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Kultur

Nebulöse Wut

Enrico Lübbe inszeniert das Schicksal einer Dorfgemeinschaft als artifizielle Familienaufstellung

  Nebulöse Wut | Enrico Lübbe inszeniert das Schicksal einer Dorfgemeinschaft als artifizielle Familienaufstellung

Stadt und Land stehen in einem Spannungsverhältnis. Bei der Verteilung von Infrastruktur und den Mitteln dafür ist der ländlichere Raum abgehängter. Was das mit Menschen macht, interessierte den Autor Lukas Rietzschel schon immer. Nun hat er Stadt und Land in einem Auftragswerk fürs Leipziger Schauspiel verarbeitet. »Widerstand« heißt das Stück, dessen Premiere als Stream lief.

Irgendwas stimmt nicht mit ihrem Vater. Aus Leipzig kommt Isabell zu Besuch in ihr Heimatdorf, um nach den Eltern zu schauen. Die Mutter ist schwer krank, der Vater emotional zurückgezogen. Er öffnet sich nur etwas mehr bei seiner heimlichen Geliebten, einer Physiotherapeutin. Seinen alten Job hat er verloren, das Verkaufen von Versicherungen befriedigt ihn nicht. Irgendwie brodelt es in ihm, auch in anderen Männern im Dorf. Irgendwas scheinen sie zu planen, besorgen sich Waffen. Was sie genau vorhaben, bleibt im Stück offen – die Pläne werden schlussendlich von der Polizei vereitelt.

»Wenn ich jemanden erschieße, dann den Staat«, erklärt der Vater. Entsteht hier ein Terrornetzwerk? Genaueres bleibt im Nebel. Statt konkrete Details auszumalen, zielt Rietzschel, dem mit seinem Romandebüt »Mit der Faust in die Welt schlagen« 2018 ein Bestseller gelang, aufs Gefühl. Und mit einem ebensolchen nebulösen Touch hat Intendant Enrico Lübbe die Uraufführung inszeniert. Optisch erinnert der Abend an den Film »Pleasantville«: Wie die anscheinend perfekten Fassaden dort stechen auch hier im namenlosen Dorf quietsch-bunte Farben hervor. Grell geschminkt sind die Frauen mit ihren Wimper-klimper-Augen, üppig die Männerbäuche, alles sieht stark überzeichnet aus.

Holzschnittartige Zeichnungen

Lübbe nutzt die Möglichkeiten des Films, setzt Schnitte und wechselt die Bildformate, statt einfach die Bühne abzufilmen. Kamerafahrten auf der Drehbühne schaffen interessante Blickwinkel. Nebel wabert oft durchs Bild, ein paar Außenaufnahmen eines öden Gewerbeparks erhöhen die Tristesse. So entfaltet sich langsam das Geheimnis um Isabells Vater, kreiselt der Abend in 60 Minuten der unvollständigen Lösung entgegen. Lübbes Verweigerung jeder Spur von Realismus hat den Effekt des Doppelbödigen und Gespenstischen. Das passt hervorragend zum hier ausgehandelten Thema der Lethargie. An- und Abwesenheit, Verlust und Frust, Beziehungsunfähigkeit und nicht gelingende Kommunikation liegen in und zwischen den Figuren. Sie bestimmen auf wenig fassbare Weise das Dorfleben.

Kleine Regieideen wie eine erotische Massage durchs Kneten von Hackfleisch darzustellen, schaffen etwas belustigende Auflockerung. Allerdings kann man den Figuren aufgrund ihrer holzschnittartigen Zeichnung tiefere Gefühlsregungen nicht abnehmen. Sie bleiben oberflächlich. Die in Rietzschels Stoff vermutlich angelegte Tiefenbohrung in unterliegende Schichten der Gesellschaft misslingt. Das ist schade, denn über weite Strecken verzichtet Rietzschel auf alle Eindeutigkeit. Sein Blick ist interessiert, will aber ohne Erklärung auskommen.

Nichts wird entschuldigt, nichts erklärt

Am ehesten gelingt das Vordringen in die Spannung zwischen Stadt und Land in den Dialogen von Isabell und ihrem Schulfreund Sebastian. Er ist im Dorf geblieben, hat die Hoffnung im Gegensatz zu den Älteren noch nicht begraben: »Vielleicht sind wir einmal Speckgürtel«. Er will aus alten Bahnbohlen Möbel bauen, »mit Leinölfirnis, da steht ihr doch drauf in Leipzig.« Das ist Klischee, stimmt aber auch.

Diese leiseren Begegnungen gehen im Gewaltkarussell unter. Rietzschel vergibt sich schlussendlich die Chance, nichts zu entschuldigen oder zu erklären. »Ich habe geredet, zugehört, Mitgefühl gehabt«, erklärt Isabell wie in einer Erzähler-Position. »Ich habe alle Augen zugedrückt, als das losging mit diesen Hasstiraden, sogar, als die ersten Heime brannten. So was passiert nicht, weil der Bus nicht kommt.«


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