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Kultur

Sach- und Fachgeschichten

Sachbücher für die Lockdownzeit

  Sach- und Fachgeschichten | Sachbücher für die Lockdownzeit

Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl – diese Woche allerdings stellt Redakteur Tobias Prüwer historische Sachbücher für die Beschäftigung zuhause während des Lockdowns vor. Drei Empfehlungen und ein Verriss.

Demokratie: Eine deutsche Affäre

»Eine demokratische Affäre«: Unter diesem charmanten Titel verfolgt Hedwig Richter einen ungewöhnlichen Ansatz. Sie verbindet die Genese der liberalen Demokratie und ihrer Institutionen mit einer Körpergeschichte. Insbesondere den weiblichen Körper, die gesamtgesellschaftlichen Reaktionen auf ihn und die feministische Emanzipation hat die Historikerin dabei enger im Blick. Aus ihrer Begeisterung für die Demokratie der Gegenwart macht sie keinen Hehl.

Ihre Kernthese lautet: Reformen von oben, weniger Revolutionen von unten haben die Demokratie hervorgebracht und immer wieder zu Besserungen innerhalb dieser geführt. Das ist sicherlich zu pauschal formuliert, waren die Reformen ja immer wieder Reaktionen, auf den Druck von unten zu reagieren und ihm Kraft zu nehmen. Und wie es etwa in Frankreich 1789 nur mit Reformen hätte weitergehen sollen, bliebt offen. Das fast flammende Plädoyer liest sich ob der fröhlich-gelassenen Grundstimmung gut, die üblichen, als Wissenschaft verbrämten Stilblüten des akademischen Historikerdeutsches lässt Richter außen vor. Sie ist nicht blind gegenüber Versagen oder Leerstellen des Systems, aber lässt sich dadurch ihren Optimismus nicht nehmen. Das überzeugt stellenweise nicht. Zumal Demokratie nicht als offener, unabgeschlossener Prozess gedacht wird, sondern abgeschlossen scheint.

Richters origineller Ansatz erzeugt ein Hybrid aus Michel Foucault und Heinrich August Winkler, um es einmal bildlich zu machen. Und das muss man erst einmal hinbekommen. Eine anregende, nachdenklich stimmende Lektüre.

Heimaturlaub: Soldaten zwischen Front, Familie und NS-Regime

Schnaps und Schmuck, Stoff und Spezialitäten: Mitbringsel für die Heimatfront machten Diebstähle an der Front zum Normalfall. Auf »Heimaturlaub« wollten die Wehrmachtssoldaten reiche Geschenke von den Fronten des Zweiten Weltkriegs mitbringen – und das wurde Zuhause von ihnen auch erwartet. Immerhin waren sie ja irgendwie auf Demontage. Von ihren Erfahrungen dort wollte man daheim nicht so viel wissen. Das ist eine Erkenntnis, die Christian Packeiser in seiner Studie über »Soldaten zwischen Front, Familie und NS-Regime« herausstellt. Dazu hat er unzählige Briefe ausgewertet, die die komplizierten Verhältnisse zwischen Front und Heimat dokumentieren. Wahre Bestelllisten wurde vor allem in der ersten Zeit des Zweiten Weltkriegs an die Front geschickt. Ganz im Sinne der NS-Elite sollte der Feind wirtschaftlich geschwächt werden, wollte jeder etwas vom Kuchen abbekommen. Packeiser zeigt darüber hinaus, wie sehr das Regime versuchte, die Soldaten zu kontrollieren, damit die Stimmung an der Heimatfront nicht abebbte – darin machten das Regime nämlich den Grund für die Niederlage 1918 aus. Also wurden die Soldaten einerseits als Helden inszeniert, denen es auf »Urlaub« an nichts fehlen durfte, aber ihre wirklichen Erfahrungen, vielleicht sogar Zweifel am kommenden Sieg, sollten sie nicht mitteilen.

Packeisers akribische Studie gewährt Einblicke in bisher verstelltes Gebiet. Auch die Verhältnisse unter den Kameraden, ihre Hoffnungen und Erwartungen, ihr Wissen und Unwissen werden beleuchtet. Allein die logistischen Bemühungen der Militärführung, bei laufendem Krieg Heimaturlaube zu ermöglichen – letztlich eine Doppelbelastung der Infrastruktur – lassen staunen, welch hohen Stellenwert das Regime diesen beimaß.

Das Faschistische Jahrhundert: Neurechte Diskurse zu Abendland, Identität, Europa und Neoliberalismus.

Stippvisiten zu neurechten Debattensträngen der Gegenwart unternimmt der Sammelband »Das faschistische Jahrhundert«. Das Wort spukt seit dem Erfolg der AfD und dem aufkeimenden Medien-Interesse für Götz Kubitschek und seine Ziegenzucht mit angeschlossenem Buchverlag in Schnellroda durch die Debatten. Dass weder das Wort neu, noch dass dieses rechte Denken originär ist, beweisen die Texte im Buch. Da wird nachgezeichnet, welche lange Tradition das Beschwören des Abendlands hat und wie oft es mit der Idee eines – natürlich deutsch angeführten – Europa-Reichs gleichgesetzt wurde. Wie sich die Nouvelle Droite, Neue Rechte und andere nicht von faschistischen Vorläufern und Vorbildern unterscheiden, ist zu lesen, ebenso ein kurzer Abriss der noch kürzeren Geschichte der Identitären Bewegung. Besonders interessant ist der konservative Ursprung des neoliberalen Denkens. Das alles ist sauber herausgearbeitet, leider war das Lektorat etwas schludrig, fehlt manche im Text eingepflegte Quellenangabe in der Literaturliste. Das ist ärgerlich, aber schmälert den Informationswert nicht.

Grenzen – Geschichte und Gegenwart

Die Grenze als Wille und Vorstellung sowie reale Linienziehung will Alexander Demandt erkunden – von damals bis heute. Wobei der Gegenwart äußerst wenige Seiten des Buchs im Backsteinformat gewidmet sind. Trotzdem kann auch kundige Historie interessieren. Leider versagt Demandt auch in dieser Hinsicht und zeigt sich am Limit von Forschung und Projektion.

Das Thema Grenzen und Entgrenzungen ist derzeit brisant wie hochaktuell. Gerade hier könnte historische Bildung etwas Aufklärung schaffen und helfen, den Puls zu senken. Etwa wenn man schildert, dass Mobilität der historische Normalfall ist, hermetisch abgeriegelte Nationalgrenzen durch Mauern und Zäune eine moderne Erfindung sind. Und dass Grenzen immer wieder überwunden worden sind.

Davon ist bei Demandt nichts zu lesen. Schon die Stadtmauern der frühen so genannten Hochkulturen sind harte Grenzen für ihn. Auch den römischen Limes deutet er als solche, um Germanen abzuwehren. Hier wird offenkundig, was passiert, wenn man nicht die aktuelle Forschungsliteratur heranzieht. Man schreibt Veraltetes und damit Falsches auf.

Und das passiert Demandt nicht nur bei Roms Anlage, die vielmehr eine Zollmauer als militärischer Schutzwall war. Demandt kennt die aktuelle wissenschaftliche Diskussion nicht. So erklärt er auch das vielförmige Bollwerk, das erst ein europäischer Geistlicher zu der »Chinesischen Mauer« machte und Mao dann zum Symbol der Macht stilisierte, zu einem einzigen Projekt.

Projektionen treiben den Autor auf den wenigen der Gegenwart gewidmeten Seiten an. Natürlich hat der Althistoriker auch etwas zum Thema Integration zu sagen. Merkel habe illegal gehandelt, als 2015 die »Fremden« kamen, schreibt Demandt in einem Satz, der seine unheimliche Grenzziehung zwischen »uns« und »die« offenlegt.


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