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Politik

Und dann müssen sie alles wieder verlernen

Strukturelle Diskriminierung in Schulbüchern

  Und dann müssen sie alles wieder verlernen | Strukturelle Diskriminierung in Schulbüchern

In Schulbüchern wimmelt es von struktureller Diskriminierung. Die studentische Initiative der Kritischen Lehrerinnen Leipzig will dafür sensibilisieren

»Unser Auftrag ist es nicht, Schule zu einem unpolitischen Ort zu machen. Das ist sie auch nicht und wird sie niemals sein.«, sagt Alma Jacobs von den Kritischen Lehrerinnen Leipzig, einer studentische Initiative. Analoge Veranstaltungen sind schon fast zu einer liebevollen Erinnerung an die Vergangenheit geworden, da findet im Seminarraum 112 der Universität Leipzig ein Workshops statt. 1,5 Meter Abstand, man kennts. Kurz vor Universitätsstart locken die Kritischen Einführungswochen einige Studienanfängerinnen auf den Hauptcampus. Das heutige Thema: Schulbücher.

Seit 2017 gibt es — mit Ausnahme von Religions- und Ethikbüchern — kein staatliches Zulassungsverfahren für Schulbücher. Was das bedeutet, zeigte sich 2019 in einer 10. Klasse in Dresden. Die Schülerinnen fanden in ihrem Biologiebuch Erläuterungen, bei denen Menschen mit verschiedenen Augen- oder Gesichtsformen »Rassenkreisen« zugeordnet wurden. Die Rassenlehre hatte es ins Jahr 2019 geschafft. Das Kultusministerium wies daraufhin alle sächsischen Schulen an, ihre Schulbuchbestände zu überprüfen. Ist das geschehen? Auf Nachfrage des kreuzers erklärt das Kultusministerium, es handelt sich bei dem Schulbuch aus Dresden um einen Einzelfall, es sei weder von Schulen, noch von Eltern oder Schülerinnen eine Meldung gekommen, dass weitere Schulbücher betroffen seien. Ob und wie viele Bücher aus dem Verkehr gezogen wurden, sei nicht erfasst worden.

Schule ist Teil unserer gesellschaftlichen (Un)ordnungIm Workshop der Lehramtsstudentin Jacobs sind die Schulbücher Thema, die an der Freien Schule Leipzig, an der Jacobs nebenbei arbeitet, aktuell genutzt werden. An Jacobs Seite steht Anna Meyer, die ihr Lehramtsstudium abgebrochen hat und inzwischen soziale Arbeit studiert. Gründe für ihren Abbruch waren auch die mangelnde Gesellschaftskritik und Reflexion in der Lehrerinnenausbildung an der Uni Leipzig. »Diese ganzen Themen, die immer als Schlagwörter hereingegeben werden wie Inklusion, Heterogenität — was heißt das denn? Was mir sehr stark gefehlt hat, ist, die Schule kritisch in die Gesellschaft einzubetten.«

Die Teilnehmerinnen des Schulbuchs-Workshops beginnen diese Woche ihr Studium. Julia Zintner, 1. Semester Grundschullehramt, findet: »Gerade wenn man Lehramt studiert, muss man sich damit auseinandersetzen.« Nachdem die Gruppe, die Bücher reihum gereicht hat und begutachtet, fällt ihr Fazit nüchtern aus: Viele Menschen aus der Gesellschaft kommen nicht vor. Frauen werden normschön und in klischeehaften Berufen dargestellt — in einem Schulbuch steht kein einziger Frauenname. Weder bei den Verfassern, noch bei den zitierten Quellen oder Fotografen, noch in irgendeinem Text. Keine Julia, keine Fatima, nichts.

Die Adressatinnen der Bücher sind meist weiße, christliche Kids, denen beigebracht werden soll, wie mit dem »Fremden« umzugehen ist. Eine Teilnehmerin sagt: »Das Buch ist von 1999 und fragt, wie türkische und jüdische Menschen integriert werden können. Das finde ich krass, war aber auch zu erwarten.« Die Workshopleiterin Alma Jacobs ergänzt, dass seit den 90er Jahren die Kolonialgeschichte systematisch aus den Schulbüchern gekürzt wurde. An ihrer Schule haben sie das Problem auf dem Schirm. »Wir wollen die Bücher durchgehen. Aber dazu brauchst du Zeit und Mittel. Wann soll man das noch machen, neben dem vollen Alltag, den man sowieso schon hat?« sagt Jacobs.

Anna Meyer wünscht sich eine diversere Autorinnenschaft bei den Schulbüchern, um mehr Perspektiven aufzugreifen. Jacobs fordert, dass wir Schule anders betrachten müssen. »In meinem ersten bildungswissenschaftlichen Seminar habe ich gelernt, dass vieles sehr kritisch hinterfragt werden muss. Und das ist ziemlich widersprüchlich zu meinem Reststudium.« Schule würde dort nur selten kritisch betrachtet. »Ich wünsche mir mehr Flexibilität und Bereitschaft, sich auf den Wandel der Gesellschaft einzulassen.«


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