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Kultur

»Sehnsucht nach Literatur zum Anfassen«

Das Leipziger Literaturfestival Literarischer Herbst findet statt

  »Sehnsucht nach Literatur zum Anfassen« | Das Leipziger Literaturfestival Literarischer Herbst findet statt

Die Buchmesse in Leipzig wurde abgesagt, und Frankfurt veranstaltet vorrangig Online. Doch das Leipziger Literaturfestival Literarischer Herbst soll stattfinden. Der kreuzer sprach mit Nils Kahlefendt über Lesenächte, Hygienekonzepte und den Unterschied zwischen L*abore und Rock am Ring.

kreuzer: Wie fühlt es sich in dieser Literaturveranstaltungsdürre an, den Literarischen Herbst ausrichten zu dürfen?

NILS KAHLEFENDT: Was Live-Literatur, von der Wohnzimmerlesung bis zum Festival, ausmacht, haben wir nie so deutlich gespürt wie in den Wochen des verordneten Social Distancing: Die Spannung zwischen Publikum und Autoren, das Feedback, Nähe und Spontanität, die kostbaren Momente der Gemeinschaft. Nachdem das Virus dem Literaturbetrieb, wie wir ihn kennen, den Stecker gezogen hatte, wurde gestreamt, bis die Router in die Knie gingen. Ich glaube jedoch, dass mit dem ins Endlose wachsenden digitalen Angebot auf allen Kanälen die Sehnsucht nach Literatur zum Anfassen nur noch größer geworden ist. Wer in den Wochen der vorsichtigen Lockerungen erste Konzerte, Theaterabende oder Lesungen erleben durfte, weiß, wovon ich rede. Insofern halten sich Spannung und Vorfreude bei uns in etwa die Waage.

kreuzer: War es schwer, unter den neuen Umständen Autoren und Autorinnen zu finden, oder sind alle dankbar, weil es endlich wieder Veranstaltungen gibt?

KAHLEFENDT: Ich glaube, den deutschsprachigen Autorinnen und Autoren geht es da genau wie uns: Sie brennen darauf, dass es wieder echte Begegnungen mit ihrem Publikum gibt. Nicht zuletzt sind die Erlöse aus Lesungen ja eine immer wichtiger werdende Säule ihres Einkommens. Schwieriger ist es mit großen internationalen Namen – aufgrund der Einreisebeschränkungen und des Gesundheitsrisikos sind die meisten Lesereisen gestrichen. Natürlich hätten wir, zusammen mit dem Börsenverein, gern den Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels nach Leipzig geholt – doch Amartya Sen wird selbst zur Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche nur live aus den USA zugeschaltet. Momentan drücken wir fest die Daumen, dass die portugiesischen Autorinnen und Autoren, die bei uns einen Vorgeschmack auf das Gastland der kommenden Leipziger Buchmesse geben sollen, wie geplant reisen können.

[caption id="attachment_117189" align="alignright" width="320"] Nils Kahlefendt
© Gert Mothes[/caption]

kreuzer: Einige Formate wie den Kriminaldauerdienst, den Debüt-Abend oder das Lyrikhotel gab es schon im Vorjahr. Worauf dürfen wir uns noch freuen?

KAHLEFENDT: Na ja, einen Büchnerpreisträger im Wohnzimmer gibt’s nicht alle Tage. Da sollte man mit der Kartenreservierung schnell sein. Die Finalisten und Finalistinnen der wichtigsten Literaturpreise im Herbst kommen diesmal fast in Mannschaftsstärke nach Leipzig: So sind Deniz Ohde (»Streulicht«) und Dorothee Elmiger (»Aus der Zuckerfabrik«), die auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stehen, bei uns genauso zu erleben wie Cihan Acar (»Hawaii«), Verena Keßler (»Die Gespenster von Demmin«) oder Ronya Othmann (»Die Sommer«), die es ins Finale des 41. aspekte-Literaturpreises geschafft haben. Ich persönlich freue mich auf eine Geschichtsstunde der etwas anderen Art am 21. Oktober im UT Connewitz: Mit Gunnar Decker (»Zwischen den Zeiten«) und Marko Martin (»Die verdrängte Zeit«) treffen da zwei Autoren aufeinander, die die Bücher, Songs und Filme der letzten DDR-Jahre in den Blick nehmen. Eine verrückte Zeit, die mit dem Begriff »Agonie« nur unzureichend beschrieben wäre. Spannend dürfte auch die Lesenacht zum 25. Geburtstag des Deutschen Literaturinstituts am Festival-Freitag im Ost-Passage Theater werden: Neun ehemalige Studierende werden mit ihren aktuellen Arbeiten von jüngeren Kolleginnen vorgestellt, die zurzeit in der Wächterstraße 34 studieren.kreuzer: Welche Einschränkungen müssen Sie als Veranstalter und die Gäste in Kauf nehmen?

KAHLEFENDT: Die Sicherheit aller steht, logisch, bei allen Planungen an erster Stelle. Die Veranstaltungsorte halten sich an ein eigens erstelltes Hygienekonzept, das den gesetzlichen Auflagen Rechnung trägt. Auf den Wegen muss ein Mund-Nasen-Schutz getragen werden, wir glauben, das sollte die Freude an einem schönen Abend nicht mindern. Und natürlich müssen wir auf ausreichend Abstand zwischen den Plätzen achten. In der Konsequenz bedeutet das, dass es leider überall weniger Plätze gibt. Eine möglichst frühe Anmeldung beziehungsweise Reservierung ist also unbedingt zu empfehlen.

kreuzer: Sind intimere, kleinere Literaturfestivals die Lösung für die kommenden Monate oder gar Jahre?

KAHLEFENDT: Wenn, was wir alle hoffen, allmählich eine Rückkehr zu einer wie auch immer gearteten Normalität möglich ist, werden wir auch wieder Großveranstaltungen wie die beiden Buchmessen oder die LitCologne erleben. Die sind unverzichtbar, weil sie Sichtbarkeit herstellen für Themen, Autoren und Bücher bis weit in die Gesamtgesellschaft hinein. Ich selber neige inzwischen eher zu kleineren Formaten mit sehr individueller Handschrift; es ist aufregender, einmalige Konstellationen zu schaffen, statt 23. Tournee-Station zu sein. Mit einem Bild aus der Musiklandschaft: eher L*abore als Rock am Ring. Wobei die Grenzen zwischen beidem wohl fließend sind.


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