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Kultur

Eine mächtige Stimme gegen das Patriarchat

Zum 90. Geburtstag der irischen Schriftstellerin Edna O’Brien

  Eine mächtige Stimme gegen das Patriarchat | Zum 90. Geburtstag der irischen Schriftstellerin Edna O’Brien

Edna O’Brien wurde am 15. Dezember 1930 im Westen Irlands geboren. Ihre Familie gehörte zur wohlhabenden irischen Grundbesitzerklasse, rutschte aber wegen des Alkoholismus ihres Vaters langsam in die Armut. Edna hatte eine sehr enge Beziehung zu ihrer Mutter, beide waren vereint im stummen Widerstand gegen den Vater und Ehemann. Hier veröffentlichen wir einen Text aus dem Herbst:-logbuch des kreuzer.

Nach der Grundschule ging sie auf eine Klosterschule im Convent of Mary, machte eine Ausbildung als Apothekerin und arbeitete einige Zeit in ihrem gelernten Beruf. Ihre erste Rebellion gegen die Bevormundung durch Kirche und Eltern erfolgte mit ihrer von den Eltern abgelehnten Ehe mit dem 15 Jahre älteren, geschiedenen irisch-tschechischen Schriftsteller Ernest Gébler. Sie floh mit ihm vor der Enge katholischer Moralvorstellungen nach London, wo ihre zwei Söhne, Carlos und Sascha, geboren wurden. Hier hatte sie erste Erfolge mit ihrem Roman »The Country Girls« (1960). Nach 10-jähriger Ehe trennte sie sich von ihrem dominanten Ehemann, der mit ihrem Erfolg und seinem Misserfolg nicht zurechtkam, und brachte sich und ihre Söhne allein durch. Ihr Haus in London war ein Zentrum der literarischen und künstlerischen Gemeinde der Stadt.

»It was foolish to expect that my father might come home sober. He had gone, three days before, with sixty pounds to pay the rates.« – »The Country Girls«

O’Briens persönliche Geschichte ist der Hintergrund, vor dem ihr äußerst umfangreiches Werk – Romane, Erzählungen, Essays, Theaterstücke, Lyrik, Drehbücher – gesehen werden muss. Das zentrale Thema praktisch all ihrer Veröffentlichungen sind problematische Verhältnisse zwischen Geschlechtern und Generationen in einem erzkonservativen Umfeld. Aus weiblicher Perspektive schildert sie die Zwänge einer hierarchischen, misogynen, von Männern dominierten Welt, in der Frauen ihre Freiheit erkämpfen oder sich unterordnen müssen. Die Mütter sind zumeist hart arbeitende, unter häuslicher Gewalt und der Trunksucht ihrer Männer leidende Frauen. Die Kontrolle durch die Kirche macht alles noch schlimmer. Gewalt in der Familie darf es in der Öffentlichkeit nicht geben. Eine Folge ist häufig die Flucht in die innere oder auch in die echte Emigration, also vor allem nach England und in die USA.

In »The Country Girls« schildert O’Brien die Jugend der beiden Mädchen Caithleen und Baba im Westen Irlands, ihre Rebellion gegen die Erwartungen und Zwänge von Familie, Kirche und Gesellschaft, ihre Flucht nach Dublin, erste sexuelle Erfahrungen und Enttäuschungen und ihre Emigration nach England. Der Roman bildet eine Trilogie mit »The Lonely Girl« (1962), später unter dem Titel »Girl with Green Eyes« (1964), und »Girls in Their Married Bliss« (1964), worin die Erfahrungen der Mädchen fortgeführt werden. Die Trilogie thematisiert Armut und Gewalt in Familien, die Ignoranz der jungen Frauen und das konspirative Schweigen, das häufig in die Verzweiflung führt. O’Brien schreibt trotz scharfer Sozialkritik mit feiner Ironie und subtilem Humor.

Die Schilderungen sexueller Erfahrungen waren zur Zeit der Publikation revolutionär. Die irische Zensurbehörde setzte den Roman auf den Index und der Priester von O’Briens ehemaliger Gemeinde soll den Roman erst von der Kanzel herab verdammt und dann vor der Kirche verbrannt haben. Dass der Roman auf dem Index landete, zeigt auch die enge Verknüpfung von Kirche und Politik in der damaligen Zeit. O’Briens mit vielen Auszeichnungen bedachte Autobiografie trägt den vielsagenden Titel »Country Girl« (2012) und ist ein Echo auf ihren ersten Roman. Inzwischen war O’Brien zu einer mächtigen Stimme für Frauenrechte, vor allem in Irland, aber auch im Vereinigten Königreich und weltweit geworden. Sie spricht für Frauen, deren romantische Ideale in der Desillusionierung enden. Vom anfänglichen Realismus geht sie über zu monologischen Erinnerungen, womit Reminiszenzen an Joyce’ Bewusstseinsstrom evoziert werden, insbesondere in »Night« (1972). Mit ihrem bisher letzten Roman, »Girl« (2018), kehrt O’Brien noch einmal zu ihren Anfängen zurück: Wieder steht ein junges Mädchen im Mittelpunkt der Geschichte. O’Brien reist zur Recherche zweimal nach Afrika und schildert das Martyrium eines Schulmädchens, das von Boko-Haram-Kämpfern entführt, vergewaltigt und erniedrigt wird. Nach Jahren gelingt ihr die Flucht und ein Neuanfang wird angedeutet (vgl. :logbuch zur Leipziger Buchmesse 2020).

O’Briens literarisches Werk ist stark autobiografisch gefärbt und ein Appell gegen Heuchelei und Unterdrückung der Wahrheit. Sie schildert das Gefühlsleben von Frauen in einem feindlichen Umfeld. Bis heute ist sie Repräsentantin einer Generation unangepasster irischer, und nicht nur irischer, Autoren. In einer für die fünfziger und frühen sechziger Jahre inakzeptablen Weise schildert sie zwischenmenschliche Konflikte in einer von Männern beherrschten Welt. Sexualität gab es damals in Irland offiziell nicht, oder zumindest wurde in der Familie und der Öffentlichkeit nicht darüber gesprochen. Letzten Endes hatten immer die Männer das letzte Wort. Ihr Werk zeigt Einflüsse unter anderem von Samuel Beckett und James Joyce, die ebenfalls im Ausland lebten und Irland aus der Distanz beobachteten. O’Brien gelingt es, die Gefühlswelt von Frauen zu offenbaren und auf eindrucksvolle und doch auch unterhaltsame Art darzustellen.


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