachenmann und Rihm habe ich Noten bekommen, andere haben nie geantwortet. Mangelndes Interesse oder die Post ist nicht angekommen, das weiß man nicht.

kreuzer: Sie haben in Leipzig studiert – bei wem haben Sie damals Unterstützung für Ihre Ambitionen erfahren? Gab es Widerstände?Schleiermacher: Ich hab es einfach gemacht. Unterstützung gab es von meinen Kollegen, die auch Interesse an den Konzerten hatten. Es war so ähnlich wie heute, ich habe auch damals schon die Programme moderiert. Es war auch nicht verboten. 1983 habe ich ein Festkonzert zu Anton Weberns 100. Geburtstag gemacht und auch Stockhausen und Boulez aufs Programm gesetzt. Zensur gab es nicht, das war in den fünfziger, sechziger Jahren sicher anders.Ich habe auch einmal einen ganzen Cage-Abend gemacht. Es gab ja in dem Sinne noch keine Rezeptions- oder Interpretationsgeschichte. Das waren DDR-Erstaufführungen, die Leute kamen aus Berlin und Dresden, um sich das anzuhören. Manchmal hat auch der Rundfunk Konzerte mitgeschnitten. Die waren oft brechend voll. Es hatte natürlich etwas von Dissidententum.

kreuzer: Was hat sich in Ihrem künstlerischen Arbeiten mit dem politischen Systemwechsel verändert?Schleiermacher: Technisch ist einiges leichter, einiges schwieriger geworden. Ästhetisch habe ich mich überhaupt nicht geändert. Entweder man hat als Komponist eine Handschrift, die sich natürlich unterschiedlich äußert, oder eben nicht. Natürlich ist man von politischen Ereignissen betroffen, aber das stellt sich so nicht eins zu eins dar. Für aktuelle politische Kommentare ist Musik eher weniger geeignet.

kreuzer: Was halten Sie bei über 100 Platten für Ihre wichtigsten Einspielungen?Schleiermacher: Schwer zu sagen. Die Aufnahmen von Cage und Josef Matthias Hauer – das sind extrem umfangreiche Editionen, insofern vielleicht besonders.

kreuzer: Welche Bedeutung hat John Cage für Sie?Schleiermacher: Cage ist ein schönes Reibeisen. In vielen Punkten bin ich nicht seiner Meinung. Er ist ein Anreger, auf keinen Fall ein Doktrinär. Seine Offenheit und der spielerische, nicht selten ironische Umgang mit der Musik faszinieren mich immer wieder, ohne dass ich jedes seiner Stücke zum Meisterwerk erklären würde. Es interessiert mich vor allem als Anregung, offen zu sein, weiterzugucken und nicht das Gleiche immer wieder zu machen.

kreuzer: Während der letzten Jahre haben Sie angefangen, Lieder von Hanns Eisler mit dem Bariton Holger Falk aufzunehmen. Was interessiert Sie daran?Schleiermacher: Es ist eine repräsentative Auswahl von ungefähr 200 Liedern auf vier CDs, die reichliche Hälfte von Eislers Liedschaffen. Wie er so zwischen den Zeiten sitzt und das zerrissene 20. Jahrhundert repräsentiert …Ich finde, er ist ein hervorragender Liedkomponist. Wie er Melodien erfunden hat, wie er Text behandelt, das Verhältnis von Gesang und Klavierbegleitung, schon allein die Schlüsse. Es ist für mich der Ausgangspunkt für Liedkomposition im 20. Jahrhundert.

kreuzer: Eisler war bekennender Kommunist, hat so was für Sie eine Bedeutung?Schleiermacher: Ich nehme zur Kenntnis, dass er das war. In den fünfziger Jahren waren die Auswüchse des Stalinismus nicht mehr zu leugnen und mussten auch Eisler bekannt gewesen sein. Dass er trotzdem wider besseres Wissen an seinen Idealen festhielt, wundert mich schon. Vermutlich war es auch Selbstschutz; nach allem, was er erlebt hat, vermochte er nicht, seine Ideale über Bord zu werfen. Er hat sich aber nie als Funktionär hervorgetan. Jedoch war er wissend das Aushängeschild der DDR-Musik.

kreuzer: In letzter Zeit haben Sie selbst viele Lieder komponiert, Sie haben sich hochromantische deutsche Dichter dafür ausgesucht. Eichendorff und Brentano. Warum?Schleiermacher: Irgendwann gab es bei der Kissinger Liederwerkstatt das Thema »Natur und Mensch«, das war der Anlass. Nur im ersten Moment aber klingt Eichendorff nach Naturidylle. Eichendorff ist sehr vielschichtig. »Nicht ein Dichter der Heimat, sondern der Sehnsucht«, hat Adorno mal gesagt, und das stimmt irgendwie.Dann habe ich angefangen, mich mit der deutschen Romantik zu befassen, zu der ich vorher keinen Zugang hatte. So bin ich deutscher Romantiker geworden, mein Urvorfahr Friedrich Schleiermacher gehörte ja auch zu diesem Kreis. Das waren schon schrille Typen …


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